Vor Sonnenaufgang: Soziales Drama - 2

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Loth. Ja, es hat sich zufällig so getroffen. -- Ich war immer in Berlin
und daherum -- wußte eigentlich nicht, wo Hoffmann steckte. Seit meiner
Breslauer Studienzeit war ich nicht mehr in Schlesien.
Helene. Also nur so zufällig sind Sie auf ihn gestoßen?
Loth. Nur ganz zufällig -- und zwar gerade an dem Ort, wo ich meine
Studien zu machen habe.
Helene. Ach, Spaß! -- Witzdorf und Studien machen, nicht möglich! in
diesem armseligen Neste?!
Loth. Armselig nennen Sie es? -- Aber es liegt doch hier ein ganz
außergewöhnlicher Reichthum.
Helene. Ja doch! in der Hinsicht ...
Loth. Ich habe nur immer gestaunt. Ich kann Sie versichern, solche
Bauernhöfe giebt es nirgendwo anders; da guckt ja der Ueberfluß wirklich
aus Thüren und Fenstern.
Helene. Da haben Sie recht. In mehr als einem Stalle hier fressen Kühe
und Pferde aus marmornen Krippen und neusilbernen Raufen! Das hat die
Kohle gemacht, die unter unseren Feldern gemuthet worden ist, die hat
die armen Bauern im Handumdrehen steinreich gemacht. (Sie weist auf das
Bild an der Hinterwand.) Sehen Sie da -- mein Großvater war
Frachtfuhrmann. Das Gütchen gehörte ihm, aber der geringe Boden ernährte
ihn nicht, da mußte er Fuhren machen. -- Das dort ist er selbst in der
blauen Blouse -- man trug damals noch solche blaue Blousen. -- Auch mein
Vater als junger Mensch ist darin gegangen. -- Nein! -- so meinte ich es
nicht -- mit dem »armselig«; nur ist es so öde hier. So ... gar nichts
für den Geist giebt es. Zum Sterben langweilig ist es.
Miele und Eduard ab- und zugehend decken den Tisch rechts im
Hintergrunde.
Loth. Giebt es denn nicht zuweilen Bälle oder Kränzchen?
Helene. Nicht mal das giebt es. Die Bauern _spielen_, _jagen_, _trinken_
... was sieht man den ganzen Tag? (Sie ist vor das Fenster getreten und
weist mit der Hand hinaus.) Hauptsächlich solche Gestalten.
Loth. Hm! Bergleute.
Helene. _Welche_ gehen zur Grube, _welche_ kommen von der Grube: das
hört nicht auf. -- Wenigstens ich sehe _immer_ Bergleute. Denken Sie,
daß ich alleine auf die Straße mag? Höchstens auf die Felder, durch das
Hinterthor. Es ist ein _zu_ rohes Pack! -- Und wie sie einen immer
anglotzen, so schrecklich finster -- als ob man geradezu was verbrochen
hätte.
Im Winter, wenn wir so manchmal Schlitten gefahren sind und sie kommen
dann in der Dunkelei in großen Trupps über die Berge, im Schneegestöber
und sie sollen ausweichen, da gehen sie vor den Pferden her und weichen
nicht aus. Da nehmen die Bauern manchmal den Peitschenstiel, anders
kommen sie nicht durch. Ach, und dann schimpfen sie hinterher. Hu! ich
habe mich manchmal so entsetzlich geängstigt.
Loth. Und nun denken Sie an: gerade um dieser Menschen willen -- vor
denen Sie sich so sehr fürchten, bin ich hierher gekommen.
Helene. Nein aber ...
Loth. Ganz im Ernst, sie interessiren mich hier mehr als alles Andere.
Helene. Niemand ausgenommen?
Loth. Nein.
Helene. Auch mein Schwager nicht ausgenommen?
Loth. Nein! -- Das Interesse für diese Menschen ist ein ganz anderes, --
höheres ... verzeihen Sie, Fräulein! Sie können das am Ende doch wohl
nicht verstehen.
Helene. Wieso nicht? Ich verstehe Sie sehr gut, Sie ... (Sie läßt einen
Brief aus der Tasche gleiten, Loth bückt sich darnach.) Ach, lassen Sie
... es ist nicht wichtig, nur eine gleichgültige Pensionskorrespondenz.
Loth. Sie sind in Pension gewesen?
Helene. Ja, in Herrnhut. Sie müssen nicht denken, daß ich ... nein,
nein, ich verstehe Sie schon.
