Unterm Birnbaum - 6

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Neu-Lewiner Straße gelegene Stück Ackerland gab in diesem Sommer einen
besonders guten Ertrag. Dasselbe galt auch von dem Garten hinterm Haus;
alles gedieh darin, der Spargel prachtvoll, dicke Stangen mit gelbweißen
Köpfen, und die Pastinak- und Dill-Beete standen hoch in Dolden. Am
meisten aber that der alte Birnbaum, der sich mehr als seit Jahren
anstrengte. »Dat ’s de Franzos«, sagten die Knechte Sonntags im Krug,
»de deiht wat för em,« und als die Pflückenszeit gekommen, rief Kunicke,
der sich gerade zum Kegeln eingefunden hatte: »Hör’, Hradscheck, Du
könntest uns mal ein paar von Deinen _Franzosen_birnen bringen.«
Franzosenbirnen! Das Wort wurde sehr bewundert, lief rasch von Mund zu
Mund, und ehe drei Tage vergangen waren, sprach kein Mensch mehr von
Hradscheck’s »Malvasieren«, sondern blos noch von den »Franzosenbirnen«.
Hradscheck selbst aber freute sich des Wortes, weil er daran erkannte,
daß man, trotz aller Stichelreden der alten Jeschke, mehr und mehr
anfing, die Vorkommnisse des letzten Winters von der scherzhaften Seite
zu nehmen.
Ja, die Sommer- und Baumonate brachten lichtvolle Tage für Hradscheck,
und sie hätten noch mehr Licht und noch weniger Schatten gehabt, wenn
nicht Ursel gewesen wäre. Die füllte, während alles andre glatt und gut
ging, seine Seele mit Mitleid und Sorge, mit Mitleid, weil er sie liebte
(wenigstens auf seine Weise), mit Sorge, weil sie dann und wann ganz
wunderliche Dinge redete. Zum Glück hatte sie nicht das Bedürfniß Umgang
zu pflegen und Menschen zu sehn, lebte vielmehr eingezogener denn je,
und begnügte sich damit, Sonntags in die Kirche zu gehn. Ihre sonst
tiefliegenden Augen sprangen dann aus dem Kopf, so begierig folgte sie
jedem Wort, das von der Kanzel her laut wurde, _das_ Wort aber, auf das
sie wartete, das kam nicht. In ihrer Sehnsucht ging sie dann, nach der
Predigt, zu dem guten, ihr immer gleichmäßig geneigt bleibenden Eccelius
hinüber, um, so weit es ging, Herz und Seele vor ihm auszuschütten und
etwas von Befreiung oder Erlösung zu hören; aber Seelsorge war nicht
seine starke Seite, noch weniger seine Passion, und wenn sie sich der
Sünde geziehn und in Selbstanklagen erschöpft hatte, nahm er lächelnd
ihre Hand und sagte: »Liebe Frau Hradscheck, wir sind allzumal Sünder
und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen. Sie haben eine
Neigung sich zu peinigen, was ich mißbillige. Sich ewig anklagen ist
oft Dünkel und Eitelkeit. Wir haben Christum und seinen Wandel als
Vorbild, dem wir im Gefühl unsrer Schwäche demüthig nachstreben sollen.
Aber wahren wir uns vor Selbstgerechtigkeit, vor allem vor _der_, die
sich in Zerknirschung äußert. _Das_ ist die Hauptsache.« Wenn er das
trocken-geschäftsmäßig, ohne Pathos und selbst ohne jede Spur von
Salbung gesagt hatte, ließ er die Sache sofort wieder fallen und fragte,
zu natürlicheren und ihm wichtiger dünkenden Dingen übergehend, »wie
weit der Bau sei?« Denn er wollte nächstes Frühjahr _auch_ bauen. Und
wenn dann die Hradscheck, um ihm zu Willen zu sein, von allen möglichen
Kleinigkeiten, am liebsten und eingehendsten aber von den
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrem Mann und Zimmermeister
Buggenhagen geplaudert hatte, rieb er sich schmunzelnd und vor sich
hinnickend die Hand und sagte rasch und in augenscheinlicher Furcht, das
Seelengespräch wieder aufgenommen zu sehn: »Und nun, liebe Frau
Hradscheck, muß ich Ihnen meine Nelken zeigen.«
* * *
Um Johanni wußte ganz Tschechin, daß die Hradscheck es nicht lange mehr
machen werde. Keinem entging es. Nur sie selber sah es so schlimm nicht
an und wollte von keinem Doktor hören. »Sie wissen ja doch nichts. Und
dann der Wagen und das viele Geld.« Auf das Letztere, das »viele Geld«,
kam sie jetzt überhaupt mit Vorliebe zu sprechen, fand alles unnöthig
oder zu theuer, und während sie noch das Jahr vorher für ein
Polysander-Fortepiano gewesen war, um es, wenn nicht der Amtsräthin in
Friedrichsau, so doch wenigstens der Domänenpächterin auf Schloß
Solikant gleich zu thun, so war sie jetzt sparsam bis zum Geiz.
