Schach von Wuthenow - 08

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»Awers worümm hebbens denn dat Licht nich utpuust? Dat weet doch
jed-een, wo Licht is, doa sinn ook ümmer Gnitzen un Motten. Ick weet
nich! Un mien oll Kreepsch, he woahrd ook ümmer dümmscher. Jei, jei. Un
nich en Oog to.«
»Doch, Mutter Kreepschen. Ich habe geschlafen, im Boot, und ganz gut und
ganz fest. Aber jetzt frier ich. Und wenns Feuer brennt, dann bringt Ihr
mir wohl was Warmes. Nicht wahr? 'Ne Suppe oder 'nen Kaffee.«
»Jott, et brennt joa all lang, junge Herr; Füer is ümmer dat ihrst.
Versteiht sich, versteiht sich, wat Warm's. Un ick bring et ook glieks;
man blot de oll Zick, de geiht för. Se jloben joar nich, junge Herr, wie
schabernacksch so'n oll' Zick' is. De weet, as ob se 'ne Uhr in'n Kopp
hätt, ob et feif is o'r söss. Un wenn't söss is, denn wohrd se falsch.
Un kumm ick denn un will ehr melken, joa, wat jloben se woll, wat se
denn deiht? Denn stött se mi. Un ümmer hier in't Krüz, dicht bi de
Hüft'. Un worümm? Wiel se weet, dat ick doa miene Wehdag hebben deih.
Awers nu kummen's man ihrst in uns Stuw, un setten sich en beten dahl.
Mien oll Kreepsch is joa nu groad bie't Pierd und schütt't em wat in.
Awers keen Viertelstunn mihr, junge Herr, denn hebben's ehren Koffe. Un
ook wat dato. De oll Semmelfru von Herzberg wihr joa all hier.«
Unter diesen Worten war Schach in Kreepschens gute Stube getreten. Alles
darin war sauber und rein, nur die Luft nicht. Ein eigenthümlicher
Geruch herrschte vor, der von einem Pfeffer- und Koriander-Mixtum
herrührte, das die Kreepschen als Mottenvertreibungsmittel in die
Sophaecken gesteckt hatte. Schach öffnete deshalb das Fenster, kettelte
den Haken ein, und war nun erst im Stande, sich all der Kleinigkeiten zu
freun, die die »gute Stube« schmückten. Ueber dem Sopha hingen zwei
kleine Kalenderbildchen, Anekdoten aus dem Leben des Großen Königs
darstellend, »Du, du« stand unter dem einen, und »_Bon soir, Messieurs_«
unter dem andern. Um die Bilderchen und ihre Goldborte herum hingen zwei
dicke Immortellenkränze mit schwarzen und weißen Schleifen daran,
während auf dem kleinen, niedrigen Ofen eine Vase mit Zittergras stand.
Das Hauptschmuckstück aber war ein Schilderhäuschen mit rothem Dach, in
dem früher, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein Eichkätzchen gehaust und
seinen Futterwagen an der Kette herangezogen hatte. Jetzt war es leer,
und der Wagen hatte stille Tage.
Schach war eben mit seiner Musterung fertig, als ihm auch schon gemeldet
wurde »daß drüben alles klar sei.«
Und wirklich, als er in den Gartensalon eintrat, der ihm ein Nachtlager
so beharrlich verweigert hatte, war er überrascht, was Ordnungssinn und
ein paar freundliche Hände mittlerweile daraus gemacht hatten. Thür und
Fenster standen auf, die Morgensonne füllte den Raum mit Licht und aller
Staub war von Tisch und Sopha verschwunden. Einen Augenblick später
erschien auch schon Krists Frau mit dem Kaffee, die Semmeln in einen
Korb gelegt, und als Schach eben den Deckel von der kleinen Meißner
Kanne heben wollte, klangen vom Dorfe her die Kirchenglocken herauf.