Loth. Ich meine, die Arbeiter interessieren mich um ihrer selbst willen.
Helene. Ja, freilich, -- es ist ja sehr interessant ... so ein Bergmann
... wenn man's so nehmen will ... Es giebt ja Gegenden, wo man gar keine
findet, aber wenn man sie so täglich ...
Loth. Auch wenn man sie täglich sieht, Fräulein ... Man muß sie sogar
täglich sehen, um das Interessante an ihnen herauszufinden.
Helene. Nun, wenn es _so schwer_ herauszufinden ... was ist es denn
dann? das Interessante mein ich.
Loth. Es ist zum Beispiel interessant, daß diese Menschen, wie Sie
sagen, immer so gehässig oder finster blicken.
Helene. Wieso meinen Sie, daß das besonders interessant ist?
Loth. Weil es nicht das Gewöhnliche ist. Wir anderen pflegen doch nur
zeitweilig und keineswegs immer so zu blicken.
Helene. Ja, weshalb _blicken_ sie denn nur immer so ... so gehässig, so
mürrisch? Es muß doch einen Grund haben.
Loth. Ganz recht! und _den_ möchte ich gern herausfinden.
Helene. Ach _Sie_ sind! Sie lügen mir was vor. Was hätten Sie denn
davon, wenn Sie das auch wüßten?
Loth. Man könnte vielleicht Mittel finden, den Grund, warum diese Leute
immer so freudlos und gehässig sein müssen, wegzuräumen; -- man könnte
sie vielleicht glücklicher machen.
Helene (ein wenig verwirrt). Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß ... aber
gerade jetzt verstehe ich Sie doch vielleicht ein ganz klein wenig. --
Es ist mir nur ... nur so ganz _neu_, _so -- ganz_ -- neu!
Hoffmann (durch die Thüre rechts eintretend. Er hat eine Anzahl Briefe
in der Hand). So! da bin ich wieder. -- Eduard! daß die Briefe noch vor
8 auf der Post sind. (Er händigt dem Diener die Briefe ein, der Diener
ab.)
So, Kinder! jetzt können wir speisen. -- Unerlaubte Hitze hier!
September und solche Hitze! (Er hebt den Champagner aus dem Eiskübel.)
Veuve Cliquot: Eduard kennt meine stille Liebe. (Zu Loth gewendet.) Habt
ja furchtbar eifrig disputirt. (Tritt an den fertig gedeckten, mit
Delicatessen überladenen Abendtisch, reibt sich die Hände.) Na! das
sieht ja recht gut aus! (Mit einem verschmitzten Blick zu Loth hinüber.)
Meinst Du nicht auch? -- Uebrigens, Schwägerin! wir bekommen Besuch:
Kahl-Wilhelm. Er war auf dem Hof.
Helene (macht eine ungezogene Geberde).
Hoffmann. Aber Beste! Du thust fast, als ob ich ihn ... was kann denn
ich dafür? Hab ich ihn etwa _gerufen_? (Man hört schwere Schritte
draußen im Hausflur.) Ach! das Unheil schreitet schnelle.
Kahl tritt ein, ohne vorher angeklopft zu haben. Er ist ein
vierundzwanzigjähriger, plumper Bauernbursch, dem man es ansieht,
daß er, so weit möglich, gern den feinen, noch mehr aber den
reichen Mann herausstecken möchte. Seine Gesichtszüge sind grob,
der Gesichtsausdruck vorwiegend dumm-pfiffig. Er ist bekleidet
mit einem grünen Jaquet, bunter Sammtweste, dunklen Beinkleidern
und Glanzlack-Schaftstiefeln. Als Kopfbedeckung dient ihm ein
grüner Jägerhut mit Spielhahnfeder. Das Jaquet hat
Hirschhornknöpfe, an der Uhrkette Hirschzähne etc. Stottert.
Kahl. Gun'n Abend mi'nander! (Er erblickt Loth, wird sehr verlegen und
macht stillstehend eine ziemlich klägliche Figur.)
Hoffmann (tritt zu ihm und reicht ihm die Hand aufmunternd). Guten
Abend, Herr Kahl!
Helene (unfreundlich). Guten Abend.
Kahl (geht mit schweren Schritten quer durch das ganze Zimmer auf Helene
zu und giebt ihr die Hand). 'n Abend och, Lene.
Hoffmann (zu Loth). Ich stelle Dir hiermit Herrn Kahl vor, unseren
Nachbarssohn.