Hradscheck ließ sie gewähren, und nur einmal, als sie gerade beim
Schotenpalen war, nahm er sich ein Herz und sagte: »Was ist das nur
jetzt, Ursel? Du ringst Dir ja jeden Dreier von der Seele.« Sie schwieg,
drehte die Schüssel hin und her und palte weiter. Als er aber stehen
blieb und auf Antwort zu warten schien, sagte sie, während sie die
Schüssel rasch und heftig bei Seite setzte: »Soll es alles umsonst
gewesen sein? Oder willst Du ...« Weiter kam sie nicht. Ein Herzkrampf,
daran sie jetzt häufiger litt, überfiel sie wieder, und Hradscheck
sprang zu, um ihr zu helfen.
Ihre Wirthschaft besorgte sie pünktlich und alles ging am Schnürchen,
wie vordem. Aber Interesse hatte sie nur für eins, und das Eine war der
Bau. Sie wollt’ ihn, darin Hradscheck’s Eifer noch übertreffend, in
möglichster Schnelle beendet sehn, und so sparsam sie sonst geworden
war, so war sie doch gegen keine Mehrausgabe, die Beschleunigung und
rascheres Zustandekommen versprach. Einmal sagte sie: »Wenn ich nur erst
oben bin. Oben werd’ ich auch wieder Schlaf haben. Und wenn ich erst
wieder schlafe, werd’ ich auch wieder gesund werden.« Er wollte sie
beruhigen und strich ihr mit der Hand über Stirn und Haar. Aber sie wich
seiner Zärtlichkeit aus und kam in ein heftiges Zittern. Überhaupt war
es jetzt öfter so, wie wenn sie sich vor ihm fürchte. ’mal sagte sie
leise: »Wenn er nur nicht so glatt und glau wär’. Er ist so munter und
spricht so viel und kann alles. Ihn ficht nichts an ... Und die drüben
in Neu-Lewin war auch mit einem Male weg.« Solche Stimmungen kamen ihr
von Zeit zu Zeit, aber sie waren flüchtig und vergingen wieder.
* * *
Und nun waren die letzten Augusttage.
»Morgen, Ursel, ist alles fertig.«
Und wirklich, als der andre Tag da war, bot ihr Hradscheck mit einer
gewissen freundlichen Feierlichkeit den Arm, um sie treppauf in eine der
neuen Stuben zu führen. Es war die, die nach der Kegelbahn hinauslag,
jetzt die hübscheste, hellblau tapezirt und an der Decke gemalt: ein
Kranz von Blüthen und Früchten, um den Tauben flogen und pickten. Auch
das Bett war schon heraufgeschafft und stand an der Mittelwand, genau
da, wo früher die Bettwand der alten Giebel- und Logirstube gewesen war.
Hradscheck erwartete Dank und gute Worte zu hören. Aber die Kranke sagte
nur: »_Hier_? Hier, Abel?«
»Es sind neue Steine,« stotterte Hradscheck.
Ursel indeß war schon von der Thürschwelle wieder zurückgetreten und
ging den Gang entlang, nach der andern Giebelseite hinüber, wo sich ein
gleich großes, auf den Hof hinaussehendes Zimmer befand. Sie trat an das
Fenster und öffnete; Küchenrauch, mehr anheimelnd als störend, kam ihr
von der Seite her entgegen und eine Henne mit ihren Küchelchen zog unten
vorüber; Jakob aber, der holzsägend in Front einer offnen Remise stand,
neckte sich mit Male, die beim Brunnen Wäsche spülte.
