Vor Sonnenaufgang: Soziales Drama - 3

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Bauer Krause (ist gegen den Gartenzaun getaumelt, klammert sich mit den
Händen daran fest und brüllt mit einer etwas näselnden, betrunkenen
Stimme nach dem Wirthshaus zurück). 's Gaartla iis _mei_--ne! ... d'r
Kratsch'm iis _mei_--ne ... du Gostwerthlops! Dohie hä! (Er macht sich,
nachdem er noch einiges Unverständliche gemurmelt und geknurrt hat, vom
Zaune los und stürzt in den Hof, wo er glücklich den Sterzen eines
Pfluges zu fassen bekommt.) 's 'Gittla iis _mei_--ne. (Er quasselt halb
singend.) Trink ... ei ... Briderla, trink ... ei ... 'iderla,
Branntw... wwein ... 'acht Kurasche. Dohie hä -- (laut brüllend) -- bien
iich nee a hibscher Moan? .... Hoa iich nee a hibsch Weibla dohie hä?
... Hoa iich nee a poar hibsche Madel?
Helene (kommt hastig aus dem Hause. Man sieht, sie hat an Kleidern nur
umgenommen, soviel in aller Eile ihr möglich gewesen war.) Papa! ...
lieber Papa!! so komm doch schon. (Sie faßt ihn unterm Arm, versucht ihn
zu stützen und ins Haus zu ziehen.) K--omm doch ... nur ... schn--ell
in's Haus, komm doch n--ur schn--ell! Ach!
Bauer Krause (hat sich aufgerichtet, versucht gerade zu stehen, bringt
mit einiger Mühe und unter Zuhilfenahme beider Hände einen ledernen,
strotzenden Geldbeutel aus der Tasche seiner Hose. In dem ein wenig
helleren Morgenlichte erkennt man die sehr schäbige Bekleidung des etwa
50jährigen Mannes, die um nichts besser ist, als die des allergeringsten
Landarbeiters. Er ist im bloßen Kopf, sein graues, spärliches Haar
ungekämmt und struppig. Das schmutzige Hemd steht bis auf den Nabel
herab weit offen; an einem einzigen gestickten Hosenträger hängt die
ehemals gelbe, jetzt schmutzig glänzende, an den Knöcheln zugebundene
Lederhose; die nackten Füße stecken in einem Paar gestickter
Schlafschuhe, deren Stickerei noch sehr neu zu sein scheint. Jacke und
Weste trägt der Bauer nicht, die Hemdärmel sind nicht zugeknöpft.
Nachdem er den Geldbeutel glücklich herausgebracht hat, setzt er ihn mit
der rechten mehrmals auf die Handfläche der linken Hand, so daß das Geld
darin laut klimpert und klingt, dabei fixirt er seine Tochter mit
lascivem Blicke.) Dohie hä! 's Gald iis _mei_--neee! hä? Mech'st a poar
Thoalerla?
Helene. Ach, gr--oßer Gott! (Sie versucht mehrmals vergebens, ihn
mitzuziehen. Bei einem dieser Versuche umarmt er sie mit der Plumpheit
eines Gorillas und macht einige unzüchtige Griffe. Helene stößt
unterdrückte Hilfeschreie aus.) Gl--eich läßt Du l--os! Laß l--os!
bitte, Papa, ach! (Sie weint, schreit dann, plötzlich in äußerster
Angst, Abscheu und Wuth:) Thier, Schwein!
Sie stößt ihn von sich. Der Bauer fällt langhin auf die Erde.
Beibst kommt von seinem Platz unter dem Thorweg herbeigehinkt.
Helene und Beibst machen sich daran, den Bauer aufzuheben.
Bauer Krause (lallt). Tr--ink mei Bri'erla, tr-- ...
Der Bauer wird aufgehoben und stürzt, Beibst und Helene mit sich
reißend, in das Haus. Einen Augenblick bleibt die Bühne leer. Im
Hause hört man Lärm, Thürenschlagen. In einem Fenster wird Licht,
hierauf kommt Beibst wieder aus dem Hause. Er reißt an seiner
Lederhose ein Schwefelholz an, um die kurze Pfeife, welche ihm
fast nie aus dem Munde kommt, damit in Brand zu stecken. Als er
damit noch beschäftigt ist, schleicht _Kahl_ aus der Hausthüre.