Kahl (grinst und dreht den Hut. Verlegenheitsstille.)
Hoffmann. Zu Tisch Kinder! Fehlt noch Jemand? Ach, die Schwiegermama.
Miele! bitten Sie Frau Krause zu Tische.
Miele ab durch die Mittelthür.
Miele (draußen im Hausflur schreiend): Frau!! -- Frau!! Assa kumma! Sie
sill'n assa kumma!
Helene und Hoffmann blicken einander an und lachen verständnißinnig,
dann blicken sie vereint auf Loth.
Hoffmann (zu Loth). Ländlich, sittlich!
Frau Krause erscheint, furchtbar aufgedonnert. Seide und
kostbarer Schmuck. Haltung und Kleidung verrathen Hoffahrt,
Dummstolz, unsinnige Eitelkeit.
Hoffmann. Ah! da ist Mama! -- Du gestattest, daß ich Dir meinen Freund
Dr. Loth vorstelle.
Frau Krause (macht einen undefinirbaren Knix). Ich bin so frei! (Nach
einer kleinen Pause.) Nein, aber auch, Herr Doktor, nahmen Sie mir's ock
bei Leibe nicht ibel! Ich muß mich zuerscht muß ich mich vor Ihn'n
vertefentiren, -- (sie spricht je länger, um so schneller) --
vertefentiren wegen meiner vorhinigten Benehmigung. Wissen Se, verstihn
Se, es komm' ein der Drehe bei uns eine so ane grußmächtige Menge
Stremer .... Se kinn's ni gleba, ma hoot mit dan Battelvulke seine liebe
Noth. A su enner, dar maust akrat wie a Ilster. Uf da Pfennig kimmt's
ins ne ernt oa, ne ock ne, ma braucht a ni dreimol rimzudrehn, an ken'n
Thoaler nich, ebb ma'n ausgibbt. De Krausa-Ludwig'n, _die_ iis geizig,
schlimmer wie a Homster egelganz, di ginnt ke'm Luder nischt. Ihrer is
gesturba aus Arjer, weil a lumpigte zwetausend ei Brassel verloern hoot.
Ne, ne! a su sein mir dorchaus nicht. Sahn Se, doas Buffett kust't mich
zwehundert Thoaler, a Transpurt ni gerechnet; na, d'r Beron Klinkow
keans au ne andersch honn.
_Frau Spiller_ ist kurz nach Frau Krause ebenfalls eingetreten.
Sie ist klein, schief und mit den zurückgelegten Sachen der Frau
Krause herausgestutzt. Während Frau Krause spricht, hält sie mit
einer gewissen Andacht die Augen zu ihr aufgeschlagen. Sie ist
etwa fünfundfünfzig Jahre alt; ihr Ausathmen geschieht jedesmal
mit einem leisen Stöhnen, welches auch, wenn sie redet,
regelmäßig wie--m--hörbar wird.
Frau Spiller (mit unterwürfigem, wehmüthig geziertem _moll_-Ton, sehr
leise). Der Baron Klinkow haben genau dasselbe Buffet--m--.
Helene (zu Frau Krause). Mama! wollen wir uns nicht erst setzen, dann
.....
Frau Krause (wendet sich blitzschnell und trifft Helene mit einem
vernichtenden Blick; kurz und herrisch). _Schickt sich doas?_ (Frau
Krause, im Begriff sich zu setzen, erinnert sich, daß das Tischgebet
noch nicht gesprochen ist und faltet mechanisch, doch ohne ihrer Bosheit
im Uebrigen Herr zu sein, die Hände.)
Frau Spiller (spricht das Tischgebet).
Komm, Herr Jesu, sei unser Gast.
Segne, was du uns bescheeret hast.
Amen.
Alle setzen sich mit Geräusch. Mit dem Zulangen und Zureichen,
welches einige Zeit in Anspruch nimmt, kommt man über die
peinliche Situation hinweg.
Hoffmann (zu Loth). Lieber Freund, Du bedienst Dich wohl?! Austern?
Loth. Nun, will probiren. Es sind die ersten Austern, die ich esse.
Frau Krause (hat soeben eine Auster geschlürft. Mit vollem Mund.) In dar
Seisong, mein'n Se woll?
Loth. Ich meine _überhaupt_.
Frau Krause und Frau Spiller wechseln Blicke.
Hoffmann (zu Kahl, der eine Citrone mit den Zähnen auspreßt). Zwei Tage
nicht gesehen, Herr Kahl! Tüchtig Mäuse gejagt in der Zeit?