»_Hier_ will ich bleiben.«
Und Hradscheck, der durch den Auftritt mehr erschüttert als verdrossen war,
war einverstanden und ließ alles, was sich von Einrichtungsgegenständen
in der hellblau tapezirten und für Ursel bestimmten Stube befand, nach
der andern Seite hinüberbringen.
* * *
Und siehe da, Frau Hradscheck erholte sich wirklich und sogar rascher,
als sie selbst zu hoffen gewagt hatte. Schlaf kam, der scharfe Zug um
ihren Mund wich, und als die schon erwähnten Manövertage mit ihrer
Dragoner-Einquartierung kamen, hatte sich ihr Aussehn und ihre Stimmung
derart verbessert, daß sie gelegentlich die Wirthin machen und mit den
Offizieren plaudern konnte. Das Hagere, Hektische gab ihr, bei der guten
Toilette, die sie zu machen verstand, etwas Distinguirtes, und ein alter
Eskadronchef, der sie mit erstaunlicher Ritterlichkeit umcourte, sagte,
wenn er ihr beim Frühstück nachsah und mit beiden Händen den langen
blonden Schnurrbart drehte: »Famoses Weib. Auf Ehre. Wie _die_ nur
hierher kommt?« Und dann gab er seiner Bewunderung auch Hradscheck
gegenüber Ausdruck, worauf dieser nicht wenig geschmeichelt antwortete:
»Ja, Herr Rittmeister, Glück muß der Mensch haben! Mancher kriegt’s im
Schlaf.«
Und dann lachte der Eskadronchef und stieß mit ihm an.
* * *
Das alles war Mitte September.
Aber das Wohlbefinden, so rasch es gekommen, so rasch ging es auch
wieder, und ehe noch das Erntefest heran war, waren die Kräfte schon so
geschwunden, daß die Kranke die Treppe kaum noch hinunter konnte. Sie
blieb deßhalb oben, sah auf den Hof und machte sich, um doch etwas zu
thun, mit der Neu-Einrichtung sämmtlicher Oberzimmer zu schaffen. Nur
die Giebelstube, nach der Kegelbahn hin, vermied sie.
Hradscheck, der immer noch an die Möglichkeit einer Wiederherstellung
gedacht hatte, sah jetzt auch, wie’s stand, und als der heimlich zu
Rathe gezogene Doktor Oelze von Abzehrung und Nervenschwindsucht
gesprochen, machte sich Hradscheck auf ihr Hinscheiden gefaßt. Daß er
darauf gewartet hätte, konnte nicht wohl gesagt werden; im Gegentheil,
er blieb seiner alten Neigung treu, war überaus rücksichtsvoll und
klagte nie, daß ihm die Frau fehle. Er wollt’ auch von keiner andern
Hilfe wissen und ordnete selber alles an, was in der Wirthschaft zu thun
nöthig war. Vieles that er selbst. »Is doch ein Mordskerl,« sagte
Kunicke. »Was er will, kann er. Ich glaub’, er kann auch einen Hasen
abziehn und Sülze kochen.«
An dem Abend, wo Kunicke so gesprochen, hatte die Sitzung in der
Weinstube wieder ziemlich lange gedauert, und Hradscheck war noch keine
halbe Stunde zu Bett, als Male, die jetzt oben bei der Kranken schlief,
treppab kam und an seine Thür klopfte.
»Herr Hradscheck, steihn’s upp. De Fru schickt mi. Se sülln ruppkoamen.«
Und nun saß er oben an ihrem Bett und sagte: »Soll ich nach Küstrin
schicken, Ursel? Soll Oelze kommen? Der Weg ist gut. In drei Stunden ist
er hier.«
»In drei Stunden ...«
»Oder soll Eccelius kommen?«
»Nein,« sagte sie, während sie sich mühvoll aufrichtete, »es geht nicht.
Wenn ich es nehme, so sag’ ich es.«
Er schüttelte verdrießlich den Kopf.
