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Unterm Birnbaum - 7

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  Als es dunkel geworden war, kam Ede mit Licht, fand aber die Thür von
  innen verriegelt, und als er nun auf die Straße ging, um wie gewöhnlich
  die Fensterladen von außen zu schließen, sah er, daß Hradscheck, eine
  kleine Lampe mit grünem Klappschirm vor sich, auf dem Sopha saß und den
  Kopf stützte. So verging der Abend. Auch am andern Tage blieb er auf
  seiner Stube, nahm kaum einen Imbiß, las und schrieb, und ließ das
  Geschäft gehn, wie’s gehen wollte.
  »Hür’, Jakob,« sagte Male, »dat’s joa grad’ as ob se nu ihrst dod wihr.
  Süh doch, wie heh doa sitt. He kann doch nu nich wedder anfang’n.«
  »Ne,« sagte Jakob, »dat kann he nich.«
  Und Ede, der hinzukam und heute gerade seinen hochdeutschen Tag hatte,
  stimmte bei, freilich mit der Einschränkung, daß er auch von der
  voraufgegangenen »ersten Trauer« nicht viel wissen wollte.
  »Wieder anfangen! Ja, was heißt wieder anfangen? Damals war es auch man
  so so. Drei Tag’ und nich länger. Und paß auf, Male, diesmal knappst er
  noch was ab.«
  Und wirklich, Ede, der aller Dummheit unerachtet seinen Herrn gut
  kannte, behielt Recht, und ehe noch der dritte Tag um war, ließ
  Hradscheck die Träumerei fallen und nahm das gesellige Leben wieder auf,
  das er schon während der zurückliegenden Wintermonate geführt hatte.
  Dazu gehörte, daß er alle vierzehn Tage nach Frankfurt und alle vier
  Wochen auch mal nach Berlin fuhr, wo er sich, nach Erledigung seiner
  kaufmännischen Geschäfte, kein anderes Vergnügen als einen Theaterabend
  gönnte. Deßhalb stieg er auch regelmäßig in dem an der Ecke von
  Hohen-Steinweg und Königsstraße gelegenen »Gasthofe zum Kronprinzen« ab,
  von dem aus er bis zu dem damals in Blüthe stehenden Königsstädtischen
  Theater nur ein paar hundert Schritte hatte. War er dann wieder in
  Tschechin zurück, so gab er den Freunden und Stammgästen in der
  Weinstube, zu denen jetzt auch Schulze Woytasch gehörte, nicht blos
  Scenen aus dem Angely’schen »Fest der Handwerker« und Holtei’s »Altem
  Feldherrn« und den »Wienern in Berlin« zum Besten, sondern sang ihnen
  auch allerlei Lieder und Arien vor: »War’s vielleicht um eins, war’s
  vielleicht um zwei, war’s vielleicht drei oder vier.« Und dann wieder:
  »In Berlin, sagt er, mußt Du sein, sagt er, immer sein, sagt er etc.«
  Denn er besaß eine gute Tenorstimme. Besonderes Glück aber, weit über
  die Singspiel-Arien hinaus, machte er mit dem Leierkastenlied von »Herrn
  Schmidt und seinen sieben heirathslustigen Töchtern«, dessen erste
  Strophe lautete:
   Herr Schmidt, Herr Schmidt,
   Was kriegt denn Julchen mit?