Kahl. N... n.. ne!
Hoffmann (zu Loth). Herr Kahl ist nämlich ein leidenschaftlicher Jäger.
Kahl. D.. d. die M.. mm.. maus, das ist 'n in... in.. infamtes Am.. am..
amf ff.. fibium.
Helene (platzt heraus). Zu lächerlich ist das, alles schießt er todt,
Zahmes und Wildes.
Kahl. N.. nächten hab ich d.. d.. die alte Szss.. sau vu ins t.. todt
g.. g.. geschossen.
Loth. Da ist wohl schießen Ihre Hauptbeschäftigung?
Frau Krause. Herr Kahl thut's ock bloßig zum Prifatvergnigen.
Frau Spiller. Wald, Wild, Weib pflegten Seine Exellenz der Herr Minister
von Schadendorf oftmals zu sagen.
Kahl. I.. i.. iberm.. m.. murne hab'n mer T.. t.. tau.. t..
taubenschießen.
Loth. Was ist denn das: Taubenschießen?
Helene. Ach, ich kann so was nicht leiden; es ist doch nichts als eine
recht unbarmherzige Spielerei. Ungezogene Jungens, die mit Steinen nach
Fensterscheiben zielen, thun etwas Besseres.
Hoffmann. Du gehst zu weit, Helene.
Helene. Ich weiß nicht --, meinem Gefühl nach hat es weit mehr Sinn,
Fenster einzuschmeißen, als Tauben an einem Pfahl festzubinden und dann
mit Kugeln nach ihnen zu schießen.
Hoffmann. Na, Helene, -- man muß doch aber bedenken ....
Loth (irgend etwas mit Messer und Gabel schneidend). Es ist ein
schandhafter Unfug.
Kahl. Um die p. poar Tauba ....!
Frau Spiller (zu Loth). Der Herr Kahl -- m --, müssen Sie wissen, haben
zweihundert Stück im Schlage.
Loth. Die ganze Jagd ist ein Unfug.
Hoffmann. Aber ein unausrottbarer. Da werden zum Beispiel eben jetzt
wieder fünfhundert lebende Füchse gesucht; alle Förster hier herum und
auch sonst in Deutschland verlegen sich aufs Fuchsgraben.
Loth. Was macht man denn mit den vielen Füchsen?
Hoffmann. Sie kommen nach England, wo sie die Ehre haben, von Lord und
Ladys gleich vom Käfig weg zu Tode gehetzt zu werden.
Loth. Muhamedaner oder Christ, Bestie bleibt Bestie.
Hoffmann. Darf ich Dir Hummer reichen, Mama?
Frau Krause. Meinswegen, ei dieser Seisong sind se sehr gutt!
Frau Spiller. Gnädige Frau haben eine so feine Zunge -- m --!
Frau Krause (zu Loth). Hummer ha'n Sie woll auch noch nich gegassen.
Herr Dukter?
Loth. Ja, Hummer habe ich schon hin und wieder gegessen --, an der See
oben, in Warnemünde, wo ich geboren bin.
Frau Krause (zu Kahl). Gell, Wilhelm, ma weeß wirklich'n Gott manchmal
nich mee, was ma assen sull?
Kahl. J.. j.. ja, w.. w.. weeß ... weeß G.. Gott, Muhme.
Eduard (will Loth Champagner eingießen). Champagner.
Loth (hält sein Glas zu). Nein! ... danke!
Hoffmann. -- Mach' keinen Unsinn.
Helene. Wie, Sie trinken nicht?
Loth. Nein, Fräulein.
Hoffmann. Na, _hör'_ mal an: das ist aber doch ... das ist _lang_weilig.
Loth. Wenn ich tränke, würde ich noch langweiliger werden.
Helene. Das ist interessant, Herr Doktor.
Loth (ohne Tact). Daß ich langweiliger werde, wenn ich Wein trinke?
Helene (etwas betreten). Nein, ach nein, daß .... daß Sie nicht trinken
...., daß Sie überhaupt nicht trinken, meine ich.
Loth. Warum soll das interessant sein?
Helene (sehr roth werdend). Es ist .... ist nicht das Gewöhnliche. (Wird
noch röther und sehr verlegen.)
Loth (tollpatschig). Da haben Sie recht, leider.
