Unterm Birnbaum - 4

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meinem Bedauern will die Geschichte mit dem Polen nicht aus der Welt,
ja, die Verdachtsgründe haben sich gemehrt, seit neuerdings auch euer
Mewissen gesprochen hat. Andrerseits freilich ist immer noch zu wenig
Substanz da, um ohne Weiteres eine Verhaftung eintreten zu lassen,
weßhalb ich vorhabe, die Hradscheck’schen Dienstleute, die doch
schließlich alles am besten wissen müssen, zu vernehmen und von _ihrer_
Aussage mein weiteres Thun oder Nichtthun abhängig zu machen. Unter
allen Umständen aber wollen wir alles, was Aufsehn machen könnte, nach
Möglichkeit vermeiden. Ich treffe morgen gegen 2 in Tschechin ein, fahre
gleich bei Dir vor und bitte Dich Sorge zu tragen, daß ich den Knecht
Jakob sammt den beiden andern Personen, deren Namen ich vergessen, in
Deinem Hause vorfinde.«
* * *
So des Justizraths Brief. Er selbst hielt zu festgesetzter Zeit vor dem
Pfarrhaus und trat in den Flur, auf dem die drei vorgeforderten
Dienstleute schon standen. Vowinkel grüßte sie, sprach, in der Absicht
ihnen Muth zu machen, ein paar freundliche Worte zu jedem und ging dann,
nachdem er sich aus seinem Mantel herausgewickelt, auf Eccelius’
Studirstube zu, darin nicht nur der große schwarze Kachelofen, sondern
auch der wohlarrangirte Kaffeetisch jeden Eintretenden überaus
anheimelnd berühren mußte. Dies war denn auch bei Vowinkel der Fall. Er
wies lachend darauf hin und sagte: »Vortrefflich, Freund. Höchst
einladend. Aber ich denke, wir lassen das bis nachher. Erst das
Geschäftliche. Das Beste wird sein, _Du_ stellst die Fragen und ich
begnüge mich mit der Beisitzer-Rolle. Sie werden Dir unbefangner
antworten als mir.« Dabei nahm er in einem neben dem Ofen stehenden
hohen Lehnstuhle Platz, während Eccelius, auf den Flur hinaus, nach Ede
rief und sich’s nun erst, nach Erledigung aller Präliminarien, an seinem
mächtigen Schreibtische bequem machte, dessen großes, zwischen einem
Sand- und einem Tintenfaß stehendes Alabasterkreuz ihn von hinten her
überragte.
Der Gerufene war inzwischen eingetreten und blieb an der Thür stehn. Er
hatte sichtlich sein Bestes gethan, um einen manierlichen Menschen aus
sich zu machen, aber nur mit schwachem Erfolg. Sein brandrothes Haar lag
großentheils blank an den Schläfen, während ihm das Wenige, was ihm
sonst noch verblieben war, nach Art einer Spitzflamme zu Häupten stand.
Am schlimmsten aber waren seine winterlichen Hände, die, wie eine Welt
für sich, aus dem überall zu kurz gewordenen Einsegnungsrock
hervorsahen.
»Ede,« sagte der Pastor freundlich, »Du sollst über Hradscheck und den
Polen aussagen, was Du weißt.«
Der Junge schwieg und zitterte.
»Warum sagst Du nichts? warum zitterst Du?«
»Ick jrul’ mi so.«
»Vor wem? Vor uns?«
Ede schüttelte mit dem Kopf.
»Nun, vor wem denn?«
»Vor Hradschecken ...«
Eccelius, der alles zu Gunsten der Hradschecks gewendet zu sehen
wünschte, war mit dieser Aussage wenig zufrieden, nahm sich aber
zusammen und sagte: »Vor Hradscheck. Warum vor Hradscheck? Was ist mit
ihm? Behandelt er Dich schlecht?«
»Nei.«
»Nu wie denn?«
»Ick weet nich ... He is so anners.«
»Nu gut. Anders. Aber das ist nicht genug, Ede. Du mußt uns mehr sagen.