   »Ein Schleier und ein Federhut,
   Das kleidet Julchen gar zu gut.«
  Dies Lied von Herrn Schmidt und seinen Töchtern war das Entzücken
  Kunicke’s, das verstand sich von selbst, aber auch Schulze Woytasch
  versicherte jedem, der es hören wollte: »Für Hradscheck ist mir nicht
  bange; der kann ja jeden Tag aufs Theater. Ich habe Beckmann gesehn; nu
  ja, Beckmann is gut, aber Hradscheck is besser; er hat noch so was, ja
  wie soll ich sagen, er hat noch so was, was Beckmann nicht hat.«
  Hradscheck gewöhnte sich an solchen Beifall, und wenn es sich auch
  gelegentlich traf, daß er bei seinem Berliner Aufenthalte, während
  dessen er allemal eine goldene Brille trug, keine Novität gesehen hatte,
  so kam er doch nie mit leeren Händen zurück, weil er sich nicht eher
  zufrieden gab, als bis er an den Schaufenstern der Buchläden irgend ’was
  Komisches und unbändig Witziges ausgefunden hatte. Das hielt auch nie
  schwer, denn es war gerade die »Glaßbrenner- oder Brennglas-Zeit«, und
  wenn es solche Glaßbrenner-Geschichten nicht sein konnten, nun, so waren
  es Sammlungen alter und neuer Anekdoten, die damals in kleinen dürftigen
  Viergroschen-Büchelchen unter allerhand Namen und Titeln, so
  beispielsweise als »Brausepulver«, feilgeboten wurden. Ja diese
  Büchelchen fanden bei den Tschechinern einen ganz besondern Beifall,
  weil die darin erzählten Geschichten immer kurz waren und nie lange auf
  die Pointe warten ließen, und wenn das Gespräch mal stockte, so hatte
  Kunicke den Stammwitz: »Hradscheck, ein Brausepulver.«
   * * *
  Es war Anfang Oktober, als Hradscheck wieder mal in Berlin war, diesmal
  auf mehrere Tage, während er sonst immer den dritten Tag schon wieder
  nach Hause kam. Ede, der mittlerweile das Geschäft versah, paßte gut auf
  den Dienst, und nur in der Stunde von 1 bis 2, wo sich kaum ein Mensch
  im Laden sehen ließ, gefiel er sich darin, den Herrn zu spielen und,
  ganz so wie Hradscheck zu thun pflegte, mit auf den Rücken gelegten
  Händen im Garten auf und ab zu gehen. Das that er auch heute wieder,
  zugleich aber rief er nach Jakob und trug ihm auf, und zwar in ziemlich
  befehlshaberischem Tone, daß er einen neuen Reifen um die Wassertonne
  legen solle. Dann sah er nach den Staarkästen am Birnbaum und zog einen
  Zweig zu sich herab, um noch eine der nachgereiften »Franzosenbirnen«
  zu pflücken. Es war ein Prachtexemplar, in das er sofort einbiß. Als er
  aber den Zweig wieder los ließ, sah er, daß die Jeschke drüben am Zaune
  stand.
  »Dag, Ede.«
  »Dag, Mutter Jeschke.«
  »Na, schmeckt et?«
  »I worümm nich? Is joa ’ne Malvasier.«
  »Joa. Vördem wihr et ’ne Malvesier. Awers nu ...«
  »Nu is et ’ne ›Franzosenbeer‹. Ick weet woll. Awers dat’s joa all een.«
  »Joa, wer weet, Ede. Doa is nu so wat mang. Heste noch nix maarkt?«
  Der Junge ließ erschreckt die Birne fallen, das alte Weib aber bückte
  sich danach und sagte: »Ick meen’ joa nich de Beer’. Ick meen sünnsten.«
  »Wat denn? Wo denn?«
  »Na, so ’rümm um’t Huus.«
  »Nei, Mutter Jeschke.«
  »Un ook nich unnen in’n Keller? Hest’ noch nix siehn o’r hürt?«
  »Nei, Mutter Jeschke. Man blot ...«
  »Un grappscht ook nich?«
  Der Junge war ganz blaß geworden.
  »Joa, Mutter Jeschke, mal wihr mi so. Mal wihr mi so, as hüll mi wat an
  de Hacken. Joa, ick glöw, et grappscht.«
  Die Jeschke sah ihren Zweck erreicht und lenkte deßhalb geschickt wieder
  ein. »Ede, Du bist ne Bangbüchs. Ick hebb’ joa man spoaßt. Is joa man
  all dumm Tüg.«
  Und damit ging sie wieder auf ihr Haus zu und ließ den Jungen stehn.
   * * *
  Drei Tage danach war Hradscheck wieder aus Berlin zurück, in
  vergnüglicherer Stimmung als seit lange, denn er hatte nicht nur alles
  Geschäftliche glücklich erledigt, sondern auch die Bekanntschaft einer
  jungen Dame gemacht, die sich seiner Person wie seinen Heirathsplänen
  geneigt gezeigt hatte. Diese junge Dame war die Tochter aus einem
  Destillationsgeschäft, groß und stark, mit etwas hervortretenden, immer
  lachenden Augen, eine Vollblut-Berlinerin. »Forsch und fidel« war ihre
  Losung, der auch ihre Lieblingsredensart: »Ach, das ist ja zum
  Todtlachen« entsprach. Aber dies war nur so für alle Tage. Wurd’ ihr
  dann wohliger ums Herz, so wurden es auch ihre Redewendungen, und sie
  sagte dann: »I da muß ja ’ne alte Wand wackeln«, oder »Das ist ja
  gleich, um einen Puckel zu kriegen.« Ihr Schönstes waren Landpartieen
  einschließlich gesellschaftlicher Spiele wie Zeck oder Plumpsack, dazu
  saure Milch mit Schwarzbrot und Heimfahrt mit Stocklaternen und Gesang:
  »Ein freies Leben führen wir«, »Frisch auf, Kameraden«, »Lützow’s wilde
  verwegene Jagd« und »Steh’ ich in finstrer Mitternacht«. In Folge
  welcher ausgesprochenen Vorliebe sie sich in den Kopf gesetzt hatte, nur
  aufs Land hinaus heirathen zu wollen. Und darüber war sie 30 Jahr alt
  geworden, alles blos aus Eigensinn und Widerspenstigkeit. Ihren Namen
  »Editha« aber hatte die Mutter in Dittchen abgekürzt.