Frau Krause (zu Loth). De Flasche kust uns fufza Mark, Sie kinn' a
dreiste trink'n. Direct vu Rheims iis a, mir satz'n Ihn gewiß nischt
Schlechtes vier, mir mieja salber nischt Schlechtes.
Frau Spiller. Ach, glauben Sie mich, -- m --, Herr Doktor, wenn Seine
Exellenz der Herr Minister von Schadendorf -- m -- so eine Tafel geführt
hätten ....
Kahl. Ohne men'n Wein kennt ich nich laben.
Helene (zu Loth). Sagen Sie uns doch, warum Sie nicht trinken!
Loth. Das kann gerne geschehen, ich ....
Hoffmann. Ae, was! alter Freund! (Er nimmt dem Diener die Flasche ab, um
nun seinerseits Loth zu bedrängen.) Denk' dran, wie manche hochfidele
Stunde wir früher mit einander ...
Loth. Nein, bitte bemühe Dich nicht, es ...
Hoffmann. Trink _heut_ mal!
Loth. Es ist alles vergebens.
Hoffmann. Mir zu Liebe!
Hoffmann will eingießen, Loth wehrt ab; es entsteht ein kleines
Handgemenge.
Loth. Nein! ... nein, wie gesagt ... nein! ... nein, danke.
Hoffmann. Aber _nimm_ mir's nicht übel ... das ist eine Marotte.
Kahl (zu Fr. Spiller). Wer nich will, dar hat schunn.
Frau Spiller (nickt ergeben).
Hoffmann. Uebrigens, des Menschen Wille ... und so weiter. So viel sage
ich nur: ohne ein Glas Wein bei Tisch ...
Loth. Ein Glas Bier zum Frühstück ...
Hoffmann. Nun ja, warum nicht? Ein Glas Bier ist was sehr gesundes.
Loth. Ein Cognac hie und da ...
Hoffmann. Na, wenn man das nicht mal haben sollte ... zum Asceten machst
Du mich nun und nimmer. Das heißt ja dem Leben allen Reiz nehmen.
Loth. Das kann ich nicht sagen. Ich bin mit den _normalen_ Reizen, die
mein Nervensystem treffen, durchaus zufrieden.
Hoffmann. Eine Gesellschaft, die trockenen Gaumens beisammen hockt, ist
und bleibt eine verzweifelt öde und langweilige --, für die ich mich im
Allgemeinen bedanke.
Frau Krause. Bei a Adlijen wird doch auch a so viel getrunk'n.
Frau Spiller (durch eine Verbeugung des Oberkörpers ergebenst
bestätigend). Es ist Schentelmen leicht viel Wein zu trinken.
Loth (zu Hoffmann). Mir geht es umgekehrt; mich _langweilt_ im
Allgemeinen eine Tafel, an der _viel_ getrunken wird.
Hoffmann. Es muß natürlich mäßig geschehen.
Loth. Was nennst Du mäßig?
Hoffmann. Nun, ... daß man noch immer bei Besinnung bleibt.
Loth. Aaah! ... also Du giebst zu: die Besinnung ist im Allgemeinen
durch den Alkohol-Genuß sehr gefährdet. -- Siehst Du! deshalb sind mir
Kneiptafeln -- langweilig.
Hoffmann. Fürchtest Du denn, so leicht Deine Besinnung zu verlieren?
Kahl. Iiii..... i.. ich habe n. n. neulich ene Flasche Rrr... r... rü..
rüd.. desheimer, ene Flasche Sssssekt get.. t.. trunken. Oben drauf d..
d.. d.. dann nnoch eine Flasche B.. b... bordeaux, aber besuffen woar
ich no n.. nich.
Loth (zu Hoffmann). Ach nein, Du weißt ja wohl, daß ich es war, der Euch
nach Hause brachte, wenn Ihr Euch übernommen hattet. Ich hab immer noch
die alte Bärennatur: nein, _deshalb_ bin ich nicht so ängstlich.
Hoffmann. Weshalb denn sonst?
Helene. Ja, warum trinken Sie denn eigentlich nicht? Bitte, sagen Sie es
doch.
Loth (zu Hoffmann). Damit Du doch beruhigt bist: ich trinke heut schon
deshalb nicht, weil ich mich ehrenwörtlich verpflichtet habe, geistige
Getränke zu meiden.
Hoffmann. Mit anderen Worten, Du bist glücklich bis zum
Mäßigkeitsvereinshelden herabgesunken.
Loth. Ich bin völliger Abstinent.
Hoffmann. Und auf wie lange, wenn man fragen darf, machst Du diese ....