Er ist in Strümpfen, hat sein Jaquet über dem linken Arm hängen
und trägt mit der linken Hand seine Schlafschuhe. Mit der rechten
hält er seinen Hut, mit dem Munde seinen Hemdkragen. Etwa bis in
die Mitte des Hofes gelangt, wendet er sich und sieht das Gesicht
des Beibst auf sich gerichtet. Einen Augenblick scheint er
unschlüssig, dann bringt er Hut und Hemdkragen in der Linken
unter, greift in die Hosentasche und geht auf Beibst zu, dem er
etwas in die Hand drückt.
Kahl. Do hot 'r an Thoaler .... oaber halt't Eure Gusche! (Er geht
eiligst über den Hof und steigt über den Staketenzaun rechts. Ab.)
_Beibst_ hat mittels eines neuen Streichholzes seine Pfeife
angezündet, hinkt bis unter den Thorweg, läßt sich nieder und
nimmt seine Dengelarbeit von Neuem auf. Wieder eine Zeit lang
nichts als das eintönige Aufschlagen des Dengelhammers und das
Aechzen des alten Mannes, von kurzen Flüchen unterbrochen, wenn
ihm etwas bei seiner Arbeit nicht nach Wunsch geht. Es ist um ein
Beträchtliches heller geworden.
Loth (tritt aus der Hausthür, steht still, dehnt sich, thut mehrere
tiefe Athemzüge). H! .. h! .. Morgenluft! (Er geht langsam nach dem
Hintergrunde zu bis unter den Thorweg. Zu Beibst.) Guten Morgen! Schon
so früh wach?
Beibst (mißtrauisch aufschielend, unfreundlich). 'Murja! (Kleine Pause,
hierauf Beibst, ohne Loth's Anwesenheit weiter zu beachten, gleichsam im
Zwiegespräch mit seiner Sense, die er mehrmals aufgebracht hin und
herreißt.) Krummes Oos! na, werd's glei?! Ekch! Himmeldunnerschlag ja!
(Er dengelt weiter.)
Loth (hat sich zwischen die Sterzen eines Exstirpators niedergelassen).
Es giebt wohl Heuernte heut?
Beibst (grob). De Äsel gihn ei's Hä itzunder.
Loth. Nun, Ihr dengelt doch aber die Sense ...?
Beibst (zur Sense). Ekch! tumme Dare.
Kleine Pause, hierauf.
Loth. Wollt Ihr mir nicht sagen, wozu Ihr die Sense scharf macht, wenn
doch nicht Heuernte ist?
Beibst. Na, -- braucht ma ernt keene Sahnse zum Futter macha?
Loth. Ach so! Futter soll also geschnitten werden.
Beibst. Woas d'n suste?
Loth. Wird das alle Morgen geschnitten?
Beibst. Na! -- sool's Viech derhingern?
Loth. Ihr müßt schon 'n bischen Nachsicht mit mir haben! Ich bin eben
ein Städter; da kann man nicht alles so genau wissen von der
Landwirthschaft.
Beibst. Die Staadter glee -- ekch! -- de Staadter, die wissa doo glee
oals besser wie de Mensche vum Lande, hä?
Loth. Das trifft bei mir nicht zu. -- Könnt Ihr mir vielleicht nicht
erklären, was das für ein Instrument ist? Ich hab's wohl schon mal wo
gesehen, aber der Name ...
Beibst. Doasjenigte, uf dan Se sitza?! Woas ma su soat Extrabater nennt
ma doas.
Loth. Richtig, ein Exstirpator; wird der hier auch gebraucht?
Beibst. Leeder Goott's, nee. -- A läßt a verludern ... a ganza Acker,
reen verludern läßt a'n, d'r Pauer. A Oarmes mecht a Flecka hoa'nn -- ei
insa Bärta wächst kee Getreide -- oaber nee, lieberscht läßt a'n
verludern! -- Nischt thit wachsa, ok blußig Seide und Quecka.
Loth. Ja, die kriegt man schon damit heraus. Ich weiß, bei den Ikariern
hatte man auch solche Exstirpatoren, um das urbar gemachte Land vollends
zu reinigen.
Beibst. Wu sein denn die I..., wie Se glei soa'n, I...