  So die Bekanntschaft, die Hradscheck während seines letzten Berliner
  Aufenthaltes gemacht hatte. Mit Editha selbst war er so gut wie einig
  und nur die Eltern hatten noch kleine Bedenken. Aber was bedeutete das?
  Der Vater war ohnehin daran gewöhnt nicht gefragt zu werden, und die
  Mutter, die nur wegen der neun Meilen Entfernung noch einigermaßen
  schwankte, wäre keine richtige Mutter gewesen, wenn sie nicht
  schließlich auch hätte Schwiegermutter sein wollen.
  Also Hradscheck war in bester Stimmung, und ein Ausdruck derselben war
  es, daß er diesmal mit einem besonders großen Vorrath von Berliner
  Witzlitteratur nach Tschechin zurückkehrte, darunter eine komische
  Romanze, die letzten Sonntag erst vom Hofschauspieler Rüthling im
  Koncertsaale des königlichen Schauspielhauses vorgetragen worden war und
  zwar in einer Matinée, der, neben der ganzen #haute volée# von Berlin,
  auch Hradscheck und Editha beigewohnt hatten. Diese Romanze behandelte
  die berühmte Geschichte vom Eckensteher, der einen armen
  Apothekerlehrling, »weil das Räucherkerzchen partout nicht stehn wolle«,
  Schlag Mitternacht aus dem Schlaf klingelte, welche Geschichte damals
  nicht blos die ganze vornehme Welt, sondern besonders auch unsern auf
  alle Berliner Witze ganz wie versessenen Hradscheck derart hingenommen
  hatte, daß er die Zeit, sie seinem Tschechiner Convivium vorzulesen,
  kaum erwarten konnte. Nun aber war es so weit, und er feierte Triumphe,
  die fast noch größer waren, als er zu hoffen gewagt hatte. Kunicke
  brüllte vor Lachen und bot den dreifachen Preis, wenn ihm Hradscheck das
  Büchelchen ablassen wolle. »Das müss’ er seiner Frau vorlesen, wenn er
  nach Hause komme, diese Nacht noch; so was sei noch gar nicht
  dagewesen.« Und dann sagte Schulze Woytasch: »Ja, die Berliner! Ich weiß
  nicht! Und wenn mir einer tausend Thaler gäbe, so was könnt’ ich nich
  machen. Es sind doch verflixte Kerls.«
  Die »Romanze vom Eckensteher« indeß, so glänzend ihr Vortrag abgelaufen
  war, war doch nur Vorspiel und Plänkelei gewesen, darin Hradscheck sein
  bestes Pulver noch nicht verschossen hatte. Sein Bestes, oder doch das,
  was er persönlich dafür hielt, kam erst nach und war die Geschichte von
  einem der politischen Polizei zugetheilten Gensdarmen, der einen unter
  Verdacht des Hochverraths stehenden und in der Kurstraße wohnenden
  badischen Studenten Namens Haitzinger ausfindig machen sollte, was ihm
  auch gelang und einige Zeit danach zu der amtlichen Meldung führte, daß
  er den pp. Haitzinger, der übrigens Blümchen heiße, gefunden habe,
  trotzdem derselbe nicht in der Kurstraße, sondern auf dem Spittelmarkt
  wohnhaft und nicht badischer Student, sondern ein sächsischer Leineweber
  sei. »Und nun, Ihr Herren und Freunde,« schloß Hradscheck seine
  Geschichte, »dieser ausbündig gescheite Gensdarm, wie hieß er? Natürlich
  Geelhaar, nicht wahr? Aber nein, Ihr Herren, fehlgeschossen, er hieß
  bloß Müller II. Ich habe mich genau danach erkundigt, sonst hätt’ ich
  bis an mein Lebensende geschworen, daß er Geelhaar geheißen haben
  müsse.«
  Kunicke schüttelte sich und wollte von keinem andern Namen als Geelhaar
  wissen, und als man sich endlich ausgetobt und ausgejubelt hatte (nur
  Woytasch, als Dorfobrigkeit, sah etwas mißbilligend drein), sagte Quaas:
  »Kinder, so was haben wir nicht alle Tage, denn Hradscheck kommt nicht
  alle Tage von Berlin. Ich denke deßhalb, wir machen noch eine Bowle:
  drei Mosel, eine Rheinwein, eine Burgunder. Und nicht zu süß. Sonst
  haben wir morgen Kopfweh. Es ist erst halb zwölf, fehlen noch fünf
  Minuten. Und wenn wir uns ’ran halten, machen wir um Mitternacht die
  Nagelprobe.«
  »Bravo!« stimmte man ein. »Aber nicht zu früh; Mitternacht ist zu früh.«
  Und Hradscheck erhob sich, um Ede, der verschlafen im Laden auf einem
  vorgezogenen Zuckerkasten saß, in den Keller zu schicken und die fünf
  Flaschen heraufholen zu lassen. »Und paß auf, Ede; der Burgunder liegt
  durcheinander, rother und weißer, der mit dem grünen Lack ist es.«
  Ede rieb sich den Schlaf aus den Augen, nahm Licht und Korb und hob die
  Fallthür auf, die zwischen den übereinander gepackten Ölfässern, und
  zwar an der einzig frei gebliebenen Stelle, vom Flur her in den Keller
  führte.
  Nach ein paar Minuten war er wieder oben und klopfte vom Laden her an
  die Thür, zum Zeichen, daß alles da sei.
  »Gleich,« rief der wie gewöhnlich mitten in einem Vortrage steckende
  Hradscheck, »gleich«, und trat erst, als er seinen Satz beendet hatte,
  von der Weinstube her in den Laden. Hier schob er sich eine schon vorher
  aus der Küche heranbeorderte Terrine bequem zurecht und griff nach dem
  Korkzieher, um die Flaschen aufzuziehn. Als er aber den Burgunder in die
  Hand nahm, gab er dem Jungen, halb ärgerlich halb gutmüthig, einen Tipp
  auf die Schulter und sagte: »Bist ein Döskopp, Ede. Mit grünem Lack,
  hab’ ich Dir gesagt. Und das ist gelber. Geh und hol’ ’ne richtige
  Flasche. Wer’s nich im Kopp hat, muß es in den Beinen haben.«
  Ede rührte sich nicht.
  »Nun, Junge, wird es? Mach flink.«
  »Ick geih nich.«
  »Du gehst nich? warum nich?«
  »Et spökt.«
  »Wo?«
  »Unnen ... Unnen in’n Keller.«
  »Junge, bist Du verrückt? Ich glaube, Dir steckt schon der
  Mitternachtsgrusel im Leibe. Rufe Jakob. Oder nein, der is schon zu
  Bett; rufe Male, _die_ soll kommen und Dich beschämen. Aber laß nur.«
  Und dabei ging er selber bis an die Küchenthür und rief hinaus: »Male«.
  Die Gerufene kam.
  »Geh in den Keller, Male.«
  »Nei, Herr Hradscheck, ick geih nich.«
  »Auch _Du_ nich. Warum nich?«
  »Et spökt.«
  »Ins Dreideibels Namen, was soll der Unsinn?«
  Und er versuchte zu lachen. Aber er hielt sich dabei nur mit Müh’ auf
  den Beinen, denn ihn schwindelte. Zu gleicher Zeit empfand er deutlich,
  daß er kein Zeichen von Schwäche geben dürfe, vielmehr umgekehrt bemüht
  sein müsse, die Weigerung der Beiden ins Komische zu ziehn, und so riß
  er denn die Thür zur Weinstube weit auf und rief hinein: »Eine
  Neuigkeit, Kunicke ...«
  »Nu, was giebt’s?«
  »Unten spukt es. Ede will nicht mehr in den Keller und Male natürlich
  auch nicht. Es sieht schlecht aus mit unsrer Bowle. Wer kommt mit? Wenn
  zwei kommen, spukt es nicht mehr.«
  »Wir alle,« schrie Kunicke. »Wir alle. Das giebt einen Hauptspaß. Aber
  Ede muß auch mit.«
  Und bei diesen Worten eines der zur Hand stehenden Lichter nehmend,
  zogen sie – mit Ausnahme von Woytasch, dem das Ganze mißhagte –
  brabbelnd und plärrend und in einer Art Procession, als ob einer
  begraben würde, von der Weinstube her durch Laden und Flur, und stiegen
  langsam und immer einer nach dem andern die Stufen der Kellertreppe
  hinunter.