»Und sag’ ich es _nicht_, so ess’ ich mir selber das Gericht.«
»Ach, laß doch _das_, Ursel. Was soll _das_? Daran denkt ja keiner. Und
ich am wenigsten. Er soll blos kommen und mit Dir sprechen. Er meint es
gut mit Dir und kann Dir einen Spruch sagen.«
Es war, als ob sie sich’s überlege. Mit einem Mal aber sagte sie: »Selig
sind die Friedfertigen; selig sind die reines Herzens sind; selig sind
die Sanftmüthigen. All die kommen in Abraham’s Schoß. Aber wohin kommen
_wir_?«
»Ich bitte Dich, Ursel, sprich nicht so. Frage nicht so. Und wozu? Du
bist noch nicht soweit, noch lange nicht. Es geht alles wieder vorüber.
Du lebst und wirst wieder eine gesunde Frau werden.«
Es klang aber alles nur an ihr hin, und Gedanken nachhängend, die schon
über den Tod hinausgingen, sagte sie: »Verschlossen ... Und was
aufschließt, das ist der Glaube. Den hab ich nicht ... Aber is noch ein
Andres, das aufschließt, das sind die guten Werke ... Hörst Du. Du mußt
ohne Namen nach Krakau schreiben, an den Bischof oder an seinen Vikar.
Und mußt bitten, daß sie Seelenmessen lesen lassen ... Nicht für mich.
Aber Du weißt schon ... Und laß den Brief in Frankfurt aufgeben. Hier
geht es nicht und auch nicht in Küstrin. Ich habe mir’s abgespart dies
letzte halbe Jahr, und Du findest es eingewickelt in meinem Wäschschrank
unter dem Damast-Tischtuch. Ja, Hradscheck, _das_ war es, wenn Du
dachtest, ich sei geizig geworden. Willst Du?«
»Freilich will ich. Aber es wird Nachfrage geben.«
»Nein. Das verstehst Du nicht. Das ist Geheimniß. Und sie gönnen einer
armen Seele die Ruh!«
»Ach, Ursel, Du sprichst so viel von Ruh’ und bangst Dich und ängstigst
Dich, ob Du sie finden wirst. Weißt Du, was ich denke?«
»Nein.«
»Ich denke, leben ist leben, und todt ist todt. Und wir sind Erde, und
Erde wird wieder Erde. Das Andre haben sich die Pfaffen ausgedacht.
Spiegelfechterei sag’ ich, weiter nichts. Glaube mir, die Todten _haben_
Ruhe.«
»Weißt Du das so gewiß, Abel?«
Er nickte.
»Nun, ich sage Dir, die Todten stehen wieder auf ...«
»Am jüngsten Tag.«
»Aber es giebt ihrer auch, die warten nicht so lange.«
Hradscheck erschrak heftig und drang in sie, mehr zu sagen. Aber sie war
schon in die Kissen zurückgesunken und ihre Hand, der seinigen sich
entziehend, griff nur noch krampfhaft in das Deckbett. Dann wurde sie
ruhiger, legte die Hand aufs Herz und murmelte Worte, die Hradscheck
nicht verstand.
»Ursel,« rief er, »Ursel!«
Aber sie hörte nicht mehr.


XV.

Das war in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag gewesen, den letzten Tag
im September. Als am andern Morgen zur Kirche geläutet wurde, standen
die Fenster in der Stube weit offen, die weißen Gardinen bewegten sich
hin und her, und alle, die vorüberkamen, sahen nach der Giebelstube
hinauf und wußten nun, daß die Hradscheck gestorben sei. Schulze
Woytasch fuhr vor, aussprechend, was er sich bei gleichen Veranlassungen
zu sagen gewöhnt hatte, »daß ihr nun wohl sei« und »daß sie vor ihnen
allen einen guten Schritt voraushabe«. Danach trank er, wie jeden
Sonntag vor der Predigt, ein kleines Glas Madeira zur Stärkung und
machte dann die kurze Strecke bis zur Kirche hin zu Fuß. Auch Kunicke
kam und drückte Hradscheck verständnißvoll die Hand, das Auge gerade
verschwommen genug, um die Vorstellung einer Thräne zu wecken.
Desgleichen sprachen auch der Ölmüller und gleich nach ihm Bauer Mietzel
vor, welch letztrer sich bei Todesfällen immer der »Vorzüge seiner
Kränklichkeit von Jugend auf« zu berühmen pflegte. Das that er auch
heute wieder. »Ja, Hradscheck, der Mensch denkt und Gott lenkt. Ich
piepe nun schon so lang; aber es geht immer noch.«
Auch noch andre kamen und sagten ein Wort. Die meisten indessen gingen
ohne Theilnahmsbezeigung vorüber und stellten Betrachtungen an, die sich
mit der Todten in nur wenig freundlicher Weise beschäftigten.