Loth. Die Ikarier? In Amerika.
Beibst. Doo gibbts an schunn a sune Dinger?
Loth. Ja freilich.
Beibst. Woas iis denn doas fer a Vulk: die I... I...
Loth. Die Ikarier? -- Es ist gar kein besonderes Volk; es sind Leute aus
allen Nationen, die sich zusammen gethan haben; sie besitzen in Amerika
ein hübsches Stück Land, das sie gemeinsam bewirthschaften; alle Arbeit
und allen Verdienst theilen sie gleichmäßig. Keiner ist arm, es giebt
keine Armen unter ihnen.
Beibst, (dessen Gesichtsausdruck ein wenig freundlicher geworden war,
nimmt bei den letzten Worten Loth's wieder das alte mißtrauisch
feindselige Gepräge an; ohne Loth weiter zu beachten, hat er sich
neuerdings wieder ganz seiner Arbeit zugewendet und zwar mit den
Eingangsworten): Oost vu enner Sahnse!
Loth, (immer noch sitzend, betrachtet den Alten zuerst mit einem ruhigen
Lächeln und blickt dann hinaus in den erwachenden Morgen. Durch den
Thorweg erblickt man weitgedehnte Kleefelder und Wiesenflächen;
zwischendurch schlängelt sich ein Bach, dessen Lauf durch Erlen und
Weiden verrathen wird. Am Horizonte ein einzelner Bergkegel. Allerorten
haben die Lerchen eingesetzt, und ihr ununterbrochenes Getriller schallt
bald näher, bald ferner her bis in den Gutshof herein. Jetzt erhebt sich
Loth mit den Worten:) Man muß spazieren geh'n, der Morgen ist zu
prächtig. (Er geht durch den Thorweg hinaus. -- Man hört das Klappen von
Holzpantinen. Jemand kommt sehr schnell über die Bodentreppe des
Stallgebäudes herunter: es ist _Guste_.)
Guste, (eine ziemlich dicke Magd: bloßes Mieder, nackte Arme und Waden,
die bloßen Füße in Holzpantinen. Sie trägt eine brennende Laterne.) Guda
Murja, Voater Beibst.
Beibst (brummt).
Guste (blickt, die Augen mit der Hand beschattend, durch das Thor Loth
nach). Woas iis denn doas fer enner?
Beibst (verärgert). Dar koan Battelleute zum Noarr'n hoa'nn ... dar
leugt egelganz wie a Forr... vu dan luuß der de Hucke vuul liega.
(Beibst steht auf.) Macht enk de Roawer zerecht, Madel.
Guste, (welche dabei war, ihre Waden am Brunnen abzuwaschen, ist damit
fertig und sagt, bevor sie im Innern des Kuhstalls verschwindet): Glei,
glei! Voater Beibst.
Loth (kommt zurück, giebt Beibst Geld). Da ist 'ne Kleinigkeit. Geld
kann man immer brauchen.
Beibst (aufthauend, wie umgewandelt, mit aufrichtiger Gemüthlichkeit).
Ju, ju! do ha'n Se au recht ... na da dank ich au vielmools. -- Se sein
wull d'r Besuch zum Schwiegersuhne? (Auf einmal sehr gesprächig.) Wissa
Se: wenn Se, und Se wull'n da naus gihn auf a Barch zu, wissa Se, do
haal'n Se siich links, wissa Se, zängst 'nunder links, rechts gibt's
Risse. Mei Suhn meente, 's käm do dervoone, meent' a, weil se zu
schlecht verzimmern thäten, meent' a, de Barchmoanne, 's soatzt zu wing
Luhn, meent' a, und do giht's ok a su: woas hust'de, woas koanst'de, ei
a Gruba, verstiehn Se. -- Sahn Se! -- doo! -- immer links, rechts gibt's
Lecher. Vurigtes Johr erscht iis a Putterweib, wie se ging und stoand
iis se ei's Ardreich versunka, iich wiß nee amool, _wie_ viel Kloaftern
tief. Kee Mensch wußte wuhie -- wie gesoa't, links, immer links, doo
gihn Se sicher. (Ein Schuß fällt, Beibst, wie electrisirt, hinkt einige
Schritt in's Freie.)
Loth. Wer schießt denn da schon so frühe?