Loth. Auf Lebenszeit.
Hoffmann (wirft Gabel und Messer weg und fährt halb vom Stuhle auf). Pf!
gerechter Strohsack!! (Er setzt sich wieder.) Offen gesagt, für so
kindisch ... verzeih das harte Wort.
Loth. Du kannst es gerne so benennen.
Hoffmann. Wie in aller Welt bist Du nur _darauf gekommen_?
Helene. Für so etwas müssen Sie einen sehr gewichtigen Grund haben --
denke ich mir wenigstens.
Loth. Der existirt allerdings. Sie, Fräulein! -- und Du, Hoffmann! weißt
wahrscheinlich nicht, welche furchtbare Rolle der Alkohol in unserem
modernen Leben spielt ... Lies _Bunge_, wenn Du Dir einen Begriff davon
machen willst. -- Mir ist noch gerade in Erinnerung, was ein gewisser
Everett über die Bedeutung des Alkohols für die Vereinigten Staaten
gesagt hat. -- Notabene, es bezieht sich auf einen Zeitraum von zehn
Jahren. Er meint also: der Alkohol hat direct eine Summe von 3
Milliarden und indirect von 600 Millionen Dollars verschlungen. Er hat
300000 Menschen getödtet, 100000 Kinder in die Armenhäuser geschickt,
weitere Tausende in die Gefängnisse und Arbeitshäuser getrieben, er hat
mindestens 2000 Selbstmorde verursacht. Er hat den Verlust von
mindestens 10 Millionen Dollars durch Brand und gewaltsame Zerstörung
verursacht, er hat 20000 Wittwen und schließlich nicht weniger als 1
Million Waisen geschaffen. Die Wirkung des Alkohols, das ist das
Schlimmste, äußert sich so zu sagen bis in's dritte und vierte Glied. --
Hätte ich nun das ehrenwörtliche Versprechen abgelegt, nicht zu
heirathen, dann könnte ich schon eher trinken, so aber ... meine
Vorfahren sind alle gesunde, kernige und wie ich weiß, äußerst mäßige
Menschen gewesen. Jede Bewegung, die ich mache, jede Strapaze, die ich
überstehe, jeder Athemzug gleichsam führt mir zu Gemüth, was ich ihnen
verdanke. Und dies, siehst Du, ist der Punkt: _ich bin absolut fest
entschlossen die Erbschaft, die ich gemacht habe, ganz ungeschmälert auf
meine Nachkommen zu bringen_.
Frau Krause. Du! -- Schwiegersuhn! -- inse Bargleute saufen woarhaftig
zu viel: doas muuß woar sein.
Kahl. Die saufen wie d' Schweine.
Helene. Ach, so was vererbt sich?
Loth. Es giebt Familien, die daran zu Grunde gehen, Trinkerfamilien.
Kahl (halb zu Frau Krause, halb zu Helene). Euer Aaler, dar treibt's au
a wing zu tull.
Helene (weiß wie ein Tuch im Gesicht, heftig). Ach, schwatzen Sie keinen
Unsinn!
Frau Krause. Ne, doch hier enner a su ein patziges Froovulk oa; a su ne
Prinzessen. Hängst de wieder a mol die Gnädige raus, wie? -- A su fährt
se a Zukinftigen oa. (Zu Loth, auf Kahl deutend.) 's is nämlich d'r
Zukinftige, missen Sie nahmen, Herr Dukter, 's is alles eim Renen.
Helene (aufspringend). Hör auf! oder ... _hör auf_, Mutter! oder ...
Frau Krause. Do hiert doch aber werklich ... na, do sprecha Se, Herr
Dukter, iis das wull Bildung, hä? Weeß Gott, ich hal' se wie mei egnes
Kind, aber die treib's reen zu tull.
Hoffmann (beschwichtigend). Ach, Mama! thu mir doch den Gefallen ....
Frau Krause. Neee! _groade_ -- iich sah doas nich ein -- a su ane Goans
wie die iis ... do hiert olle Gerechtigkeit uff ... su ane Titte!
Hoffmann. Mama, ich muß Dich aber wirklich doch jetzt bitten, Dich ...
Frau Krause (immer wüthender). Stats doaß doas Froovulk ei der
Wertschoft woas oagreft ... bewoare ne! Doa zeucht se an Flunsch biis
hinger beede Leffel. -- Oaber da Schillerich, oaber a Gethemoan, a sune
tummn Scheißkarle, die de nischt kinn'n als lieja: vu dan'e läßt sie
sich a Kupp verdrehn. Urnar zum Kränke krieja iis doas. (Schweigt bebend
vor Wuth.)