  »Alle Wetter, is _das_ ein Loch!« sagte Quaas, als er sich unten
  umkuckte. »Hier kann einem ja gruslig werden. Nimm nur gleich ein paar
  mehr mit, Hradscheck. Das hilft. Je mehr Fidelité, je weniger Spuk.«
  Und bei solchem Gespräch, in das Hradscheck einstimmte, packten sie den
  Korb voll und stiegen die Kellertreppe wieder hinauf. Oben aber warf
  Kunicke, der schon stark angeheitert war, die schwere Fallthür zu, daß
  es durch das ganze Haus hin dröhnte.
  »So, nu sitzt er drin.«
  »Wer?«
  »Na wer? Der Spuk.«
  Alles lachte; das Trinken ging weiter, und Mitternacht war lange
  vorüber, als man sich trennte.
  
  
   XVIII.
  
  Hradscheck, sonst mäßig, hatte mit den andern um die Wette getrunken,
  blos um eine ruhige Nacht zu haben. Das war ihm auch geglückt, und er
  schlief nicht nur fest, sondern auch weit über seine gewöhnliche Stunde
  hinaus. Erst um acht Uhr war er auf. Male brachte den Kaffee, die Sonne
  schien ins Zimmer, und die Sperlinge, die das aus den Häckselsäcken
  gefallene Futterkorn aufpickten, flogen, als sie damit fertig waren,
  aufs Fensterbrett und meldeten sich. Ihre Zwitschertöne hatten etwas
  Heitres und Zutrauliches, das dem Hausherrn, der ihnen reichlich
  Semmelkrume zuwarf, unendlich wohl that, ja, fast war’s ihm, als ob er
  ihren Morgengruß verstände: »Schöner Tag heute, Herr Hradscheck; frische
  Luft; alles leicht nehmen!«
  Er beendete sein Frühstück und ging in den Garten. Zwischen den
  Buchsbaum-Rabatten stand viel Rittersporn, halb noch in Blüthe, halb
  schon in Samenkapseln, und er brach eine der Kapseln ab und streute die
  schwarzen Körnchen in seine Handfläche. Dabei fiel ihm, wie von
  ungefähr, ein, was ihm Mutter Jeschke vor Jahr und Tag einmal über
  Farrnkrautsamen und Sich-unsichtbar-machen gesagt hatte.
  »Farrnkrautsamen in die Schuh gestreut ...« Aber er mocht’ es nicht
  ausdenken und sagte, während er sich auf eine neuerdings um den Birnbaum
  herum angebrachte Bank setzte: »Farrnkrautsamen! Nun fehlt blos noch das
  Licht vom ungebornen Lamm. Alles Altweiberschwatz. Und wahrhaftig, ich
  werde noch selber ein altes Weib ... Aber da kommt sie ...«
  Wirklich, als er so vor sich hinredete, kam die Jeschke zwischen den
  Spargelbeeten auf ihn zu.
  »Dag, Hradscheck. Wie geiht et? Se kümmen joa goar nich mihr.«
  »Ja, Mutter Jeschke, wo soll die Zeit herkommen? Man hat eben zu thun.
  Und der Ede wird immer dummer. Aber setzen Sie sich. Hierher. Hier ist
  Sonne.«
  »Nei, loatens man, Hradscheck, loatens man. Ick sitt schon so veel.
  Awers Se möten sitten bliewen.« Und dabei malte sie mit ihrem Stock
  allerlei Figuren in den Sand.