»Was ist denn =das=?« fragte Schach. »Es kann ja kaum sieben sein.«
»Justement sieben, junge Herr.«
»Aber sonst war es doch erst um elf. Und um zwölfe dann Predigt.«
»Joa, so wihr et. Awers nu nich mihr. Un ümmer den dritt'n Sünndag is et
anners. Twee Sünndag', wenn de Radenslebensche kümmt, denn is't um
twölwen, wiel he joa ihrst in Radensleben preestern deiht, awers den
dritten Sünndag, wenn de oll Ruppinsche röwer kümmt, denn is et all um
achten. Un ümmer, wenn uns oll Kriwitz von sine Thurmluk' ut unsen
Ollschen von dröwen abstötten seiht, denn treckt he joa sien Klock. Und
dat's ümmer um seb'n.«
»Wie heißt denn jetzt der Ruppinsche?«
»Na, wie sall he heten? He heet ümmer noch so. Is joa ümmer noch de oll
Bienengräber.«
»Bei dem bin ich ja eingesegnet. War immer ein sehr guter Mann.«
»Joa, dat is he. Man blot, he hett keene Teihn mihr, ook nich een', un
nu brummelt un mummelt he ümmerto, un keen Minsch versteiht em.«
»Das ist gewiß nicht so schlimm, Mutter Kreepschen. Aber die Leute haben
immer was auszusetzen. Und nun gar erst die Bauern! Ich will hingehen
und mal wieder nachsehen, was mir der alte Bienengräber zu sagen hat,
mir und den andern. Hat er denn noch in seiner Stube das große Hufeisen,
dran ein Zehnpfundgewicht hing? Das hab ich mir immer angesehn, wenn ich
nicht aufpaßte.«
»Dat woahrd he woll noch hebben. De Jungens passen joa all nich upp.«
Und nun ging sie, um ihren jungen Herrn nicht länger zu stören, und
versprach ihm ein Gesangbuch zu bringen.
Schach hatte guten Appetit und ließ sich die Herzberger Semmeln
schmecken. Denn seit er Berlin verlassen, war noch kein Bissen über
seine Lippen gekommen. Endlich aber stand er auf, um in die Gartenthür
zu treten und sah von hier aus über das Rondeel und die
Buchsbaumrabatten und weiter dahinter über die Baumwipfel des Parkes
fort, bis sein Auge schließlich auf einem sonnenbeschienenen
Storchenpaar ausruhte, das unten, am Fuße des Hügels, über eine mit
Ampfer und Ranunkel roth und gelb gemusterte Wiese hinschritt.
Er verfiel im Anblicke dieses Bildes in allerlei Betrachtungen; aber es
läutete gerade zum dritten Mal, und so ging er denn ins Dorf hinunter,
um, von dem herrschaftlichen Chorstuhl aus zu hören, »was ihm der alte
Bienengräber zu sagen habe.«
Bienengräber sprach gut genug, so recht aus dem Herzen und der Erfahrung
heraus, und als der letzte Vers gesungen und die Kirche wieder leer war,
wollte Schach auch wirklich in die Sakristei gehen, dem Alten danken für
manches gute Wort aus längst vergangener Zeit her, und ihn in seinem
Boot über den See hin zurückbegleiten. Unterwegs aber wollt er ihm alles
sagen, ihm beichten, und seinen Rath erbitten. Er würde schon Antwort
wissen. Das Alter sei allemal weise, und wenn nicht von Weisheits-, so
doch bloß schon von Alters wegen. »Aber,« unterbrach er sich mitten in
diesem Vorsatze, »was soll mir schließlich seine Antwort? hab ich diese
Antwort nicht schon vorweg? hab ich sie nicht in mir selbst? Kenn ich
nicht die Gebote? Was mir fehlt, ist bloß die Lust, ihnen zu gehorchen.«
Und während er so vor sich hinredete, ließ er den Plan eines
Zwiegesprächs fallen, und stieg den Schloßberg wieder hinauf.
Er hatte von dem Gottesdienst in der Kirche nichts abgehandelt, und
=doch= schlug es erst zehn, als er wieder oben anlangte.
Hier ging er jetzt durch alle Zimmer, einmal, zweimal, und sah sich die
Bilder aller der Schachs an, die zerstreut und in Gruppen an den Wänden
umherhingen. Alle waren in hohen Stellungen in der Armee gewesen, alle
trugen sie den Schwarzen Adler oder den Pour le Merite. =Das= hier war
der General, der bei Malplaquet die große Redoute nahm, und =das= hier
war das Bild seines eigenen Großvaters, des Obersten im Regiment
Itzenplitz, der den Hochkirchner Kirchhof mit vierhundert Mann eine
Stunde lang gehalten hatte. Schließlich fiel er, zerhauen und
zerschossen, wie alle die, die mit ihm waren. Und dazwischen hingen die
Frauen, einige schön, am schönsten aber seine Mutter.