Beibst. Na, war denn suste? -- d'r Junge, dar meschante Junge.
Loth. Welcher Junge denn?
Beibst. Na, Kahl-Willem -- d'r Nupperschsuhn ... Na woart ok blußig due!
Ich hoa's gesahn, a schißt meiner Gitte de Lärcha.
Loth. Ihr hinkt ja.
Beibst. Doaß 's Goot erbarm', ja. (Droht mit der Faust nach dem Felde.)
Na woart' Du! woart' Du! ...
Loth. Was habt Ihr denn mit dem Bein gemacht?
Beibst. Iich?
Loth. Ja.
Beibst. 's iis a su 'nei kumma.
Loth. Habt Ihr Schmerzen?
Beibst (nach dem Bein greifend). 'S zerrt a su, 's zerrt infamt.
Loth. Habt Ihr keinen Arzt?
Beibst. Wissa Se, -- de Dukter, doas sein Oaffa, enner wie d'r andere!
-- Blußig inse Dukter, doas iis a ticht'er Moan.
Loth. Hat er Ihnen was genützt?
Beibst. Na -- verlecht a klee wing wull au oam Ende. A hoot mer'sch Been
geknet't: sahn Se, a su geknutscht und gehackt un ... oaber nee!!
derwegen nich! -- A iis ... na kurz un gutt, a hoot mit'n aarma Mensche
a Mitleed. -- A keeft'n de Med'zin und a verlangt nischt. A kimmt zu
jeder Zeet ...
Loth. Sie müssen sich das doch aber irgendwo zugezogen haben?! Haben Sie
immer so gehinkt?
Beibst. Nich die Oahnung!
Loth. Dann verstehe ich nicht recht, es muß doch eine Ursache ...
Beibst. Weeß iich's? (Er droht wieder mit der Faust.) Woart ok Due!
woart ok mit dem Geknackse.
Kahl (erscheint innerhalb seines Gartens. Er trägt in der rechten eine
Flinte am Lauf, seine linke Hand ist geschlossen. Ruft herüber.) Guten
Morjen ooch, Herr Dukter!
Loth geht quer durch den Hof auf ihn zu. Inzwischen hat Guste
sowie eine andere Magd mit Namen Liese je eine Radwer zurecht
gemacht, worauf Harke und Dunggabel liegen. Damit fahren sie
durch den Thorweg hinaus auf's Feld, an Beibst vorüber, der nach
einigen grimmigen Blicken und verstohlenen Zornesgesten zu Kahl
hinüber seine Sense schultert und ihnen nachhumpelt. Beibst und
die Mägde ab.
Loth (zu Kahl). Guten Morgen!
Kahl. Wull'n 'S amol was hibsches sah'n? (Er streckt den Arm mit der
geschlossenen Hand über den Zaun.)
Loth (nähergehend). Was haben Sie denn da?
Kahl. Rootha See! (Er öffnet gleich darauf seine Hand.)
Loth. Waas?! -- es ist also wirklich wahr: Sie schießen Lerchen! Nun für
diesen Unfug, Sie nichtsnutziger Bursche, verdienten Sie geohrfeigt zu
werden, verstehen Sie mich! (Er kehrt ihm den Rücken zu und geht quer
durch den Hof zurück, Beibst und den Mädchen nach. Ab.)
Kahl (starrt Loth einige Augenblicke dumm verblüfft nach, dann ballt er
die Faust verstohlen, sagt): Dukterluder! (wendet sich und verschwindet
rechts. -- Während einiger Augenblicke bleibt der Hof leer.)
_Helene_, aus der Hausthür tretend, helles Sommerkleid, großer
Gartenhut. Sie blickt sich ringsum, thut dann einige Schritte auf
den Thorweg zu, steht still und späht hinaus. Hierauf schlendert
sie rechts durch den Hof und biegt in den Weg ein, welcher nach
dem Wirthshause führt. Große Packete von allerhand Thee hängen
zum Trocknen über dem Zaune: daran riecht sie im Vorübergehen.