»Ick weet nich,« sagte der eine, »wat Hradscheck an ehr hebben deih. Man
blot, dat se’n beten scheel wihr.«
»Joa,« lachte der Andre. »Dat wihr se. Un am Enn’, so wat künn he hier
ook hebb’n.«
»Un denn dat hannüversche Geld. Ihrst schmeet se’t weg, un mit eens fung
se to knusern an.«
In dieser Weise ging das Gespräch einiger ältrer Leute; das junge
Weiberzeug aber beschränkte sich auf die eine Frage: »Weck’ een he nu
woll frigen deiht?«
Auf Mittwoch vier Uhr war das Begräbniß angesetzt, und viel Neugierige
standen schon vorher in einem weiten Halbkreis um das Trauerhaus herum.
Es waren meist Mägde, die schwatzten und kicherten, und nur einige waren
ernst, darunter die Zwillings-Enkelinnen einer armen alten Wittwe,
welche letztre, wenn Wäsche bei den Hradschecks war, allemal mitwusch.
Diese Zwillinge waren in ihren schwarzen, von der Frau Hradscheck
herrührenden Einsegnungskleidern erschienen und weinten furchtbar, was
sich noch steigerte, als sie bemerkten, daß sie durch ihr Geheul und
Geschluchze der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurden. Dabei
gingen jetzt die Glocken in einem fort, und alles drängte dichter
zusammen und wollte sehn. Als es nun aber zum dritten Mal ausgeläutet
hatte, kam Leben in die drin und draußen Versammelten, und der Zug
setzte sich in Bewegung. Vorn die von Kantor Graumann geführte
Schuljugend, die, wie herkömmlich, den Choral »Jesus meine Zuversicht«
sang; nach ihr erschien der von sechs Trägern getragene Sarg; dann
Eccelius und Hradscheck; dahinter die Bauernschaft in schwarzen
Überröcken und hohen schwarzen Hüten, und endlich all die Neugierigen,
die bis dahin das Haus umstanden hatten. Es war ein wunderschöner Tag,
frische Herbstluft bei klarblauem Himmel. Aber die würdevoll vor sich
hinblickende Dorfhonoratiorenschaft achtete des blauen Himmels nicht,
und nur Bauer Mietzel, der noch Heu draußen hatte, das er am andern Tag
einfahren wollte, schielte mit halbem Auge hinauf. Da sah er, wie von
der andern Oderseite her ein Weih über den Strom kam und auf den
Tschechiner Kirchthurm zuflog. Und er stieß den neben ihm gehenden
Ölmüller an und sagte: »Süh, Quaas, doa is he wedder.«
»Wihr denn?«
»De Weih. Weetst noch?«
»Nei.«
»Dunn, as dat mit Szulski wihr. Ick segg’ Di, de Weih, de weet wat.«
Als sie so sprachen, bog die Spitze des Zuges auf den Kirchhof ein, an
dessen höchster Stelle, dicht neben dem Thurm, das Grab gegraben war.
Hier setzte man den Sarg auf darüber gelegte Balken, und als sich der
Kreis gleich danach geschlossen hatte, trat Eccelius vor, um die
Grabrede zu halten. Er rühmte von der Todten, daß sie, den ihr
anerzogenen Aberglauben abschüttelnd, nach freier Wahl und eignem
Entschluß den Weg des Lichtes gegangen sei, was nur _der_ wissen und
bezeugen könne, der ihr so nah gestanden habe wie er. Und wie sie das
Licht und die reine Lehre geliebt habe, so habe sie nicht minder das
Recht geliebt, was sich zu keiner Zeit schöner und glänzender gezeigt,
als in jenen schweren Tagen, die der selig Entschlafenen nach dem
Rathschlusse Gottes auferlegt worden seien. Damals, als er ihr nicht
ohne Mühe das Zugeständniß erwirkt habe, den, an dem ihr Herz und ihre
Seele hing, wiedersehn zu dürfen, wenn auch freilich nur vor Zeugen und
auf eine kurze halbe Stunde, da habe sie die wohl jedem hier in der
Erinnerung gebliebenen Worte gesprochen: »Nein, nicht jetzt; es ist
besser, daß ich warte. Wenn er unschuldig ist, so werd’ ich ihn
wiedersehn, früher oder später; wenn er aber schuldig ist, so will ich
ihn _nicht_ wiedersehn.« Er freue sich, daß er diese Worte, hier am
Grabe der Heimgegangenen, ihr zu Ruhm und Ehre, wiederholen könne. Ja,
sie habe sich allezeit bewährt in ihrem Glauben und ihrem Rechtsgefühl.