Als er wieder in dem Gartensalon war, schlug es zwölf. Er warf sich in
die Sopha-Ecke, legte die Hand über Aug und Stirn und zählte die
Schläge. »Zwölf. Jetzt bin ich zwölf Stunden hier, und mir ist als wären
es zwölf Jahre .... Wie wird es sein? Alltags die Kreepschen, und
Sonntags Bienengräber oder der Radenslebensche, was keinen Unterschied
macht. Einer wie der andre. Gute Leute, versteht sich, alle gut .... Und
dann geh ich mit Victoire durch den Garten, und aus dem Park auf die
Wiese, dieselbe Wiese, die wir vom Schloß aus immer und ewig und ewig
und immer sehn, und auf der der Ampfer und die Ranunkeln blühn. Und
dazwischen spazieren die Störche. Vielleicht sind wir allein; aber
vielleicht läuft auch ein kleiner Dreijähriger neben uns her und singt
in einem fort: ›Adebaar, Du Bester, bring mir eine Schwester.‹ Und meine
Schloßherrin erröthet und wünscht sich das Schwesterchen =auch=. Und
endlich sind elf Jahre herum, und wir halten an der ›ersten Station,‹ an
der ersten Station, die die ›stroherne Hochzeit‹ heißt. Ein sonderbares
Wort. Und dann ist auch allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen,
malen zu lassen für die Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht
fehlen! Und zwischen die Generäle rück ich dann als Rittmeister ein, und
zwischen die schönen Frauen kommt Victoire. Vorher aber hab ich eine
Konferenz mit dem Maler und sag ihm: ›Ich rechne darauf, daß Sie den
=Ausdruck= zu treffen wissen. Die Seele macht ähnlich.‹ Oder soll ich
ihm geradezu sagen: ›machen Sie's gnädig‹.... Nein, nein!«


Fünfzehntes Kapitel.
Die Schachs und die Carayons.

Was immer geschieht, geschah auch diesmal: die Carayons erfuhren nichts
von dem, was die halbe Stadt wußte. Dienstag, wie gewöhnlich, erschien
Tante Marguerite, fand Victoiren »um dem Kinn etwas spitz« und warf im
Laufe der Tischunterhaltung hin: »Wißt Ihr denn schon, es sollen ja
Karrikatüren erschienen sein?«
Aber dabei blieb es, da Tante Marguerite jenen alten Gesellschaftsdamen
zuzählte, die nur immer von allem »gehört haben«, und als Victoire
fragte: »=was= denn, liebe Tante?« wiederholte sie nur: »Karrikatüren,
liebes Kind. Ich weiß es ganz genau.« Und damit ließ man den
Gesprächsgegenstand fallen.
Es war gewiß ein Glück für Mutter und Tochter, daß sie von den Spott-
und Zerrbildern, deren Gegenstand sie waren, nichts in Erfahrung
brachten; aber für den =Dritt=betheiligten, für Schach, war es ebenso
gewiß ein Unglück und eine Quelle neuer Zerwürfnisse. Hätte Frau von
Carayon, als deren schönster Herzenszug ein tiefes Mitgefühl gelten
konnte, nur die kleinste Vorstellung von all dem Leid gehabt, das, die
ganze Zeit über, über ihren Freund ausgeschüttet worden war, so würde
sie von der ihm gestellten Forderung zwar nicht Abstand genommen, aber
ihm doch Aufschub gewährt und Trost und Theilnahme gespendet haben; ohne
jede Kenntniß jedoch von dem, was inzwischen vorgefallen war, aigrirte
sie sich gegen Schach immer mehr und erging sich von dem Augenblick
an, wo sie von seinem Rückzug nach Wuthenow erfuhr, über seinen
»Wort- und Treubruch«, als den sie's ansah, in den heftigsten und
unschmeichelhaftesten Ausdrücken.
Es war sehr bald, daß sie von diesem Rückzuge hörte. Denselben Abend
noch, an dem Schach seinen Urlaub angetreten hatte, ließ sich
Alvensleben bei den Carayons melden. Victoire, der jede Gesellschaft
peinlich war, zog sich zurück, Frau von Carayon aber ließ bitten und
empfing ihn mit besondrer Herzlichkeit.