Sie biegt auch Zweige von den Obstbäumen und betrachtet die sehr
niedrig hängenden, rothwangigen Aepfel. Als sie bemerkt, daß Loth
vom Wirthshaus her ihr entgegen kommt, bemächtigt sich ihrer eine
noch stärkere Unruhe, so daß sie sich schließlich umwendet und
vor Loth her in den Hof zurückgeht. Hier bemerkt sie, daß der
Taubenschlag noch geschlossen ist und begiebt sich dorthin durch
das kleine Zaunpförtchen des Obstgartens. Noch damit beschäftigt,
die Leine, welche, vom Winde getrieben, irgendwo festgehakt ist,
herunter zu ziehen, wird sie von Loth, der inzwischen
herangekommen ist angeredet.
Loth. Guten Morgen, Fräulein!
Helene. Guten Morgen! -- Der Wind hat die Schnur hinaufgejagt.
Loth. Erlauben Sie! (Geht ebenfalls durch das Pförtchen, bringt die
Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.)
Helene. Ich danke sehr.
Loth (ist durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber
außerhalb des Zaunes und an diesen gelehnt stehen. Helene innerhalb
desselben. Nach einer kleinen Pause.) Pflegen Sie immer so früh auf zu
sein, Fräulein?
Helene. _Das_ eben -- wollte ich Sie auch fragen.
Loth. Ich --? nein! Die erste Nacht in einem fremden Hause passirt es
mir jedoch gewöhnlich.
Helene. Wie ... kommt das?
Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es hat keinen Zweck.
Helene. Ach, wieso denn nicht?
Loth. Wenigstens keinen ersichtlichen, praktischen Zweck.
Helene. Also wenn Sie irgend etwas thun oder denken, muß es einem
praktischen Zweck dienen?
Loth. Ganz recht? Uebrigens ...
Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.
Loth. Was, Fräulein?
Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als sie mir vorgestern den
Werther aus der Hand riß.
Loth. Das ist ein dummes Buch.
Helene. Sagen Sie das nicht.
Loth. Das sage ich nochmal, Fräulein. Es ist ein Buch für Schwächlinge.
Helene. _Das_ -- kann wohl möglich sein.
Loth. Wie kommen Sie gerade auf _dieses_ Buch? Ist es Ihnen denn
verständlich?
Helene. Ich hoffe, ich ... zum Theil ganz gewiß. Es beruhigt so, darin
zu lesen. (Nach einer Pause.) Wenn's ein dummes Buch ist, wie Sie sagen,
könnten Sie mir etwas Besseres empfehlen?
Loth. Le... lesen Sie ... noa! ... kennen Sie den Kampf um Rom von Dahn?
Helene. Nein! Das Buch werde ich mir aber nun kaufen. Dient es einem
praktischen Zweck?
Loth. Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es malt die Menschen nicht wie
sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich.
Helene (mit Ueberzeugung). _Das ist schön._ (Kleine Pause, dann.)
Vielleicht geben Sie mir Auskunft, man redet so viel von Zola und Ibsen
in den Zeitungen: sind das große Dichter?
Loth. Es sind gar keine Dichter, sondern nothwendige Uebel, Fräulein.
Ich bin ehrlich durstig und verlange von der Dichtkunst einen klaren,
erfrischenden Trunk. -- Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibsen bieten,
ist Medizin.
Helene (gleichsam unwillkürlich). Ach, dann wäre es doch vielleicht für
mich etwas.
Loth (bisher theilweise, jetzt ausschließlich in den Anblick des
thauigen Obstgartens vertieft). Es ist prächtig hier. Sehen Sie, wie die
Sonne über der Bergkuppe herauskommt. -- Viel Aepfel giebt es in Ihrem
Garten: eine schöne Ernte.
Helene. Drei Viertel davon wird auch dies Jahr wieder gestohlen werden.
Die Armuth hier herum ist zu groß.
Loth. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das Land liebe! Leider wächst
mein Weizen zum größten Theile in der Stadt. Aber nun will ich's mal
durchgenießen, das Landleben. Unsereiner hat so 'n bischen Sonne und
Frische mehr nöthig als sonst Jemand.
Helene (seufzend). Mehr nöthig, als .... inwiefern?
Loth. Weil man in einem harten Kampfe steht, dessen Ende man nicht
erleben kann.
Helene. Stehen wir anderen _nicht_ in einem solchen Kampfe?
Loth. Nein.
Helene. Aber -- in einem Kampfe -- stehen wir doch auch?!
Loth. Natürlicherweise! aber der kann enden.