  Hradscheck sah ihr zu, ohne seinerseits das Wort zu nehmen, und so fuhr
  sie nach einer Pause fort: »Joa, veel to dohn is woll. Wihr joa gistern
  wedder Klock een. Kunicke kunn woll wedder nich los koamen? _Den_ kenn’
  ick. Na, sien Vader, de oll Kunicke, wihr ook so. Man blot noch en beten
  mihr.«
  »Ja,« lachte Hradscheck, »spät war es. Un denken Sie sich, Mutter
  Jeschke, Klock zwölf oder so herum sind wir noch fünf Mann hoch in den
  Keller gestiegen. Und warum? Weil der Ede nicht mehr wollte.«
  »Nu, süh eens. Un worümm wull he nich?«
  »Weil’s unten spuke. Der Junge war wie verdreht mit seinem ewigen ›et
  spökt‹ und ›et grappscht‹. Und weil er dabei blieb und wir unsre Bowle
  doch haben wollten, so sind wir am Ende selber gegangen.«
  »Nu, süh eens,« wiederholte die Alte. »Hätten em salln ’ne Muulschell
  gewen.«
  »Wollt’ ich auch. Aber als er so dastand und zitterte, da konnt’ ich
  nicht. Und dann dacht’ ich auch ...«
  »Ach wat, Hradscheck, is joa all dumm Tüg ... _Un wenn_ et wat is, na,
  denn möt’ et de Franzos sinn.«
  »Der Franzose?«
  »Joa, de Franzos. Kuckens moal; de Ihrd geiht hier so’n beten dahl. He
  moak woll en beten rutscht sinn.«
  »Rutscht sinn«, wiederholte Hradscheck und lachte mit der Alten um die
  Wette. »Ja, der Franzos ist gerutscht. Alles gut. Aber wenn ich nur den
  Jungen erst wieder in Ordnung hätte. Der macht mir das ganze Dorf
  rebellisch. Und wie die Leute sind, wenn sie von Spuk hören, da wird
  ihnen ungemüthlich. Und dann kommt zuletzt auch die dumme Geschichte
  wieder zur Sprache. Sie wissen ja ...«
  »Woll, woll, ick weet.«
  »Und dann, Mutter Jeschke, Spuk ist Unsinn. Natürlich. Aber es giebt
  doch welche ...«
  »Joa, joa.«
  »Es giebt doch welche, die sagen: Spuk ist _nicht_ Unsinn. Wer hat nu
  Recht? Nu mal heraus mit der Sprache.«
  Der Alten entging nicht, in welcher Pein und Beklemmung Hradscheck war,
  weshalb sie, wie sie stets zu thun pflegte, mit einem »ja« antwortete,
  das ebenso gut ein »nein«, und mit einem »nein«, das ebenso gut ein »ja«
  sein konnte.
  »Mien leew Hradscheck,« begann sie, »Se wullen wat weten von mi. Joa,
  wat weet ick? Spök! Gewen moak et joa woll so wat. Un am Enn’ ook wedder
  nich. Un ick segg’ ümmer: wihr sich jrult, för den is et wat, und wihr
  sich _nich_ jrult, för den is et nix.«
  Hradscheck, der mit gespanntester Aufmerksamkeit gefolgt war, nickte
  zustimmend, während die sich plötzlich neben ihn setzende Alte mit
  wachsender Vertraulichkeit fortfuhr: »Ick will Se wat seggen,
  Hradscheck. Man möt man blot Kurasch hebben. Un Se hebben joa. Wat is
  Spök? Spök, dat’s grad so, as wenn de Müüs’ knabbern. Wihr ümmer
  hinhürt, na, de slöppt nich; wihr awers so bi sich seggen deiht: ›na,
  worümm salln se nich knabbern‹, de slöppt.«
  Und bei diesen Worten erhob sie sich rasch wieder und ging, zwischen den
  Beeten hin, auf ihre Wohnung zu. Mit einem Mal aber blieb sie stehn und
  wandte sich wieder, wie wenn sie ’was vergessen habe. »Hürens,
  Hradscheck, wat ick Se noch seggen wull, uns’ Line kümmt ook wedder. Se
  hett gistern schrewen. Wat mienens? _De_ wihr so wat för Se.«
  »Geht nicht, Mutter Jeschke. Was würden die Leute sagen? Un is auch eben
  erst ein Jahr.«
  »Woll. Awers se kümmt ook ihrst um Martini ’rümm ... Und denn,
  Hradscheck, Se bruken se joa nich glieks to frijen.«
  
  
   XIX.
  
  »De Franzos is rutscht,« hatte die Jeschke gesagt und war dabei wieder
  so sonderbar vertraulich gewesen, alles mit Absicht und Berechnung. Denn
  wenn das Gespräch auch noch nachwirkte, darin ihr, vor länger als einem
  Jahr, ihr sonst so gefügiger Nachbar mit einer Verläumdungsklage gedroht
  hatte, so konnte sie, trotz alledem, von der Angewohnheit nicht lassen,
  in dunklen Andeutungen zu sprechen, als wisse sie was und halte nur
  zurück.
  »Verdammt!« murmelte Hradscheck vor sich hin. »Und dazu der Ede mit
  seiner ewigen Angst.«
  Er sah deutlich die ganze Geschichte wieder lebendig werden, und ein
  Schwindel ergriff ihn, wenn er an all das dachte, was bei diesem Stande
  der Dinge jeder Tag bringen konnte.