»Daß ich Ihnen sagen könnte, lieber Alvensleben, wie sehr ich mich
freue, Sie nach so vielen Wochen einmal wieder zu sehen. Eine Welt von
Dingen hat sich seitdem zugetragen. Und ein Glück, daß Sie standhaft
blieben, als man Ihnen den Luther aufzwingen wollte. Das hätte mir Ihr
Bild ein für allemal verdorben.«
»Und doch, meine Gnädigste, schwankt' ich einen Augenblick, ob ich
ablehnen sollte.«
»Und weshalb?«
»Weil unser beiderseitiger Freund unmittelbar =vor=her abgelehnt hatte.
Nachgerade widersteht es mir, immer wieder und wieder in seine Fußtapfen
zu treten. Giebt es ihrer doch ohnehin schon genug, die mich einfach als
seinen Abklatsch bezeichnen, an der Spitze Zieten, der mir erst neulich
wieder zurief: ›Hüten Sie sich, Alvensleben, daß Sie nicht als
Schach II. in die Rang- und Quartierliste kommen‹.«
»Was nicht zu befürchten steht. Sie sind eben doch anders.«
»Aber nicht besser.«
»Wer weiß.«
»Ein Zweifel, der mich aus dem Munde meiner schönen Frau von Carayon
einigermaßen überrascht, und unsrem verwöhnten Freunde, wenn er davon
hörte, seine Wuthenower Tage vielleicht verleiden würde.«
»Seine Wuthenower Tage?«
»Ja, meine Gnädigste. Mit unbestimmtem Urlaub. Und Sie wissen nicht
davon? Er wird sich doch nicht ohne vorgängigen Abschied von Ihnen in
sein altes Seeschloß zurückgezogen haben, von dem Nostitz neulich
behauptete, daß es halb Wurmfraß und halb Romantik sei.«
»Und doch ist es geschehen. Er ist launenhaft, wie Sie wissen.« Sie
wollte mehr sagen, aber es gelang ihr, sich zu bezwingen und das
Gespräch über allerhand Tagesneuigkeiten fortzusetzen, bei welcher
Gelegenheit Alvensleben zu seiner Beruhigung wahrnahm, daß sie von der
Haupttagesneuigkeit, von dem Erscheinen der Bilder, nicht das Geringste
wußte. Wirklich, es war der Frau von Carayon auch in der
zwischenliegenden halben Woche nicht einen Augenblick in den Sinn
gekommen, etwas Näheres über das von dem Tantchen Angedeutete hören zu
wollen.
Endlich empfahl sich Alvensleben, und Frau von Carayon, alles Zwanges
nunmehr los und ledig, eilte, während Thränen ihren Augen entstürzten,
in Victoirens Zimmer, um ihr die Mittheilung von Schachs Flucht zu
machen. Denn eine Flucht war es.
Victoire folgte jedem Wort. Aber ob es nun ihre Hoffnung und Zuversicht
oder umgekehrt ihre Resignation war, gleichviel, sie blieb ruhig.
»Ich bitte Dich, urtheile nicht zu früh. Ein Brief von ihm wird
eintreffen und über alles Aufklärung geben. Laß es uns abwarten; Du
wirst sehn, daß Du Deinem Verdacht und Deiner Verstimmung gegen ihn mehr
nachgegeben hast, als recht und billig war.«
Aber Frau von Carayon wollte sich nicht umstimmen lassen.
»Ich kannt ihn schon, als Du noch ein Kind warst. Nur zur gut. Er ist
eitel und hochfahrend, und die prinzlichen Höfe haben ihn vollends
überschraubt. Er verfällt mehr und mehr ins Ridiküle. Glaube mir, er
will Einfluß haben und zieht sich im Stillen irgend einen politischen
oder gar staatsmännischen Ehrgeiz groß. Was mich aber am meisten
verdrießt, ist das, er hat sich auch plötzlich auf seinen Obotritenadel
besonnen, und fängt an sein Schach- oder Schachenthum für etwas ganz
Besondres in der Weltgeschichte zu halten.«
»Und thut damit nicht mehr, als was =alle= thun .... Und die Schachs
sind doch =wirklich= eine alte Familie.«
»Daran mag er denken und das Pfauenrad schlagen, wenn er über seinen
Wuthenower Hühnerhof hingeht. Und solche Hühnerhöfe giebt es hier
überall. Aber was soll =uns= das? Oder zum wenigsten was soll es =Dir=? An
mir hätt er vorbeistolzieren und der bürgerlichen Generalpächterstochter,
der kleinen Roturière, den Rücken kehren können. Aber Du
Victoire, Du; Du bist nicht blos meine Tochter, Du bist auch
Deines Vaters Tochter, Du bist eine =Carayon=!«
Victoire sah die Mama mit einem Anfluge schelmischer Verwunderung an.