Helene. _Kann_ -- da haben Sie recht! -- und wieso kann der nicht
endigen -- der, den Sie kämpfen, Herr Loth?
Loth. Ihr Kampf, das kann nur ein Kampf sein um persönliches
Wohlergehen. Der Einzelne kann dies, so weit menschenmöglich, erreichen.
Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glücklich sein,
so müßten es erst alle anderen Menschen um mich herum sein; ich müßte um
mich herum weder Krankheit noch Armuth, weder Knechtschaft noch
Gemeinheit sehen. Ich könnte mich so zu sagen nur als letzter an die
Tafel setzen.
Helene (mit Ueberzeugung). _Dann sind Sie ja ein sehr, sehr guter
Mensch!_
Loth (ein wenig betreten). Verdienst ist weiter nicht dabei, Fräulein,
ich bin so veranlagt. Ich muß übrigens sagen, daß mir der Kampf im
Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt. Eine Art
Glück, die ich weit höher anschlage, als die, mit der sich der gemeine
Egoist zufrieden giebt.
Helene. Es giebt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind.
-- Es muß ein Glück sein, mit solcher Veranlagung geboren zu sein.
Loth. Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die
Verkehrtheit unserer Verhältnisse, scheint mir; -- nur muß man für das
Verkehrte einen Sinn haben: _das_ ist es! Hat man den und leidet man so
bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit
Nothwendigkeit zu dem, was ich bin.
Helene. Wenn ich Sie nur besser .... welche Verhältnisse nennen Sie zum
Beispiel verkehrt?
Loth. Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines
Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Ueberflusse leben darf.
-- Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im
Krieg zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst,
wie es die Soldaten thun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument,
wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen.
Den Henker, der das mit dem Beile thäte, würde man zweifelsohne
steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion
der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei
ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind
einige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch
alle diese Verkehrtheiten hindurchzuringen; man muß früh anfangen.
Helene. Wie sind Sie denn nur so auf alles dies gekommen? Es ist so
einfach und doch kommt man nicht darauf.
Loth. Ich mag wohl durch meinen Entwickelungsgang darauf gekommen sein,
durch Gespräche mit Freunden, durch Lecture, durch eigenes Denken.
Hinter die erste Verkehrtheit kam ich als kleiner Junge. Ich log mal
sehr stark und bekam dafür die schrecklichsten Prügel von meinem Vater.
Kurz darauf fuhr ich mit ihm auf der Eisenbahn, und da merkte ich, daß
mein Vater auch log und es für ganz selbstverständlich hielt, zu lügen;
ich war damals fünf Jahre und mein Vater sagte dem Schaffner, ich sei
noch nicht vier, der freien Fahrt halber, welche Kinder unter vier
Jahren genießen. Dann sagte der Lehrer auch mal: sei fleißig, halt Dich
brav, dann wird es Dir auch unfehlbar gut gehen im Leben. Der Mann
lehrte uns eine Verkehrtheit, dahinter kam ich sehr bald. Mein Vater war
brav, ehrlich, durch und durch bieder, und ein Schuft, der noch jetzt
als reicher Mann lebt, betrog ihn um seine paar Tausend Thaler. Bei eben
diesem Schuft, der eine große Seifenfabrik besaß, mußte mein Vater
sogar, durch die Noth getrieben, in Stellung treten.
Helene. Unsereins wagt es gar nicht -- wagt es gar nicht, so etwas für
verkehrt anzusehen, höchstens ganz im Stillen empfindet man es. Man
empfindet es oft sogar, und dann -- wird einem ganz verzweifelt zu Muth.
Loth. Ich erinnere mich einer Verkehrtheit, die mir ganz besonders klar
als solche vor Augen trat. Bis dahin glaubte ich: der Mord werde unter
allen Umständen als ein Verbrechen bestraft; danach wurde mir jedoch
klar, daß nur die milderen Formen des Mordes ungesetzlich sind.
Helene. Wie wäre das wohl ....