Aber vor allem auch in ihrer Liebe. Mit Bangen habe sie die Stunden
gezählt, in schlaflosen Nächten ihre Kräfte verzehrend, und als endlich
die Stunde der Befreiung gekommen sei, da sei sie zusammengebrochen. Sie
sei das Opfer arger, damals herrschender Mißverständnisse, das sei
zweifellos, und alle die, die diese Mißverständnisse geschürt und
genährt hätten, anstatt sie zu beseitigen, die hätten eine schwere
Verantwortung auf ihre Seele geladen. Ja, dieser frühe Tod, er müsse das
wiederholen, sei das Werk derer, die das Gebot unbeachtet gelassen
hätten: »Du sollst nicht falsch Zeugniß reden wider Deinen Nächsten.«
Und als er dieses sagte, sah er scharf nach einem entblätterten
Hagebuttenstrauch hinüber, unter dessen rothen Früchten die Jeschke
stand und dem Vorgange, wie schon damals in der Kirche, mehr neugierig
als verlegen folgte.
Gleich danach aber schloß Eccelius seine Rede, gab einen Wink, den Sarg
hinab zu lassen, und sprach dann den Segen. Dann kamen die drei Hände
voll Erde, mit sich abschließendem Schmerzblick und Händeschütteln, und
ehe noch der am Horizont schwebende Sonnenball völlig unter war, war das
Grab geschlossen und mit Asterkränzen überdeckt.
Eine halbe Stunde später, es dämmerte schon, war Eccelius wieder in
seiner Studirstube, das Sammetkäppsel auf dem Kopf, das ihm Frau
Hradscheck vor gerade Jahresfrist gestickt hatte. Die Bauern aber saßen
in der Weinstube, Hradscheck zwischen ihnen, und faßten alles, was sie
an Trost zu spenden hatten, in die Worte zusammen: »Immer Courage,
Hradscheck! Der alte Gott lebt noch« – welchen Trost- und
Weisheitssprüchen sich allerlei Wiederverheirathungsgeschichten beinah
unmittelbar anschlossen. Eine davon, die beste, handelte von einem alten
Hauptmann v. Rohr, der vier Frauen gehabt und beim Hinscheiden jeder
Einzelnen mit einer gewissen trotzigen Entschlossenheit gesagt hatte:
»Nimmt Gott, so nehm’ ich wieder.« Hradscheck hörte dem allem ruhig und
kopfnickend zu, war aber doch froh, die Tafelrunde heute früher als
sonst aufbrechen zu sehn. Er begleitete Kunicke bis an die Ladenthür
und stieg dann, er wußte selbst nicht warum, in die Stube hinauf, in der
Ursel gestorben war. Hier nahm er Platz an ihrem Bett und starrte vor
sich hin, während allerlei Schatten an Wand und Decke vorüberzogen.
Als er eine Viertelstunde so gesessen, verließ er das Zimmer wieder und
sah, im Vorübergehen, daß die nach rechts hin gelegene Giebelstube halb
offenstand, dieselbe Stube, drin die Verstorbene nach vollendetem Umbau
zu wohnen und zu schlafen so bestimmt verweigert hatte.
»Was machst Du hier, Male?« fragte Hradscheck.
»Wat ick moak? Ick treck em sien Bett öwer.«
»Wem?«
»Is joa wihr ankoamen. Wedder een mit’n Pelz.«
»So, so,« sagte Hradscheck und stieg die Treppe langsam hinunter.
»Wedder een ... wedder een ... Immer noch nicht vergessen.«


XVI.