»Ja, lache nur, Kind, lache laut, ich verüble Dir's nicht. Hast Du mich
doch selber oft genug über diese Dinge lachen sehen. Aber, meine süße
Victoire, die Stunden sind nicht gleich, und heute bitt ich Deinem Vater
ab und dank ihm von Herzen, weil er mir in seinem Adelsstolze, mit dem
er mich zur Verzweiflung gebracht und aus seiner Nähe hinweg gelangweilt
hat, eine willkommene Waffe gegen diesen mir unerträglichen Dünkel in
die Hand giebt. Schach, Schach! Was ist Schach? Ich kenn ihre Geschichte
nicht und =will= sie nicht kennen, aber ich wette diese meine Broche
gegen eine Stecknadel, daß Du, wenn Du das ganze Geschlecht auf die
Tenne wirfst, da, wo der Wind am schärfsten geht, daß nichts übrig
bleibt, sag ich, als ein halbes Dutzend Obersten und Rittmeister, alle
devotest erstorben und alle mit einer Pontaknase. Lehre mich =diese=
Leute kennen!«
»Aber, Mama ....«
»Und nun die Carayons! Es ist wahr, ihre Wiege hat nicht an der Havel
und nicht einmal an der Spree gestanden, und weder im Brandenburger noch
im Havelberger Dom ist je geläutet worden, wenn einer von ihnen kam oder
ging. _Oh, ces pauvres gens, ces malheureux Carayon!_ Sie hatten ihre
Schlösser, beiläufig =wirkliche= Schlösser, so blos armselig an der
Gironde hin, waren blos Girondins und Deines Vaters leibliche Vettern
fielen unter der Guillotine, weil sie treu und frei zugleich waren und
uneingeschüchtert durch das Geschrei des Berges für das Leben ihres
Königs gestimmt hatten.«
Immer verwunderter folgte Victoire.
»Aber,« fuhr Frau von Carayon fort, »ich will nicht von
Jüngstgeschehenem sprechen, will nicht sprechen von =heute=. Denn ich
weiß wohl, das von Heutesein ist immer ein Verbrechen in den Augen
derer, die schon gestern da waren, gleichviel =wie=. Nein, ich will von
alten Zeiten sprechen, von Zeiten, als der erste Schach ins Land und an
den Ruppiner See kam, und einen Wall und Graben zog, und eine
lateinische Messe hörte, von der er nichts verstand. Eben damals zogen
die Carayons, _ces pauvres et malheureux Carayon_, mit vor Jerusalem und
eroberten es und befreiten es. Und als sie heimkamen, da kamen Sänger an
ihren Hof, und sie sangen selbst, und als Victoire de Carayon (ja sie
hieß auch Victoire) sich dem großen Grafen von Lusignan vermählte,
dessen erlauchter Bruder Großprior des hohen Ordens vom Spital und
endlich König von Cypern war, da waren wir mit einem Königshause
versippt und verschwägert, mit den Lusignans, aus deren großem Hause die
schöne Melusine kam, unglücklichen aber Gott sei Dank unprosaischen
Angedenkens. Und von uns Carayons, die wir ganz andere Dinge gesehn
haben, will sich dieser Schach abwenden und sich hochmüthig zurückziehn?
=Unsrer= will er sich schämen? Er, Schach. Will er es als Schach, oder
will er es als Grundherr von Wuthenow? Ah, bah! Was ist es denn mit
beiden? Schach ist ein blauer Rock mit einem rothen Kragen, und Wuthenow
ist eine Lehmkathe.«
»Mama, glaube mir, Du thust ihm Unrecht. Ich such es nach einer andern
Seite hin. Und da =find= ich es auch.«
Frau von Carayon beugte sich zu Victoire nieder und küßte sie
leidenschaftlich. »Ach, wie gut Du bist, viel viel besser, als Deine
Mama. Und nur =Eines= ist gut an ihr, daß sie Dich liebt. Er aber sollte
Dich =auch= lieben! Schon um Deiner Demuth willen.«
Victoire lächelte.