Loth. Mein Vater war Siedemeister, wir wohnten dicht an der Fabrik,
unsere Fenster gingen auf den Fabrikhof. Da sah ich auch noch manches
außerdem. Es war ein Arbeiter, der fünf Jahre in der Fabrik gearbeitet
hatte. Er fing an stark zu husten und abzumagern ... ich weiß, wie uns
mein Vater bei Tisch erzählte: Burmeister -- so hieß der Arbeiter --
bekommt die Lungenschwindsucht, wenn er noch länger bei der
Seifenfabrikation bleibt. Der Doktor hat es ihm gesagt. -- Der Mann
hatte acht Kinder, und ausgemergelt wie er war, konnte er nirgends mehr
Arbeit finden. Er _mußte_ also in der Seifenfabrik bleiben, und der
Prinzipal that sich viel darauf zu gute, daß er ihn beibehielt. Er kam
sich unbedingt äußerst human vor. -- Eines Nachmittags, im August, es
war eine furchtbare Hitze, da quälte er sich mit einer Karre Kalk über
den Fabrikhof. -- Ich sah gerade aus dem Fenster, da merke ich, wie er
still steht -- wieder still steht und schließlich schlägt er lang auf
die Steine. -- Ich lief hinzu -- mein Vater kam, andere Arbeiter kamen,
aber er röchelte nur noch, und sein ganzer Mund war voll Blut. Ich half
ihn ins Haus tragen. Ein Haufe kalkiger, nach allerhand Chemikalien
stinkender Lumpen war er; bevor wir ihn im Hause hatten, war er schon
gestorben.
Helene. Ach, schrecklich ist das.
Loth. Kaum acht Tage später zogen wir seine Frau aus dem Fluß, in den
die verbrauchte Lauge unserer Fabrik abfloß. -- Ja, Fräulein! wenn man
dies alles kennt, wie ich es _jetzt_ kenne -- glauben Sie mir! -- dann
läßt es einem keine Ruhe mehr. Ein einfaches Stückchen Seife, bei dem
sich in der Welt sonst Niemand etwas denkt, ja, ein paar rein
gewaschene, gepflegte Hände schon können einen in die bitterste Laune
versetzen.
Helene. Ich hab auch mal so was gesehen. Hu! schrecklich war das,
_schrecklich_!
Loth. Was?
Helene. Der Sohn von einem Arbeitsmann wurde halbtodt hier
hereingetragen. Es ist nun ... drei Jahre vielleicht ist es her.
Loth. War er verunglückt?
Helene. Ja, drüben im Bärenstollen.
Loth. Ein Bergmann also?
Helene. Ja, die meisten jungen Leute hier herum gehen auf die Grube. --
Ein zweiter Sohn desselben Vaters war auch Schlepper und ist auch
verunglückt.
Loth. Beide todt?
Helene. Beide todt .... Einmal riß etwas an der Fahrkunst, das andere
Mal waren es schlagende Wetter. -- Der alte Beibst hat aber noch einen
dritten Sohn, der fährt auch seit Ostern ein.
Loth. Was Sie sagen! -- hat er nichts dawider?
Helene. Gar nichts, nein! Er ist nur jetzt noch weit mürrischer als
früher. Haben Sie ihn nicht schon gesehen?
Loth. Wieso ich?
Helene. Er saß ja heut früh nebenan, unter der Durchfahrt.
Loth. Ach! -- wie? .. Er arbeitet hier im Hofe?
Helene. Schon seit Jahren.
Loth. Er hinkt?
Helene. Ziemlich stark sogar.
Loth. Soosoo. -- Was ist ihm denn da passirt, mit dem Bein?
Helene. Das ist 'ne heikle Geschichte. Sie kennen doch den Herrn Kahl?
... da muß ich Ihnen aber ganz nahe kommen. Sein Vater, müssen Sie
wissen, war genau so ein Jagdnarr wie er. Er schoß hinter den
Handwerksburschen her, die auf den Hof kamen, wenn auch nur in die Luft,
um ihnen Schrecken einzujagen. Er war auch sehr jähzornig, wissen Sie;
wenn er getrunken hatte, erst recht. Nu hat wohl der Beibst mal
gemuckscht -- er muckscht gern, wissen Sie, -- und da hat der Bauer die
Flinte zu packen gekriegt und ihm eine Ladung gegeben. Beibst, wissen
Sie, war nämlich früher beim Nachbar Kahl für Kutscher.
Loth. Frevel über Frevel, wohin man hört.
