Schach von Wuthenow - 06

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z. B. in der Lehre vom Abendmahl.«
»O nein, meine liebe Victoire, =das= weiß ich ganz genau. Mit oder ohne
Wein, das macht keinen so großen Unterschied; aber ob unsre
_prédicateurs_ in einer sittlich getrauten Ehe leben oder nicht, =das=,
mein Engelchen, ist von einer würklichen _importance_.«
»Und ich finde, Tante Marguerite hat ganz Recht,« sagte Frau von
Carayon.
»Und das ist es auch,« fuhr die gegen alles Erwarten Belobigte fort,
»was das Stück =will=, und was man um so deutlicher sieht, als die
Bethmann würklich eine sehr hübsche Frau ist. Oder doch zum wenigstens
viel hübscher, als sie würklich war. Ich meine die Nonne. Was aber
nichts schadet, denn er war ja auch kein hübscher Mann, und lange nicht
so hübsch als =er=. Ja werde nur roth, meine liebe Victoire, so viel
weiß ich auch.«
Frau von Carayon lachte herzlich.
»Und das muß wahr sein, unser Herr Rittmeister von Schach ist würklich
ein =sehr= angenehmer Mann, und ich denke noch ümmer an Tempelhof und
den aufrechtstehenden Ritter .... Und wißt Ihr denn, in Wülmersdorf soll
auch einer sein, und auch ebenso weggeschubbert. Und von wem ich es
habe? Nun? Von _la petite Princesse Charlotte_.«