»Nein, nicht so. Der Glaube, daß Du verarmt und ausgeschieden seiest,
beherrscht Dich mit der Macht einer fixen Idee. Du =bist= nicht so
verarmt. Und auch er ....«
Sie stockte.
»Sieh, Du warst ein schönes Kind, und Alvensleben hat mir erzählt, in
welch enthusiastischen Worten der Prinz erst neulich wieder von Deiner
Schönheit auf dem Massowschen Balle gesprochen habe. Das ist nicht hin,
davon blieb Dir, und jeder muß es finden, der ihm liebevoll in Deinen
Zügen nachzugehen den Sinn und das Herz hat. Und wenn wer dazu
verpflichtet ist, so ist =er='s! Aber er sträubt sich, denn so hautain
er ist, so konventionell ist er. Ein kleiner ängstlicher Aufmerker. Er
hört auf das, was die Leute sagen, und wenn das ein Mann thut (=wir=
müssen's), so heiß ich das Feigheit und _lâcheté_. Aber er soll mir Rede
stehn. Ich habe meinen Plan jetzt fertig und will ihn demüthigen, so
gewiß er =uns= demüthigen wollte.«
Frau von Carayon kehrte nach diesem Zwiegespräch in das Eckzimmer
zurück, setzte sich an Victoirens kleinen Schreibtisch und schrieb.
»Einer Mittheilung Herrn von Alvenslebens entnehme ich, daß Sie, mein
Herr von Schach, heute, Sonnabend Abend, Berlin verlassen und sich für
einen Landaufenthalt in Wuthenow entschieden haben. Ich habe keine
Veranlassung, Ihnen diesen Landaufenthalt zu mißgönnen oder Ihre
Berechtigung dazu zu bestreiten, muß aber Ihrem Rechte =das= meiner
Tochter gegenüberstellen. Und so gestatten Sie mir denn, Ihnen in
Erinnerung zu bringen, daß die Veröffentlichung des Verlöbnisses, für
morgen, Sonntag, zwischen uns verabredet worden ist. Auf diese
Veröffentlichung besteh ich auch heute noch. Ist sie bis Mittwoch früh
nicht erfolgt, erfolgen meinerseits andre, durchaus selbstständige
Schritte. So sehr dies meiner Natur widerspricht (Victoirens ganz zu
geschweigen, die von diesem meinem Schreiben nichts weiß und nur bemüht
sein würde, mich daran zu hindern), so lassen mir doch die Verhältnisse,
die Sie, das Mindeste zu sagen, nur zu gut kennen, keine Wahl. Also bis
auf Mittwoch! Josephine von Carayon.«
Sie siegelte den Brief und übergab ihn persönlich einem Boten mit der
Weisung, sich bei Tagesanbruch nach Wuthenow hin auf den Weg zu machen.
Auf Antwort zu warten, war ihm eigens untersagt worden.


Sechzehntes Kapitel.
Frau von Carayon und der alte Köckritz.

Der Mittwoch kam und ging, ohne daß ein Brief Schachs oder gar die
geforderte Verlobungsankündigung erschienen wäre. Frau von Carayon hatte
dies nicht anders erwartet und ihre Vorbereitungen darauf hin getroffen.
Am Donnerstag früh hielt ein Wagen vor ihrem Hause, der sie nach Potsdam
hinüber führen sollte, wo sich der König seit einigen Wochen aufhielt.
Sie hatte vor, einen Fußfall zu thun, ihm den ihr widerfahrenen Affront
vorzustellen und seinen Beistand anzurufen. Daß es in des Königs Macht
stehen werde, diesen Beistand zu gewähren und einen Ausgleich
herbeizuführen, war ihr außer Zweifel. Auch über die Mittel und Wege,
sich Sr. Majestät zu nähern, hatte sie nachgedacht, und mit gutem
Erfolge. Sie kannte den Generaladjutanten von Köckritz, der vor dreißig
Jahren und länger, als ein junger Lieutenant oder Stabskapitän, in ihrem
elterlichen Hause verkehrt und der »kleinen Josephine«, dem allgemeinen
Verzuge, manche Bonbonnière geschenkt hatte. Der war jetzt Liebling des
Königs, einflußreichste Person seiner nächsten Umgebung, und durch
=ihn=, zu dem sie wenigstens in oberflächlichen Beziehungen geblieben
war, hoffte sie sich einer Audienz versichert halten zu dürfen.