Hoffmann (begütigend). Nun -- sie wird ja nun wieder .... es war ja
vielleicht -- nicht ganz recht ... es ... (Giebt Helenen, die in
Erregung abseits getreten ist, einen Wink, auf den hin sich das Mädchen,
die Thränen gewaltsam zurückhaltend, wieder auf seinen Platz begiebt.)
Hoffmann (das nunmehr eingetretene peinliche Schweigen unterbrechend zu
Loth). Ja .. von was sprachen wir doch? ... Richtig! -- vom biederen
Alkohol. (Er hebt sein Glas.) Nun, Mama: Frieden! -- Komm, stoßen wir
an, -- seien wir friedlich, -- machen wir dem Alkohol Ehre, indem wir
friedlich sind. (Frau Krause, wenn auch etwas widerwillig, stößt doch
mit ihm an. Hoffmann, zu Helene gewendet.) Was, Helene?! -- Dein Glas
ist leer? ... Ei der Tausend, Loth! Du hast Schule gemacht.
Helene. Ach ... nein ... ich ...
Frau Spiller. Mein gnädiges Fräulein, so etwas läßt tief ....
Hoffmann. Aber Du warst doch sonst keine von den Zimperlichen.
Helene (batzig). Ich hab eben heut keine Neigung zum Trinken, _einfach_!
Hoffmann. Bitte, bitte, bitte _seeehr_ um Verzeihung ... Ja, von was
sprachen wir doch?
Loth. Wir sprachen davon, daß es Trinkerfamilien gäbe.
Hoffmann (aufs Neue betreten). Schon recht, schon recht, aber ...
Man bemerkt zunehmenden Aerger in dem Benehmen der Frau Krause,
während Herr Kahl sichtlich Mühe hat, das Lachen über etwas, das
ihn innerlich furchtbar zu amüsiren scheint, zurückzuhalten.
Helene beobachtet Kahl ihrerseits mit brennenden Augen und
bereits mehrmals hat sie durch einen drohenden Blick Kahl davon
zurückgehalten etwas auszusprechen, was ihm so zu sagen auf der
Zunge liegt. Loth, ziemlich gleichmüthig, mit Schälen eines
Apfels beschäftigt, bemerkt von alledem nichts.
Loth. Ihr scheint übrigens hier ziemlich damit gesegnet zu sein.
Hoffmann (nahezu fassungslos). Wieso ... mit ... mit was gesegnet?
Loth. Mit Trinkern natürlicherweise.
Hoffmann. Hm! ... meinst Du? ... ach ... jaja ..., allerdings, die
Bergleute .....
Loth. Nicht nur die Bergleute. Zum Beispiel hier in dem Wirthshaus, wo
ich abstieg, bevor ich zu Dir kam, da saß ein Kerl so: (Er stützt beide
Ellenbogen auf den Tisch, nimmt den Kopf in die Hände und stiert auf die
Tischplatte.)
Hoffmann. Wirklich? (Seine Verlegenheit hat den höchsten Grad erreicht;
Frau Krause hustet, Helene starrt noch immer auf Kahl, welcher jetzt am
ganzen Körper vor innerlichem Lachen bebt, sich aber doch noch so weit
bändigt, nicht laut herauszuplatzen.)
Loth. Es wundert mich, daß Du dieses -- Original -- könnte man beinahe
sagen, noch nicht kennst. Das Wirthshaus ist ja gleich hier nebenan das.
Mir wurde gesagt, es sei ein hiesiger steinreicher Bauer, der seine Tage
und Jahre buchstäblich in diesem selben Gastzimmer mit Schnapstrinken
zubrächte. Das reine Thier ist er natürlich. Diese furchtbar öden,
versoffenen Augen, mit denen er mich anstierte.
Kahl, der bis hierher sich zurückgehalten hat, bricht in ein
rohes, lautes, unaufhaltsames Gelächter aus, so daß Loth und
Hoffmann, starr vor Staunen, ihn anblicken.
Kahl (unter dem Lachen hervorstammelnd). Woahrhaftig! das is ja ... das
is ja woahrhaftig der ... der Alte gewesen.
Helene (ist entsetzt und empört aufgesprungen. Zerknüllt die Serviette
und schleudert sie auf den Tisch. Bricht aus.) Sie sind ... -- (macht
die Bewegung des Ausspeiens) -- _pfui_! (Sie geht schnell ab.)