  »Das geht so nicht weiter. Er muß weg. Aber wohin?«
  Und bei diesen Worten ging Hradscheck auf und ab und überlegte.
  »Wohin? Es heißt, er liege in der Oder. Und dahin muß er ... je eher je
  lieber ... _Heute_ noch. Aber ich wollte, dies Stück Arbeit wäre
  gethan. Damals ging es, das Messer saß mir an der Kehle. Aber jetzt!
  Wahrhaftig, das Einbetten war nicht so schlimm, als es das Umbetten
  ist.«
  Und von Angst und Unruhe getrieben, ging er auf den Kirchhof und trat an
  das Grab seiner Frau. Da war der Engel mit der Fackel und er las die
  Inschrift. Aber seine Gedanken konnten von dem, was er vorhatte, nicht
  los, und als er wieder zurück war, stand es fest: »Ja, _heute_ noch ...
  Was du thun willst, thue bald.«
  Und dabei sann er nach, _wie’s_ geschehn müsse.
  »Wenn ich nur etwas Farrnkraut hätt’. Aber wo giebt es Farrnkraut hier?
  Hier wächst ja blos Gras und Gerste, weiter nichts, und ich kann doch
  nicht zehn Meilen in der Welt herumkutschiren, blos um mit einem großen
  Busch Farrnkraut wieder nach Hause zu kommen. Und warum auch? Unsinn ist
  es doch.«
  Er sprach noch so weiter. Endlich aber entsann er sich, in dem
  benachbarten Gusower Park einen ganzen Wald von Farrnkraut gesehn zu
  haben. Und so rief er denn in den Hof hinaus und ließ anspannen.
  Um Mittag kam er zurück, und vor ihm, auf dem Rücksitze des Wagens, lag
  ein riesiger Farrnkrautbusch. Er kratzte die Samenkörnchen ab und that
  sie sorglich in eine Papierkapsel und die Kapsel in ein Schubfach. Dann
  ging er noch einmal alles durch, was er brauchte, trug das Grabscheit,
  das für gewöhnlich neben der Gartenthür stand, in den Keller hinunter
  und war wie verwandelt, als er mit diesen Vorbereitungen fertig war.
  Er pfiff und trällerte vor sich hin und ging in den Laden.
  »Ede, Du kannst heute Nachmittag ausgehn. In Gusow ist Jahrmarkt mit
  Karoussel und sind auch Kunstreiter da, das heißt Seiltänzer. Ich hab’
  heute Vormittag das Seil spannen sehn. Und vor acht brauchst Du nicht
  wieder hier zu sein. Da nimm, das ist für Dich, und nun amüsire Dich
  gut. Und is auch ’ne Waffelbude da, mit Eierbier und Punsch. Aber hübsch
  mäßig, nich zu viel; hörst Du, keine Dummheiten machen.«
  Ede strahlte vor Glück, machte sich auf den Weg und war Punkt acht
  wieder da. Zugleich mit ihm kamen die Stammgäste, die, wie gewöhnlich,
  ihren Platz in der Weinstube nahmen. Einige hatten schon erfahren, daß
  Hradscheck am Vormittag in Gusow gewesen und mit einem großen Busch
  Farrnkraut zurückgekommen sei.
  »Was Du nur mit dem Farrnkraut willst?« fragte Kunicke.
  »Anpflanzen.«
  »Das wuchert ja. Wenn das drei Jahr in Deinem Garten steht, weißt Du vor
  Unkraut nicht mehr, wo du hin sollst.«
  »Das soll es auch. Ich will einen hohen Zaun davon ziehn. Und je rascher
  es wächst, desto besser.«
  »Na, sieh Dich vor damit. Das ist wie die Wasserpest; wo sich das mal
  eingenistet hat, ist kein Auskommen mehr. Und vertreibt Dich am Ende von
  Haus und Hof.«
  Alles lachte, bis man zuletzt auf die Kunstreiter zu sprechen kam und an
  Hradscheck die Frage richtete, was er denn eigentlich von ihnen gesehen
  habe?
  »Blos das Seil. Aber Ede, der heute Nachmittag da war, der wird wohl
  Augen gemacht haben.«
  Und nun erzählte Hradscheck des Breiteren, daß _der_, dem die Truppe
  jetzt gehöre, des alten Kolter Schwiegersohn sei, ja, die Frau desselben
  nenne sich noch immer nach dem Vater und habe den Namen ihres Mannes gar
  nicht angenommen.