Frau Hradscheck war nun unter der Erde, Male hatte das Umschlagetuch
gekriegt, auf das ihre Wünsche sich schon lange gerichtet hatten, und
alles wäre gut gewesen, wenn nicht der letzte Wille der Verstorbenen
gewesen wäre: die Geldsendung an den Krakauer Bischof um der zu lesenden
Seelenmessen willen. Das machte Hradscheck Sorge, nicht wegen des
Geldes, davon hätt’ er sich leicht getrennt, einmal weil Sparen und
Knausern überhaupt nicht in seiner Natur lag, vor allem aber weil er das
seiner Frau gegebene Versprechen gern zu halten wünschte, schon aus
abergläubischer Furcht. Das Geld also war es nicht, und wenn er trotzdem
in Schwanken und Säumniß verfiel, so war es, weil er nicht selber dazu
beitragen wollte, die kaum begrabene Geschichte vielleicht wieder ans
Licht zu ziehn. Ursel hatte freilich von Beichtgeheimniß und Ähnlichem
gesprochen, er mißtraute jedoch solcher Sicherheit, am meisten aber dem
ohne Namensunterschrift in Frankfurt aufzugebenden Briefe.
In dieser Verlegenheit beschloß er endlich, Eccelius zu Rathe zu ziehn
und diesem die halbe Wahrheit zu sagen, und wenn nicht die halbe, so
doch wenigstens so viel, wie zu seiner Gewissens-Beschwichtigung gerade
nöthig war. Ursel, so begann er, habe zu seinem allertiefsten Bedauern
ernste katholische Rückfälle gehabt und ihm beispielsweis in ihrer
letzten Stunde noch eine Summe Geldes behändigt, um Seelenmessen für sie
lesen zu lassen (der, dem es eigentlich galt, wurde hier unterschlagen).
Er, Hradscheck, hab’ ihr auch, um ihr das Sterben leichter zu machen,
alles versprochen, sein protestantisches Gewissen aber sträube sich
jetzt dagegen, ihr das Versprochene wörtlich und in all und jedem Stücke
zu halten, weßhalb er anfrage, ob er das Geld wirklich an die
Katholschen aushändigen oder nicht lieber nach Berlin reisen und ein
marmornes oder vielleicht auch gußeisernes Grabkreuz, wie sie jetzt Mode
seien, bestellen solle.
Eccelius zögerte keinen Augenblick mit der Antwort und sagte genau das,
was Hradscheck zu hören wünschte. Versprechungen, die man einem
Sterbenden gäbe, seien natürlich bindend, das erheische die Pietät, das
sei die Regel. Aber jede Regel habe bekanntlich ihren Ausnahmefall, und
wenn das einem Sterbenden gegebene Versprechen falsch und sündhaft sei,
so hebe das Erkennen dieser Sündhaftigkeit das Versprechen wieder auf.
Das sei nicht blos Recht, das sei sogar Pflicht. Die ganze Sache, wie
Hradscheck sie geschildert, gehöre zu seinen schmerzlichsten
Erfahrungen. Er habe große Stücke von der Verstorbenen gehalten und
allezeit einen Stolz darein gesetzt, sie für die gereinigte Lehre
gewonnen zu haben. Daß er sich darin geirrt oder doch wenigstens halb
geirrt habe, sei, neben anderem, auch persönlich kränkend für ihn, was
er nicht leugnen wolle. Diese persönliche Kränkung indeß sei nicht das,
was sein eben gegebenes Urtheil bestimmt habe. Hradscheck solle getrost
bei seinem Plane bleiben und nach Berlin reisen, um das Kreuz zu
bestellen. Ein Kreuz und ein guter Spruch zu Häupten der Verstorbenen
werde derselben genügen, dem Kirchhof aber ein Schmuck und eine
Herzensfreude für jeden sein, der Sonntags daran vorüberginge.