Worin ist er anders? Was thut er? Trinkt er? Oder flucht er? Oder ist er
in Angst?«
»Nei.«
»Nu wie denn? Was denn?«
»Ick weet nich ... He is so anners.«
Es war ersichtlich, daß aus dem eingeschüchterten Jungen nichts weiter
herauszubringen sein würde, weßhalb Vowinkel dem Freunde zublinkte, die
Sache fallen zu lassen. Dieser brach denn auch wirklich ab und sagte:
»Nun, es ist gut, Ede. Geh. Und schicke die Male herein.«
Diese kam und war in ihrem Kopf- und Brusttuch, das sie heute wie
sonntäglich angelegt hatte, kaum wieder zu erkennen. Sie sah klar aus
den Augen, war unbefangen und erklärte, nachdem Eccelius seine Frage
gestellt hatte, daß sie nichts wisse. Sie habe Szulski gar nicht gesehn,
»un ihrst um Klocker vier oder noch en beten danoah« wäre Hradscheck an
ihre Kammerthür gekommen und hätte gesagt, daß sie rasch aufstehn und
Kaffee kochen solle. Das habe sie denn auch gethan, und grad als sie den
Kien gespalten, sei Jakob gekommen und hab’ ihr so im Vorübergehn
gesagt, »daß er den Pohlschen geweckt habe; der Pohlsche hab’ aber ’nen
Dodenschlaf gehabt und habe gar nich geantwortet. Und da hab’ er an die
Dhür gebullert.«
All das erzählte Male hintereinander fort, und als der Pastor zum
Schlusse frug, ob sie nicht noch weiter was wisse, sagte sie: »Nein,
weiter wisse sie nichts, oder man blos noch das Eine, daß die Kanne, wie
sie das Kaffeegeschirr herausgeholt habe, beinah noch ganz voll gewesen
sei. Und sei doch ein gräuliches Wetter gewesen und kalt und naß. Und
wenn sonst einer des Morgens abreise, so tränk’ er mehrstens oder
eigentlich immer die Kanne leer, un von Zucker übrig lassen wär’ gar
keine Rede nich. Und manche nähmen ihn auch mit. Aber der Pohlsche hätte
keine drei Schluck getrunken, und sei eigentlich alles noch so gewesen,
wie sie’s reingebracht habe. Weiter wisse sie nichts.«
Danach ging sie, und der Dritte, der nun kam, war Jakob.
»Nun, Jakob, wie war es?« fragte Eccelius; »Du weißt, um was es sich
handelt. Was Du Malen und mir schon vorher gesagt hast, brauchst Du
nicht zu wiederholen. Du hast ihn geweckt und er hat nicht geantwortet.
Dann ist er die Treppe herunter gekommen und Du hast gesehn, daß er sich
an dem Geländer festhielt, als ob ihm das Gehn in dem Pelz schwer
würde. Nicht wahr, so war es?«
»Joa, Herr Pastor.«
»Und weiter nichts?«
»Nei, wider nix. Un wihr man blot noch, dat he so’n beten lütt utsoah,
un ...«
»Und was?«
»Un dat he so still wihr un seggte keen Wuhrd nich. Un as ick to em
seggen deih: ›Na Adjes, Herr Szulski,‹ doa wihr he wedder so bummsstill
un nickte man blot so.«
Nach dieser Aussage trat auch Jakob ab und die Pfarrköchin brachte den
Kaffee. Vowinkel nahm eine der Tassen und sagte, während er sich an das
Fensterbrett lehnte: »Ja, Freund, die Sache steht doch schlimmer, als
_Du_ wahr haben möchtest, und fast auch schlimmer als _ich_ erwartete.«
»Mag sein,« erwiderte der Pastor. »Nach meinem Gefühl indeß, das ich
selbstverständlich Deiner besseren Erfahrung unterordne, bedeuten all
diese Dinge gar nichts oder herzlich wenig. Der Junge, wie Du gesehn
hast, konnte vor Angst kaum sprechen, und aus der Köchin Aussage war
doch eigentlich nur das Eine festzustellen, daß es Menschen giebt, die
_viel_, und andre, die _wenig_ Kaffee trinken.«
»Aber Jakob!«
Eccelius lachte. »Ja Jakob. ›He wihr en beten to lütt‹, das war das
eine, ›un he wihr en beten to still‹, das war das andre. Willst Du
daraus einen Strick für die Hradschecks drehn?«
»Ich will es nicht, aber ich fürchte, daß ich es muß. Jedenfalls haben
sich die Verdachtsgründe durch das, was ich eben gehört habe, mehr
gemehrt als gemindert, und ein Verfahren gegen den so mannigfach
Belasteten kann nicht länger mehr hinausgeschoben werden. Er muß in
Haft, wär’ es auch nur um einer Verdunklung des Thatbestandes
vorzubeugen.«
»Und die Frau?«
»Kann bleiben. Überhaupt werd’ ich mich auf das Nöthigste beschränken,
und um auch jetzt noch alles Aufsehen zu vermeiden, hab’ ich vor, ihn
auf meinem Wagen, als ob es sich um eine Spazierfahrt handelte, mit nach
Küstrin zu nehmen.«
»Und wenn er nun schuldig ist, wie Du beinah glaubst oder wenigstens für
möglich hältst? Ist Dir eine solche Nachbarschaft nicht einigermaßen
ängstlich?«
Vowinkel lachte. »Man sieht, Eccelius, daß Du kein Kriminalist bist.