Helene (immer unsicherer und erregter). Ich hab auch schon manchmal so
bei mir gedacht .... sie haben mir alle mitunter schon so furchtbar leid
gethan --: der alte Beibst und ..... Wenn die Bauern so roh und dumm
sind wie der -- wie der Streckmann, der -- läßt seine Knechte hungern
und füttert die Hunde mit Conditorzeug. Hier bin ich wie dumm, seit ich
aus der Pension zurück bin ... Ich hab auch mein Päckchen! -- aber ich
rede ja wohl Unsinn, -- es interessirt Sie ja gar nicht -- Sie lachen
mich im Stillen bloß aus.
Loth. Aber Fräulein, wie können Sie nur .... weshalb sollte ich Sie denn
....
Helene. Nun, etwa nicht? Sie denken doch: die ist auch nicht besser wie
die Anderen hier.
Loth. Ich denke von Niemand schlecht, Fräulein!
Helene. Das machen Sie mir nicht weis .... nein, nein!
Loth. Aber Fräulein! wann hatte ich Ihnen Veranlassung ...
Helene (nahe am Weinen). Ach, reden Sie doch nicht! Sie verachten uns,
verlassen Sie sich d'rauf -- Sie müssen uns ja doch verachten, --
(weinerlich) -- den Schwager mit, _mich_ mit. _Mich_ vor allen Dingen
und dazu, da -- zu haben Sie wahr... wahrhaftig auch Grund. (Sie wendet
Loth schnell den Rücken und geht, ihrer Bewegung nicht mehr Herr, durch
den Obstgarten nach dem Hintergrunde zu ab. Loth tritt durch das
Pförtchen und folgt ihr langsam.)
Frau Krause (in überladener Morgentoilette, puterroth im Gesicht, aus
der Hausthür, schreit). Doas Loaster vu Froovulk! Marie! Ma--rie!! unter
men'n Dache? Weg muß doas Froovulk! (Sie rennt über den Hof und
verschwindet in der Stallthür. _Frau Spiller_, mit Häkelarbeit,
erscheint in der Hausthür. Im Stalle hört man Schimpfen und Heulen.)
Frau Krause (die heulende Magd vor sich hertreibend, aus dem Stall). Du
Hurenfroovulk Du! -- (Die Magd heult stärker) -- uuf der Stelle 'naus!
Sich Deine sieba Sacha z'samma und dann 'naus! (Helene, mit rothen Augen
kommt durch den Thorweg, bemerkt die Scene und steht abwartend still.)
Die Magd (entdeckt Frau Spiller, wirft Schemel und Milchgelte weg und
geht wüthend auf sie zu). Doas biin iich Ihn'n schuldig! Doas war iich
Ihn'n eitränka!! (Sie rennt schluchzend davon, die Bodentreppe hinauf.
Ab.)
Helene (zu Frau Krause tretend). Was hat sie denn gemacht?
Frau Krause (grob). Gieht's Diich oan, Goans?
Helene (heftig, fast weinend). Ja, mich geht's an.
Frau Spiller (schnell hinzutretend). Mein gnädiges Fräulein, so etwas
ist nicht für das Ohr eines jungen Mädchens wie ...
Frau Krause. Worum ok ne goar, Spillern! die iis au ne vu Marzepane.
Mit'n Grußknecht zusoamma gelah'n hot se ei en Bette. Do wißt de's.
Helene (in befehlendem Tone). Die Magd wird aber _doch_ bleiben.
Frau Krause. Weibsstück!
Helene. Gut! dann will ich dem Vater erzählen, daß Du mit Kahl Wilhelm
die Nächte ebenso verbringst.
Frau Krause (schlägt ihr eine Maulschelle). Du hust' an' Denkzettel!
Helene (todtbleich, aber noch fester). Die Magd bleibt aber _doch_,
sonst ... sonst bring ich's herum! Mit Kahl Wilhelm, Du! Dein Vetter ...
mein Bräut'jam ... Ich bring's herum.
Frau Krause (mit wankender Fassung). Wer koan doas soa'n?
Helene. Ich! Denn ich hab ihn heut Morgen aus Deinem Schlafzimmer .....
(Schnell ab ins Haus.)
Frau Krause, taumelnd, nahe einer Ohnmacht. Frau Spiller mit
Riechfläschchen zu ihr.
Frau Spiller. Gnädige Frau, gnädige Frau!
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