Um die Mittagsstunde war Frau von Carayon drüben, stieg im »Einsiedler«
ab, ordnete ihre Toilette, und begab sich sofort ins Schloß. Aber hier
mußte sie von einem zufällig die Freitreppe herabkommenden Kammerherrn
in Erfahrung bringen, daß Seine Majestät Potsdam bereits wieder
verlassen und sich zur Begrüßung Ihrer Majestät der Königin, die Tags
darauf aus Bad Pyrmont zurückzukehren gedenke, nach =Paretz= begeben
habe, wo man, frei vom Zwange des Hofes, eine Woche lang in glücklicher
Zurückgezogenheit zu verleben gedenke.
Das war nun freilich eine böse Nachricht. Wer sich zu einem peinlichen
Gange (und wenn es der »hochnothpeinlichste« wäre) anschickt und mit
Sehnsucht auf das Schreckensende wartet, für den ist nichts härter als
Vertagung. Nur rasch, rasch! Eine kurze Strecke geht es, aber dann
versagen die Nerven.
Schweren Herzens, und geängstigt durch die Vorstellung, daß ihr dieser
Fehlschlag vielleicht einen Fehlschlag überhaupt bedeute, kehrte Frau
von Carayon in das Gasthaus zurück. An eine Fahrt nach Paretz hinaus war
für heute nicht mehr zu denken, um so weniger, als zu so später
Nachmittagszeit unmöglich noch eine Audienz erbeten werden konnte. So
denn also warten bis morgen! Sie nahm ein kleines Diner, setzte sich
wenigstens zu Tisch, und schien entschlossen, die langen langen Stunden
in Einsamkeit auf ihrem Zimmer zu verbringen. Aber die Gedanken und
Bilder, die vor ihr aufstiegen und vor allem die feierlichen Ansprachen,
die sie sich zum hundertsten Male wiederholte, so lange wiederholte, bis
sie zuletzt fühlte, sie werde, wenn der Augenblick da sei, kein einziges
Wort hervorbringen können, -- alles das gab ihr zuletzt den gesunden
Entschluß ein, sich gewaltsam aus ihren Grübeleien herauszureißen und in
den Straßen und Umgebungen der Stadt umherzufahren. Ein Lohndiener
erschien denn auch, um ihr seine Dienste zur Verfügung zu stellen, und
um die sechste Stunde hielt eine mittel-elegante Miethschaise vor dem
Gasthause, da sich das von Berlin her benutzte Gefährt, nach seiner
halbtägigen Anstrengung im Sommersand, als durchaus ruhebedürftig
herausgestellt hatte.
»Wohin befehlen, gnädige Frau?«
»Ich überlaß es Ihnen. Nur keine Schlösser, oder doch so wenig wie
möglich; aber Park und Garten, und Wasser und Wiesen.«
»_Ah, je comprends_,« radebrechte der Lohndiener, der sich daran gewöhnt
hatte, seine Fremden ein für allemal als Halbfranzosen zu nehmen, oder
vielleicht auch dem französischen Namen der Frau von Carayon einige
Berücksichtigung schuldig zu sein glaubte. »_Je comprends._« Und er gab
dem in einem alten Tressenhut auf dem Bock sitzenden Kutscher Ordre,
zunächst in den »Neuen Garten« zu fahren.
In dem »Neuen Garten« war es wie todt, und eine dunkle, melancholische
Cypressenallee schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Endlich lenkte man
nach rechts hin in einen neben einem See hinlaufenden Weg ein, dessen
einreihig gepflanzte Bäume mit ihrem weit ausgestreckten und
niederhängenden Gezweige den Wasserspiegel berührten. In dem Gitterwerke
der Blätter aber glomm und glitzerte die niedergehende Sonne. Frau von
Carayon vergaß über diese Schönheit all ihr Leid, und fühlte sich dem
Zauber derselben erst wieder entrissen, als der Wagen aus dem Uferweg
abermals in den großen Mittelgang einbog, und gleich danach vor einem
aus Backstein aufgeführten, im Uebrigen aber mit Gold und Marmor reich
geschmückten Hause hielt.