Schuld und Muth vertragen sich schlecht zusammen. Alle Schuld lähmt.«
»Nicht immer.«
»Nein, nicht immer. Aber doch meist. Und allemal da, wo das Gesetz schon
über ihr ist.«


X.

Die Verhaftung Hradscheck’s erfolgte zehn Tage vor Weihnachten. Jetzt
war Mitte Januar, aber die Küstriner Untersuchung rückte nicht von der
Stelle, weßhalb es in Tschechin und den Nachbardörfern hieß: »Hradscheck
werde mit Nächstem wieder entlassen werden, weil nichts gegen ihn
vorliege.« Ja, man begann auf das Gericht und den Gerichtsdirektor zu
schelten, wobei sich’s selbstverständlich traf, daß alle die, die vorher
am leidenschaftlichsten von einer Hinrichtung geträumt hatten, jetzt in
Tadeln und Schmähen mit gutem Beispiel vorangingen.
Vowinkel hatte viel zu dulden; kein Zweifel. Am ausgiebigsten in
Schmähungen aber war man gegen die Zeugen, und der Angriffe gegen diese
wären noch viel mehr gewesen, wenn man nicht gleichzeitig über sie
gelacht hätte. Der dumme Ladenjunge, der Ede, so versicherte man sich
gegenseitig, könne doch nicht für voll angesehen werden und die Male mit
ihren Sommersprossen und ihrem nicht ausgetrunkenen Kaffee womöglich
noch weniger. Daß man bei den Hradschecks oft einen wunderbaren Kaffee
kriege, das wisse jeder, und wenn alle die, die das durchgetrichterte
Cichorienzeug stehn ließen, auf Mord und Todtschlag hin verklagt und
eingezogen werden sollten, so säße bald das halbe Bruch hinter Schloß
und Riegel. »Aber Jakob und der alte Mewissen?« hieß es dann wohl. Indeß
auch von diesen Beiden wollte die plötzlich zu Gunsten Hradscheck’s
umgestimmte Majorität nichts wissen. Der dusslige Jakob, von dem jetzt
so viel gemacht werde, ja, was hab’ er denn eigentlich beigebracht? Doch
nichts weiter, als das ewige »He wihr so’n beten still.« Aber du lieber
Himmel, wer habe denn Lust, um Klock fünf und bei steifem Südost einen
langen Schnack zu machen? Und nun gar der alte Mewissen, der, so lang er
lebe, den Himmel für einen Dudelsack angesehen habe? Wahrhaftig, der
könne viel sagen, eh’ man’s zu glauben brauche. »Mit einem karrirten
Tuch über dem Kopf. Und wenn’s kein karrirtes Tuch gewesen, dann sei’s
eine Pferdedecke gewesen.« O, du himmlische Güte! Mit einer Pferdedecke!
Die Hradscheck mit einer Pferdedecke! Giebt es Pferdedecken ohne Flöhe?
Nein. Und nun gar diese schnippsche Prise, die sich ewig mit ihrem
türkischen Shawl herumziert und noch ötepotöter is als die Reitweinsche
Gräfin!