  Er sagte das alles so hin, wie wenn er die Kolters ganz genau kenne, was
  den Ölmüller zu verschiedenen Fragen über die berühmte Seiltänzerfamilie
  veranlaßte. Denn Springer und Kunstreiter waren Quaasens unentwegte
  Passion, seit er als zwanzigjähriger Junge mal auf dem Punkte gestanden
  hatte, mit einer Kunstreiterin auf und davon zu gehn. Seine Mutter
  jedoch hatte Wind davon gekriegt und ihn nicht blos in den Milchkeller
  gesperrt, sondern auch den Direktor der Truppe gegen ein erhebliches
  Geldgeschenk veranlaßt, die »gefährliche Person« bis nach Reppen hin
  vorauszuschicken. All das, wie sich denken läßt, gab auch heute wieder
  Veranlassung zu vielfachen Neckereien und um so mehr, als Quaas ohnehin
  des Vorzugs genoß, Stichblatt der Tafelrunde zu sein.
  »Aber was is das mit Kolter?« fragte Kunicke. »Du wolltest von ihm
  erzählen, Hradscheck. Is es ein Reiter oder ein Springer?«
  »Blos ein Springer. Aber was für einer!«
  Und nun fing Hradscheck an, eine seiner Hauptgeschichten zum Besten zu
  geben, die vom alten Kolter nämlich, der Anno 14 schon sehr berühmt und
  mit in Wien auf dem Kongreß gewesen sei.
  »Was, was? Mit auf dem Kongreß?«
  »Versteht sich. Und warum nicht?«
  »Auf dem Kongreß also.«
  Und da habe denn, so fuhr Hradscheck fort, der König von Preußen zum
  Kaiser von Rußland gesagt: »Höre, Bruderherz, was Du von Deinem
  Stiglischeck auch sagen magst, Kolter ist doch besser, Parole d’honneur,
  Kolter ist der erste Springer der Welt, und was ihm auch passiren mag,
  er wird sich immer zu helfen wissen.« Und als nun der Kaiser von Rußland
  das bestritten, da hätten sie gewettet, und wäre blos _die_ Bedingung
  gewesen, daß nichts vorher gesagt werden solle. Das hätten sie denn auch
  gehalten. Und als nun Kolter halb schon das zwischen zwei Thürmen
  ausgespannte Seil hinter sich gehabt habe, da sei mit einem Male, von
  der andern Seite her, ein andrer Seiltänzer auf ihn losgekommen, das sei
  Stiglischeck gewesen, und keine Minute mehr, da hätten sie sich
  gegenüber gestanden und der Russe, was ihm auch keiner verdenken könne,
  habe blos gesagt: »Alles #perdu#, Bruder: _Du_ verloren, ich verloren.«
  Aber Kolter habe nur gelacht und ihm was ins Ohr geflüstert, einige
  sagen einen frommen Spruch, andre aber sagen das Gegentheil, und sei
  dann mit großer Anstrengung und Geschicklichkeit zehn Schritte rückwärts
  gegangen, während der andre sich niedergehuckt habe. Und nun habe Kolter
  einen Anlauf genommen und sei mit eins, zwei, drei über den andern
  weggesprungen. Da sei denn ein furchtbares Beifallklatschen gewesen und
  einige hätten laut geweint und immer wieder und wieder gesagt, »das sei
  mehr als Napoleon«. Und der Kaiser von Rußland habe seine Wette
  verloren und auch wirklich bezahlt.
  »Wird er wohl, wird er wohl,« sagte Kunicke. »Der Russe bezahlt immer.
  Hat’s ja ... Bravo, Hradscheck; bravo!«
  So war Hradscheck mit Beifall belohnt worden und hatte von Viertelstunde
  zu Viertelstunde noch vieles Andre zum Besten gegeben, bis endlich um
  elf die Stammgäste das Haus verließen.
   * * *
  Ede war schon zu Bett geschickt und in dem weiten Hause herrschte
  Todesstille. Hradscheck schritt auf und ab in seiner Stube, mußte sich
  aber setzen, denn der Aufregungen dieses Tages waren so viele gewesen,
  daß er sich, trotz fester Nerven, einer Ohnmacht nahe fühlte. So lang er
  drüben Geschichten erzählt hatte, munterer und heiterer, so wenigstens
  schien es, als je zuvor, war kein Tropfen Wein über seine Lippen
  gekommen, jetzt aber nahm er Kognak und Wasser und fühlte, wie Kraft und
  Entschlossenheit ihm rasch wiederkehrten. Er ging auf das Schubfach zu,
  
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