»Wem gehört es?«
»Dem König.«
»Und wie heißt es?«
»Das Marmor-Palais.«
»Ah das Marmor-Palais. Das ist also das Palais ....«
»Zu dienen, gnädige Frau. Das ist das Palais, in dem weiland Seine
Majestät König Friedrich Wilhelm der Zweite seiner langen und
schmerzlichen Wassersucht allerhöchst erlag. Und steht auch noch alles
ebenso, wies damals gestanden hat. Ich kenne das Zimmer ganz genau, wo
der gute gnädige Herr immer ›den Lebensgas‹ trank, den ihm der
Geheimrath Hufeland in einem kleinen Ballon ans Bett bringen ließ oder
vielleicht auch bloß in einer Kalbsblase. Wollen die gnädige Frau das
Zimmer sehn? Es ist freilich schon spät. Aber ich kenne den
Kammerdiener, und er thut es, denk ich, auf meinen Empfehl .... versteht
sich .... Und ist auch dasselbe kleine Zimmer, worin sich eine Figur von
der Frau Rietz oder wie manche sagen von der Mamsell Encken oder der
Gräfin Lichtenau befindet, das heißt, nur eine kleine Figur, so bloß bis
an die Hüften oder noch weniger.«
Frau von Carayon dankte. Sie war bei dem Gange, der ihr für morgen
bevorstand, nicht in der Laune, das Allerheiligste der Rietz oder auch
nur ihre Porträtbüste kennen lernen zu wollen. Sie sprach also den
Wunsch aus, immer weiter in den Park hineinzufahren, und ließ erst
umkehren, als schon die Sonne nieder war und ein kühlerer Luftton den
Abend ankündigte. Wirklich, es schlug neun, als man auf der Rückfahrt an
der Garnisonkirche vorüberkam, und ehe noch das Glockenspiel seinen
Choral ausgespielt hatte, hielt der Wagen wieder vor dem »Einsiedler.«
Die Fahrt hatte sie gekräftigt und ihr ihren Muth zurückgegeben. Dazu
kam eine wohlthuende Müdigkeit, und sie schlief besser als seit lange.
Selbst was sie träumte, war hell und licht.
Am andern Morgen erschien, wie verabredet, ihre nun wieder ausgeruhte
Berliner Equipage vor dem Hotel; da sie jedoch allen Grund hatte, der
Kenntniß und Umsicht ihres eigenen Kutschers zu mißtrauen, engagirte
sie, wie zur Aushilfe, denselben Lohndiener wieder, der sich gestern,
aller kleinen Eigenheiten seines Standes unerachtet, so vorzüglich
bewährt hatte. Das gelang ihm denn auch heute wieder. Er wußte von jedem
Dorf und Lustschloß, an dem man vorüber kam, zu berichten, am meisten
von Marquardt, aus dessen Parke, zu wenigstens vorübergehendem Interesse
der Frau von Carayon, jenes Gartenhäuschen hervorschimmerte, darin unter
Zuthun und Anleitung des Generals von Bischofswerder, dem »dicken
Könige« (wie sich der immer konfidentieller werdende Cicerone jetzt ohne
weiteres ausdrückte) die Geister erschienen waren.
Eine Viertelmeile hinter Marquardt hatte man die »Wublitz«, einen von
Mummeln überblühten Havelarm zu passiren, dann folgten Aecker und
Wiesengründe, die hoch in Gras und Blumen standen, und ehe noch die
Mittagsstunde heran war, war ein Brückensteg und alsbald auch ein
offenstehendes Gitterthor erreicht, das den Paretzer Parkeingang
bildete.
Frau von Carayon, die sich ganz als Bittstellerin empfand, ließ in dem
ihr eigenen, feinen Gefühl an dieser Stelle halten und stieg aus, um den
Rest des Weges zu Fuß zu machen. Es war nur eine kleine,
sonnenbeschienene Strecke noch, aber gerade das Sonnenlicht war ihr
peinlich, und so hielt sie sich denn seitwärts unter den Bäumen hin, um
nicht vor der Zeit gesehen zu werden.
Endlich indeß war sie bis an die Sandsteinstufen des Schlosses heran und
schritt sie tapfer hinauf. Die Nähe der Gefahr hatte ihr einen Theil
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