So ging das Gerede, das sich, an und für sich schon günstig genug für
Hradscheck, in Folge kleiner Vorkommnisse mit jedem neuen Tage günstiger
gestaltete. Darunter war eins von besondrer Wirkung. Und zwar das
folgende. Heilig Abend war ein Brief Hradscheck’s bei Eccelius
eingetroffen, worin es hieß: »es ging’ ihm gut, weßhalb er sich auch
freuen würde, wenn seine Frau zum Fest herüberkommen und eine
Viertelstunde mit ihm plaudern wolle; Vowinkel hab’ es eigens gestattet,
versteht sich in Gegenwart von Zeugen.« So die briefliche Mittheilung,
auf welche Frau Hradscheck, als sie durch Eccelius davon gehört, diesem
letzteren sofort geantwortet hatte: »sie werde diese Reise _nicht_
machen, weil sie nicht wisse, wie sie sich ihrem Manne gegenüber zu
benehmen habe. Wenn er schuldig sei, so sei sie für immer von ihm
geschieden, einmal um ihrer selbst, aber mehr noch um ihrer Familie
willen. Sie wolle daher lieber zum Abendmahl gehn und ihre Sache vor
Gott tragen und bei der Gelegenheit den Himmel inständigst bitten, ihres
Mannes Unschuld recht bald an den Tag zu bringen.« So was hörten die
Tschechiner gern, die sämmtlich höchst unfromm waren, aber nach Art der
meisten Unfrommen einen ungeheuren Respekt vor Jedem hatten, der »lieber
zum Abendmahl gehn und seine Sache vor Gott tragen«, als nach Küstrin
hin reisen wollte.
Kurzum, alles stand gut, und es hätte sich von einer totalen
»Rückeroberung« des dem Inhaftirten anfangs durchaus abgeneigten Dorfes
sprechen lassen, wenn nicht _ein_ Unerschütterlicher gewesen wäre, der,
sobald Hradscheck’s Unschuld behauptet wurde, regelmäßig versicherte:
»Hradscheck? _Den_ kenn’ ich. _Der_ muß ans Messer.«
Dieser Unerschütterliche war niemand Geringeres als Gensdarm Geelhaar,
eine sehr wichtige Person im Dorf, auf deren Autorität hin die Mehrheit
sofort geschworen hätte, wenn ihr nicht seine bittre Feindschaft gegen
Hradscheck und die kleinliche Veranlassung dazu bekannt gewesen wäre.
Geelhaar, guter Gensdarm, aber noch besserer Saufaus, war, um Kognaks
und Rums willen, durch viele Jahre hin ein Intimus bei Hradscheck
gewesen, bis dieser eines Tages, des ewigen Gratis-Einschenkens müde,
mit mehr Übermuth als Klugheit gesagt hatte: »Hören Sie, Geelhaar, Rum
ist gut. Aber Rum kann einen auch ’rum bringen.« Auf welche Provokation
hin (Hradscheck liebte dergleichen Witze) der sich nun plötzlich aufs
hohe Pferd setzende Geelhaar mit hochrothem Gesicht geantwortet hatte:
»Gewiß, Herr Hradscheck. Was kann einen nich alles ’rumbringen? Den
einen dies, den andern das. Und mit Ihnen, mein lieber Herr, is auch
noch nicht aller Tage Abend.«
Von der aus diesem Zwiegespräch entstandenen Feindschaft wußte das ganze
Dorf, und so kam es, daß man nicht viel darauf gab und im Wesentlichen
blos lachte, wenn Geelhaar zum hundertsten Male versicherte: »_Der_? Der
muß ans Messer.«
* * *
»Der muß ans Messer,« sagte Geelhaar, aber in Tschechin hieß es mit
jedem Tage mehr: »Er kommt wieder frei.«
Und »he kümmt wedder ’rut,« hieß es auch im Hause der alten Jeschke, wo
die blonde Nichte, die Line – dieselbe, nach der Hradscheck bei seinen
Gartenbegegnungen mit der Alten immer zu fragen pflegte – seit
Weihnachten zum Besuch war und an einer Ausstattung, wenn auch freilich
nicht an ihrer eigenen, arbeitete. Sie war eine hervorragend kluge
Person, die, trotzdem sie noch keine 27 zählte, sich in den
verschiedensten Lebensstellungen immer mit Glück versucht hatte: früh
schon als Kinder- und Hausmädchen, dann als Nähterin und schließlich als
Pfarrköchin in einem neumärkischen Dorf, in welch letztrer Eigenschaft
sie nicht nur sämmtliche Betstunden mitgemacht, sondern sich auch durch
einen exemplarisch sittlichen Lebenswandel ausgezeichnet hatte. Denn sie
gehörte zu denen, die, wenn engagirt, innerhalb ihres Engagements alles
Geforderte leisten, auch Gebet, Tugend und Treue.