Kahl (die aus dem Bewußtsein eine große Dummheit gemacht zu haben,
entstandene Verlegenheit gewaltsam abreißend). Ach woas! ... Unsinn! 's
iis ju zu tumm! -- Iich gieh menner Wege. (Er setzt seinen Hut auf und
sagt, indem er abgeht, ohne sich noch einmal umzuwenden:) 'n Obend!
Frau Krause (ruft ihm nach). Koan Der'sch nich verdenken, Willem! (Sie
legt die Serviette zusammen und ruft dabei.) Miele! (Miele kommt.) Räum
ab! (Für sich, aber doch laut.) Su ane Gans.
Hoffmann (etwas aufgebracht). Ich muß aber doch ehrlich sagen, Mama! ..
Frau Krause. Mahr Dich aus. (Steht auf, schnell ab.)
Frau Spiller. Die gnädige Frau -- m -- haben heut manches häusliche
Aergerniß gehabt -- m --. Ich empfehle mich ganz ergebenst. (Sie steht
auf und betet still, unter Augenaufschlag, dann ab.)
Miele und Eduard decken den Tisch ab. Hoffmann ist aufgestanden
und kommt mit einem Zahnstocher im Mund nach dem Vordergrund,
Loth folgt ihm.
Hoffmann. Ja, siehst Du, so sind die Weiber!
Loth. Ich begreife gar nichts von alledem.
Hoffmann. Ist auch nicht der Rede werth. -- So etwas kommt wie bekannt
in den allerfeinsten Familien vor. Das darf Dich nicht abhalten ein paar
Tage bei uns ...
Loth. Hätte gern Deine Frau kennen gelernt, warum läßt sie sich denn
nicht blicken?
Hoffmann (die Spitze einer frischen Cigarre abschneidend). Du begreifst,
in ihrem Zustand ... die Frauen lassen nun mal nicht von der Eitelkeit.
Komm! wollen uns draußen im Garten bischen ergehen. -- Eduard! den
Kaffee in die Laube.
Eduard. Sehr wohl.
Hoffmann und Loth ab durch den Wintergarten. Eduard ab durch die
Mittelthür, hierauf Miele, ein Brett voll Geschirr tragend,
ebenfalls ab durch die Mittelthür. Einige Augenblicke bleibt das
Zimmer leer, dann erscheint
Helene (erregt, mit verweinten Augen, das Taschentuch vor den Mund
haltend. Von der Mittelthür, durch welche sie eingetreten ist, macht sie
hastig ein paar Schritte nach links und lauscht an der Thür von
Hoffmann's Zimmer.) Oh! nicht fort! (Da sie hier nichts vernimmt, fliegt
sie zur Thür des Wintergartens hinüber, wo sie ebenfalls mit gespanntem
Ausdruck einige Secunden lauscht. Bittend und mit gefalteten Händen
inbrünstig.) Oh! nicht fort, geh nicht fort!
Der Vorhang fällt.


Zweiter Akt.

Morgens gegen vier Uhr.
Im Wirthshaus sind die Fenster erleuchtet, ein grau-fahler
Morgenschein durch den Thorweg, der sich ganz allmählich im Laufe
des Vorgangs zu einer dunklen Röthe entwickelt, die sich dann,
eben so allmählich, in helles Tageslicht auflöst. Unter dem
Thorweg, auf der Erde sitzt _Beibst_ (etwa 60jährig) und dengelt
seine Sense. Wie der Vorhang aufgeht, sieht man kaum mehr als
seine Silhouette, die gegen den grauen Morgenhimmel absticht,
vernimmt aber das eintönige, ununterbrochene, regelmäßige
Aufschlagen des Dengelhammers auf den Dengelambos. Dieses
Geräusch bleibt während einiger Minuten allein hörbar, hierauf
die feierliche Morgenstille, unterbrochen durch das Geschrei aus
dem Wirthshaus abziehender Gäste. Die Wirthshausthür fliegt
krachend ins Schloß. Die Lichter in den Fenstern verlöschen.
Hundebellen fern, Hähne krähen laut durcheinander. Auf dem Gange
vom Wirthshaus her wird eine dunkle Gestalt bemerklich, dieselbe
bewegt sich in Zickzacklinien dem Hofe zu; es ist der Bauer
Krause, welcher wie immer als letzter Gast das Wirthshaus
verlassen hat.
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