* * *
Es war Ende Oktober gewesen, daß Eccelius und Hradscheck dies Gespräch
geführt hatten, und als nun Frühling kam und der ganze Tschechiner
Kirchhof, so kahl auch seine Bäume noch waren, in Schneeglöckchen und
Veilchen stand, erschien das gußeiserne Kreuz, das Hradscheck mit vieler
Wichtigkeit und nach langer und minutiöser Berathung auf der königlichen
Eisengießerei bestellt hatte. Zugleich mit dem Kreuze traf ein Steinmetz
mit zwei Gesellen ein, Leute, die das Aufrichten und Einlöthen aus dem
Grunde verstanden, und nachdem die Dorfjugend ein paar Stunden zugesehen
hatte, wie das Blei geschmolzen und in das Sockelloch eingegossen wurde,
stand das Kreuz da mit Spruch und Inschrift, und viele Neugierige kamen,
um die goldblanken Verzierungen zu sehn: unten ein Engel, die Fackel
senkend, und oben ein Schmetterling. All das wurde von Alt und Jung
bewundert. Einige lasen auch die Inschrift: »Ursula Vincentia
Hradscheck, geb. zu Hickede bei Hildesheim im Hannöverschen den 29. März
1790, gest. den 30. September 1832.« Und darunter Evang. Matthäi 6,
V. 14. Auf der Rückseite des Kreuzes aber stand ein muthmaßlich von
Eccelius selbst herrührender Spruch, darin er seinem Stolz, aber
freilich auch seinem Schmerz Ausdruck gegeben hatte. Dieser Spruch
lautete: »Wir wandelten in Finsterniß, bis wir das Licht sahen. Aber die
Finsterniß blieb, und es fiel ein Schatten auf unsren Weg.«
* * *
Unter denen, die sich das Kreuz gleich am Tage der Errichtung angesehen
hatten, waren auch Gensdarm Geelhaar und Mutter Jeschke gewesen. Sie
hatten denselben Heimweg und gingen nun gemeinschaftlich die Dorfstraße
hinunter, Geelhaar etwas verlegen, weil er den zu seiner eignen
Würdigkeit schlecht passenden Ruf der Jeschke besser als irgend wer
anders kannte. Seine Neugier überwand aber seine Verlegenheit, und so
blieb er denn an der Seite der Alten und sagte:
»Hübsch is es. Un der Schmetterling so natürlich; beinah wie’n
Citronenvogel. Aber ich begreife Hradscheck nich, daß er sie so dicht an
dem Thurm begraben hat. Was soll sie da? Warum nicht bei den Kindern?
Eine Mutter muß doch da liegen, wo die Kinder liegen.«
»Woll, woll, Geelhaar. Awers Hradscheck is klook. Un he weet ümmer, wat
he deiht.«
»Gewiß weiß er das. Er ist klug. Aber gerade weil er klug ist ...«
»Joa, joa.«
»Nu was denn?«
Und der sechs Fuß hohe Mann beugte sich zu der alten Hexe nieder, weil
er wohl merkte, daß sie was sagen wollte.
»Was denn, Mutter Jeschke?« wiederholte er seine Frage.
»Joa, Geelhaar, wat sall ick seggen? Eccelius möt et weten. Un de hett
nu ook wedder de Inschrift moakt. Awers _een_ is, de weet ümmer noch en
beten mihr.«
»Und wer is das? Line?«
»Ne, Line nich. Awers Hradscheck sülwsten. Hradscheck, de will de
Kinnings und de Fru nich tosoamen hebb’n. Nich so upp enen Hümpel.«
»Nun gut, gut. Aber warum nicht, Mutter Jeschke?«
»Nu, he denkt, wenn’t los geiht.«
Und nun blieb sie stehn und setzte dem halb verwundert, halb entsetzt
aufhorchenden Geelhaar auseinander, daß die Hradscheck an dem Tage,
»wo’s los gehe«, doch natürlich nach ihren Kindern greifen würde,
vorausgesetzt, daß sie sie zur Hand habe. »Un dat wull de oll Hradscheck
nich.«
»Aber, Mutter Jeschke, glaubt Ihr denn an so was?«
»Joa, Geelhaar, worümm nich? Worümm sall ick an so wat nich glöwen?«


XVII.

Als das Kreuz aufgerichtet stand, es war Nachmittag geworden, kam auch
Hradscheck, sonntäglich und wie zum Kirchgange gekleidet, und die
Neugierigen, an denen den ganzen Tag über, auch als Geelhaar und die
Jeschke längst fort waren, kein Mangel blieb, sahen, daß er den Spruch
las und die Hände faltete. Das gefiel ihnen ausnehmend, am meisten aber
gefiel ihnen, daß er das theure Kreuz überhaupt bestellt hatte. Denn
Geld ausgeben (und noch dazu _viel_ Geld) war das, was den Tschechinern
als echten Bauern am meisten imponirte. Hradscheck verweilte wohl eine
Viertelstunde, pflückte Veilchen, die neben dem Grabhügel aufsprossen,
und ging dann in seine Wohnung zurück.
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