Solcher Forderungen entschlug sich nun freilich die Jeschke, die
vielmehr, wenn sie den Faden von ihrem Wocken spann, immer nur
Geschichten von begünstigten und genasführten Liebhabern hören wollte,
besonders von einem Küstriner Fourage-Beamten, der drei Stunden lang im
Schnee hatte warten müssen. Noch dazu vergeblich. All das freute die
Jeschke ganz ungemein, die dann regelmäßig hinzusetzte: »Joa, Line, so
wihr ick ook. Awers moak et man nich to dull.« Und dann antwortete
diese: »Wie werd ich denn, Mutter Jeschke!« Denn sie nannte sie nie
Tante, weil sie sich der nahen Verwandtschaft mit der alten Hexe schämen
mochte.
Plaudern war Beider Lust. Und plaudernd saßen beide Weibsen auch heute
wieder.
Es war ein ziemlich kalter Tag und draußen lag fußhoher Schnee. Drinnen
aber war es behaglich, das Rothkehlchen zwitscherte, die Wanduhr ging in
starkem Schlag und der Kachelofen that das Seine. Dem Ofen zunächst aber
hockte die Jeschke, während Line weitab an dem ganz mit Eisblumen
überdeckten Fenster saß und sich ein Kuckloch gepustet hatte, durch das
sie nun bequem sehen konnte, was auf der Straße vorging.
»Da kommt ja Gensdarm Geelhaar,« sagte sie. »Grad über den Damm. Er muß
drüben bei Kunicke gewesen sein. Versteht sich, Kunicke frühstückt um
diese Zeit. Und sieht auch so roth aus. Was er nur will? Er wird am Ende
der armen Frau, der Hradschecken, einen Besuch machen wollen. Is ja
schon vier Wochen Strohwittwe.«
»Nei, nei,« lachte die Alte. »Dat deiht he nich. Dem is joa sien ejen
all to veel, so lütt se is. Ne, ne, den kenn ick. Geelhaar is man blot
noch för so.«
Und dabei machte sie die Bewegung des aus der Flaschetrinkens.
»Hast Recht,« sagte Line. »Sieh, er kommt grad auf unser Haus zu.«
Und wirklich, unter diesem Gespräch, wie’s die Jeschke mit ihrer Nichte
geführt hatte, war Geelhaar von der Dorfstraße her in einen schmalen,
blos mannsbreiten Gang eingetreten, der, an der Hradscheck’schen
Kegelbahn entlang, in den Garten der alten Jeschke führte.
Von hier aus war auch der Eingang in das Häuschen der Alten, das mit
seinem Giebel nach der Straße stand.
»Guten Tag, Mutter Jeschke,« sagte der Gensdarm. »Ah, und guten Tag,
Lineken. Oder ich muß jetzt wohl sagen Mamsell Linchen.«
Line, die den stattlichen Geelhaar (er hatte bei den Gardekürassieren
gedient), aller despektirlichen Andeutungen der Alten ungeachtet,
keineswegs aus ihrer Liste gestrichen hatte, stemmte sofort den linken
Fuß gegen einen ihr gegenüberstehenden Binsenstuhl und sah ihn zwinkernd
über das große Stück Leinwand hin an, das sie, wie wenn sie’s abmessen
wollte, mit einem energischen Ruck und Puff vor sich ausspannte.
Die Wirkung dieser kleinen Künste blieb auch nicht aus. So wenigstens
schien es Linen. Die Jeschke dagegen wußt’ es besser, und als Geelhaar
auf ihre mit Vorbedacht in Hochdeutsch gesprochene Frage, »was ihr denn
eigentlich die Ehre verschaffe,« mit einem scherzhaft gemeinten
Fingerzeig auf Line geantwortet hatte, lachte sie nur und sagte:
»Nei, nei, Herr Gensdarm. Ick weet schon, ick weet schon ... Awers nu
setten’s sich ihrst ... Joa, diss’ Hradscheck ... he kümmt joa nu wedder
rut.«
»Ja, Mutter Jeschke,« wiederholte Geelhaar, »he kümmt nu wedder rut. Das
heißt, er kommt wieder ’raus, wenn er nich drin bleibt.«
»Woll, woll. Wenn he nicht drin bliewt. Awers worümm sall he drin
bliewen? Keen een hett joa wat siehn, un keen een hett joa wat utfunn’n.
Un Se ook nich, Geelhaar.«
»Nein,« sagte der Gensdarm. »Ich auch nich. Aber es wird sich schon was
finden oder doch finden lassen, und dazu müssen Sie helfen, Mutter
Jeschke. Ja, ja. So viel weiß ich, die Hradscheck hat schon lange keinen
Schlaf mehr und ist immer treppauf und treppab. Und wenn die Leute
sagen, es sei blos, weil sie sich um den Mann gräme, so sag ich: Unsinn,
_er_ is nich so und _sie_ is nich so.«
»Nei, nei,« wiederholte die Jeschke. »He is nich so un se is nich so.
De Hradschecks, nei, de sinn nich so.«
»Keinen ordentlichen Schlaf also,« fuhr Geelhaar fort, »nich bei Tag und
auch nich bei Nacht, und wankt immer so ’rum, und is mal im Hof und mal
im Garten. Das hab’ ich von der Male ... Hören Sie, Mutter Jeschke, wenn
ich so mal Nachtens hier auf Posten stehen könnte! Das wäre so was. Line
bleibt mit auf, und wir setzen uns dann ans Fenster und wachen und
kucken. Nich wahr, Line?«
Line, die schon vorher das Weißzeug bei Seite gelegt und ihren blonden
Zopf halb aufgeflochten hatte, schlug jetzt mit dem losen Büschel über
ihre linke Hand und sagte: »Will es mir noch überlegen, Herr Geelhaar.
Ein armes Mädchen hat nichts als seinen Ruf.«
Und dabei lachte sie.
»Kümmen’s man, Geelhaar,« tröstete die Jeschke, trotzdem Trost
eigentlich nicht nöthig war. »Kümmen’s man. Ick geih to Bett. Wat doa to
siehn is, ick meen hier buten, dat hebb’ ick siehn, dat weet ick all. Un
is ümmer dat Sülwigte.«
»Dat Sülwigte?«
»Joa. Nu nich mihr. Awers as noch keen Snee wihr. Doa ...«
»Da. Was denn?«
»Doa wihr se Nachtens ümmer so ’rümm hier.«
»So, so,« sagte der Gensdarm und that vorsichtig allerlei weitere
Fragen. Und da sich die Jeschke von guten Beziehungen zur Dorfpolizei
nur Vortheile versprechen konnte, so wurde sie trotz aller sonstigen
Zurückhaltung immer mittheilsamer und erzählte dem Gensdarmen Neues und
Altes, namentlich auch das, was sie damals, in der stürmischen
November-Nacht, von ihrer Küchenthür aus beobachtet hatte. Hradscheck
habe lang da gestanden, ein flackrig Licht in der Hand. »Un wihr binoah
so, as ob he wull, dat man em seihn sull.« Und dann hab’ er einen Spaten
genommen und sei bis an den Birnbaum gegangen. Und da hab’ er ein Loch
gegraben. An der Gartenthür aber habe was gestanden wie ein Koffer oder
Korb oder eine Kiste. Was? das habe sie nicht genau sehen können. Und
dann hab’ er das Loch wieder zugeschüttet.
Geelhaar, der sich bis dahin, allem Diensteifer zum Trotz, ebenso sehr
mit Line wie mit Hradscheck beschäftigt hatte, ja, vielleicht mehr noch
Courmacher als Beamter gewesen war, war unter diesem Bericht sehr
ernsthaft geworden und sagte, während er mit Wichtigkeitsmiene seinen
gedunsenen Kopf hin und her wiegte: »Ja, Mutter Jeschke, das thut mir
leid. Aber es wird Euch Ungelegenheiten machen.«
»Wat? wat, Geelhaar?«
»Ungelegenheiten, weil Ihr damit so spät herauskommt.«
»Joa, Geelhaar, wat sall dat? wat mienens mit ›to spät‹? Et hett mi joa
keener nich froagt. Un Se ook nich. Un wat weet ick denn ook? Ick weet
joa nix. Ick weet joa joar nix.«
»Ihr wißt genug, Mutter Jeschke.«
»Nei, nei, Geelhaar. Ick weet joar nix.«
»Das ist gerade genug, daß einer Nachts in seinem Garten ein Loch gräbt
und wieder zuschüttet.«
»Joa, Geelhaar, ick weet nich, awers jed’ een möt doch in sien ejen
Goarden en Loch buddeln künn’.«
»Freilich. Aber nicht um Mitternacht und nicht bei solchem Wetter.«
»Na, rieden’s mi man nich rin. Un moaken Se’t good mit mi ... Line,
Line, segg doch ook wat.«
Und wirklich, Line trat in Folge dieser Aufforderung an den Gensdarmen
heran und sagte, tief aufathmend, wie wenn sie mit einer plötzlichen und
mächtigen Sinnen-Erregung zu kämpfen hätte: »Laß nur, Mutter Jeschke.
Herr Geelhaar wird schon wissen, was er zu thun hat. Und wir werden es
auch wissen. Das versteht sich doch von selbst. Nicht wahr, Herr
Geelhaar?«
Dieser nickte zutraulich und sagte mit plötzlich verändertem und wieder
freundlicher werdendem Tone: »Werde schon machen, Mamsell Line. Schulze
Woytasch läßt ja, Gott sei Dank, mit sich reden und Vowinkel auch.
Hauptsach’ is, daß wir den Fuchs überhaupt ins Eisen kriegen. Un is dann
am Ende gleich, _wann_ wir ihn haben und ob ihm der Balg heut oder
morgen abgezogen wird.«


XI.

Vierundzwanzig Stunden später kam – und zwar auf die Meldung hin, die
Geelhaar, gleich nach seinem Gespräche mit der Jeschke, bei der Behörde
gemacht hatte – von Küstrin her ein offener Wagen, in dem, außer dem
Kutscher, der Justizrath und Hradscheck saßen. Die Luft ging scharf und
die Sonne blendete, weßhalb Vowinkel, um sich gegen Beides zu schützen,
seinen Mantel aufgeklappt, der Kutscher aber seinen Kopf bis an Nas’ und
Ohren in den Pelzkragen hineingezogen hatte. Nur Hradscheck saß frei da,
Luft und Licht, deren er seit länger als vier Wochen entbehrt hatte,
begierig einsaugend. Der Wagen fuhr auf der Dammhöhe, von der aus sich
das unten liegende Dorf bequem überblicken und beinah jedes einzelne
Haus in aller Deutlichkeit erkennen ließ. Das da, mit dem schwarzen,
theergestrichenen Gebälk, war das Schulhaus und das gelbe, mit dem
gläsernen Aussichtsthurm, mußte Kunicke’s sein, Kunicke’s »Villa«, wie
die Tschechiner es spöttisch nannten. Das niedrige, grad gegenüber aber,
das war seine, das sah er an dem Birnbaum, dessen schwarzes Gezweig über
die mit Schnee bedeckte Dachfläche wegragte. Vowinkel bemerkte wohl,
wie Hradscheck sich unwillkürlich auf seinem Sitze hob, aber nichts von
Besorgniß drückte sich in seinen Mienen und Bewegungen aus, sondern nur
Freude, seine Heimstätte wieder zu sehen.
Im Dorfe selbst schien man der Ankunft des justizräthlichen Wagens schon
entgegen gesehen zu haben. Auf dem Vorplatz der Igel’schen Brett- und
Schneidemühle, die man, wenn man von der Küstriner Seite her kam, als
erstes Gehöft zu passiren hatte (gerade so wie das Orth’sche nach der
Frankfurter Seite hin), stand der alte Brett- und Schneidemüller und
fegte mit einem kurzen storrigen Besen den Schnee von der obersten
Bretterlage fort, anscheinend aufs Eifrigste mit dieser seiner Arbeit
beschäftigt, in Wahrheit aber nur begierig, den herankommenden
Hradscheck eher als irgend ein anderer im Dorf gesehen zu haben. Denn
Schneidemüller Igel, oder der »Schneidigel«, wie man ihn kurzweg und in
der Regel mit absichtlich undeutlicher Aussprache nannte, war ein
Topfkucker. Aber so topfkuckrig er war, so stolz und hochmüthig war er
auch, und so wandt’ er sich in demselben Augenblicke, wo der Wagen an
ihm vorüberfuhr, rasch wieder auf sein Haus zu, blos um nicht grüßen zu
müssen. Hier nahm er, um seine Neugier, deren er sich schämen mochte,
vor niemandem zu verrathen, Hut und Stock mit besonderer Langsamkeit vom
Riegel und folgte dann dem Wagen, den er übrigens bald danach schon vor
dem Hradscheck’schen Hause vorfahren sah.
Frau Hradscheck war nicht da. Statt ihrer übernahm es Kunicke, den sie
darum gebeten haben mochte, den Wirth und so zu sagen die Honneurs des
Hauses zu machen. Er führte denn auch den Justizrath vom Flur her in den
Laden und von diesem in die dahinter befindliche Weinstube, wo man einen
Imbiß bereit gestellt hatte. Vowinkel nahm aber, unter vorläufiger
freundlicher Ablehnung, nur ein kleines Glas Portwein und trat dann in
den Garten hinaus, wo sich bereits alles, was zur Dorfobrigkeit gehörte,
versammelt hatte: Schulze Woytasch, Gensdarm Geelhaar, Nachtwächter
Mewissen und drei bäuerliche Gerichtsmänner. Geelhaar, der, zur Feier
des Tages, seinen Staats-Czako mit dem armslangen schwarzen Lampenputzer
aufgesetzt hatte, ragte, mit Hilfe dieser Paradezuthaten, um fast drei
Haupteslängen über den Rest aller Anwesenden hinaus. Das war der innere
Zirkel. Im weitern Umkreis aber standen die, die blos aus Neugier sich
eingefunden hatten, darunter der schon stark gefrühstückte Kantorssohn
und Dorfdichter, während einige zwanzig eben aus der Schule
herangekommene Jungens mit ihren Klapp-Pantinen auf das Kegelhaus
geklettert waren, um von hier aus Zeuge zu sein, was wohl bei der Sache
herauskommen würde. Vorläufig indeß begnügten sie sich damit,
Schneebälle zu machen, mit denen sie nach den großen und kleinen Mädchen
warfen, die hinter dem Gartenzaun der alten Jeschke standen. Alles
plapperte, lachte, reckte den Hals, und wäre nicht Hradscheck selbst
gewesen, der, die Blicke seiner alten Freunde vermeidend, ernst und
schweigend vor sich hinsah, so hätte man glauben können, es sei Kirmeß
oder eine winterliche Jahrmarktsscene.
Die Gerichtsmänner flüsterten und steckten die Köpfe zusammen, während
Woytasch und Geelhaar sich umsahen. Es schien noch etwas zu fehlen, was
auch zutraf. Als aber bald danach der alte Todtengräber Wonnekamp mit
noch zwei von seinen Leuten erschien, rückte man näher an den Birnbaum
heran und begann den Schnee, der hier lag, fortzuschippen. Das ging
leicht genug, bis statt des Schnees die gefrorne Erde kam, wo nun die
Pickaxt aushelfen mußte. Der Frost indessen war nicht tief in die Erde
gedrungen, und so konnte man den Spaten nicht nur bald wieder zur Hand
nehmen, sondern kam auch rascher vorwärts, als man anfangs gehofft
hatte. Die herausgeworfenen Schollen und Lehmstücke wurden immer größer,
je weicher der Boden wurde, bis mit einem Male der alte Todtengräber
einem der Arbeiter in den Arm fiel und mit der seinem Stande zuständigen
Ruhe sagte: »Nu giw mi moal; nu kümmt wat.« Dabei nahm er ihm das
Grabscheit ohne weiteres aus der Hand und fing selber an zu graben. Aber
ersichtlich mit großer Vorsicht. Alles drängte vor und wollte sehn. Und
siehe da, nicht lange, so war ein Todter aufgedeckt, der zu großem
Theile noch in Kleiderresten steckte. Die Bewegung wuchs, und aller
Augen richteten sich auf Hradscheck, der, nach wie vor, vor sich hin sah
und nur dann und wann einen scheuen Seitenblick in die Grube that.
»Nu hebben se’n,« lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar
lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem
Kegelhäuschen aber reckten ihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem
sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend ’was sehn zu können.
Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und
sagte, während er ihn dicht an die Grube führte: »Nun, Hradscheck, was
sagen Sie?«
Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte
dann fest und feierlich: »Ich sage, daß dieser Todte meine Unschuld
bezeugen wird.«
Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der
den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten,
geschäftsmäßig sagte: »Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Ich
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