Zehntes Kapitel.
»Es muß etwas geschehn.«

Die »Weihe der Kraft« wurde nach wie vor gegeben, und Berlin hörte nicht
auf in zwei Lager getheilt zu sein. Alles was mystisch-romantisch war,
war =für=, alles was freisinnig war, =gegen= das Stück. Selbst im Hause
Carayon setzte sich diese Fehde fort, und während die Mama theils um des
Hofes, theils um ihrer eignen »Gefühle« willen überschwänglich
mitschwärmte, fühlte sich Victoire von diesen Sentimentalitäten
abgestoßen. Sie fand alles unwahr und unecht, und versicherte, daß
Schach in jedem seiner Worte Recht gehabt habe.
Dieser kam jetzt von Zeit zu Zeit, aber doch immer nur, wenn er sicher
sein durfte, Victoiren in Gesellschaft der Mutter zu treffen. Er bewegte
sich wieder viel in den »großen Häusern,« und legte, wie Nostitz
spottete, den Radziwills und Carolaths zu, was er den Carayons entzog.
Auch Alvensleben scherzte darüber, und selbst Victoire versuchte, den
gleichen Ton zu treffen. Aber ohne daß es ihr glücken wollte. Sie
träumte so hin, und nur eigentlich traurig war sie nicht. Noch weniger
unglücklich.
Unter denen, die sich mit dem Stück, also mit der Tagesfrage
beschäftigten, waren auch die Offiziere vom Regiment Gensdarmes, obschon
ihnen nicht einfiel, sich ernsthaft auf ein =Für= oder =Wider=
einzulassen. Sie sahen alles ausschließlich auf seine komische Seite hin
an, und fanden in der Auflösung eines Nonnenklosters, in Katharina von
Boras, »neunjähriger Pflegetochter« und endlich in dem beständig Flöte
spielenden Luther, einen unerschöpflichen Stoff für ihren Spott und
Uebermuth.
Ihr Lieblingsversammlungsort in jenen Tagen war die Wachtstube des
Regiments, wo die jüngeren Kameraden den dienstthuenden Offizier zu
besuchen und sich bis in die Nacht hinein zu divertiren pflegten. Unter
den Gesprächen, die man in Veranlassung der neuen Komödie hier führte,
kamen Spöttereien wie die vorgenannten kaum noch von der Tagesordnung,
und als einer der Kameraden daran erinnerte, daß das neuerdings von
seiner früheren Höhe herabgestiegene Regiment eine Art patriotische
Pflicht habe, sich mal wieder »als es selbst« zu zeigen, brach ein
ungeheurer Jubel aus, an dessen Schluß alle einig waren, »daß etwas
geschehen müsse.« Daß es sich dabei lediglich um eine Travestie der
»Weihe der Kraft«, etwa durch eine Maskerade, handeln könne, stand von
vornherein fest, und nur über das »wie« gingen die Meinungen noch
auseinander. In Folge davon beschloß man, ein paar Tage später eine
=neue= Zusammenkunft abzuhalten, in der nach Anhörung einiger
Vorschläge, der eigentliche Plan fixirt werden sollte.
Rasch hatte sich's herumgesprochen, und als Tag und Stunde da waren,
waren einige zwanzig Kameraden in dem vorerwähnten Lokal erschienen:
Itzenplitz, Jürgaß und Britzke, Billerbeck und Diricke, Graf Haeseler,
Graf Herzberg, von Rochow, von Putlitz, ein Kracht, ein Klitzing, und
nicht zum letzten ein schon älterer Lieutenant von Zieten, ein kleines,
häßliches und säbelbeiniges Kerlchen, das durch entfernte Vetterschaft
mit dem berühmten General und beinahe mehr noch durch eine keck in die
Welt hineinkrähende Stimme zu balanciren wußte, was ihm an sonstigen
Tugenden abging. Auch Nostitz und Alvensleben waren erschienen. Schach
fehlte.
»Wer präsidirt?« fragte Klitzing.
»Nur zwei Möglichkeiten,« antwortete Diricke. »Der längste oder der
kürzeste. Will also sagen, Nostitz oder Zieten.«
»Nostitz, Nostitz,« riefen alle durcheinander, und der so durch
Akklamation Gewählte nahm auf einem ausgebuchteten Gartenstuhle Platz.
Flaschen und Gläser standen die lange Tafel entlang.
»Rede halten: Assemblée nationale ....«
Nostitz ließ den Lärm eine Weile dauern, und klopfte dann erst mit dem
ihm als Zeichen seiner Würde zur Seite liegenden Pallasch auf den Tisch.
»_Silentium, Silentium._«
»Kameraden vom Regiment Gensdarmes, Erben eines alten Ruhmes auf dem
Felde militärischer und gesellschaftlicher Ehre (denn wir haben nicht
nur der Schlacht die Richtung, wir haben auch der Gesellschaft den =Ton=
gegeben), Kameraden, sag ich, wir sind schlüssig geworden: =es muß etwas
geschehn!=«
»Ja, ja. Es muß etwas geschehn.«
»Und neu geweiht durch die ›Weihe der Kraft‹, haben wir, dem alten
Luther und uns selber zu Liebe, beschlossen, einen Aufzug zu
bewerkstelligen, von dem die spätesten Geschlechter noch melden sollen.
Es muß etwas Großes werden! Erinnern wir uns, wer nicht vorschreitet,
der schreitet zurück. Ein Aufzug also. So viel steht fest. Aber Wesen
und Charakter dieses Aufzuges bleibt noch zu fixiren, und zu diesem
Behufe haben wir uns hier versammelt. Ich bin bereit, Ihre Vorschläge
der Reihe nach entgegen zu nehmen. Wer Vorschläge zu machen hat, melde
sich.«
Unter denen, die sich meldeten, war auch Lieutenant von Zieten.
»Ich gebe dem Lieutenant von Zieten das Wort.«
Dieser erhob sich und sagte, während er sich leicht auf der Stuhllehne
wiegte: »Was ich vorzuschlagen habe, heißt =Schlittenfahrt=.«
Alle sahen einander an, Einige lachten.
»Im Juli?«
»Im Juli,« wiederholte Zieten. »Unter den Linden wird Salz gestreut, und
über diesen Schnee hin, geht unsre Fahrt. Erst ein paar aufgelöste
Nonnen; in dem großen Hauptschlitten aber, der die Mitte des Zuges
bildet, paradiren Luther und sein Famulus, jeder mit einer Flöte,
während Katharinchen auf der Pritsche reitet. _Ad libitum_ mit Fackel
oder Schlittenpeitsche. Vorreiter eröffnen den Zug. Kostüme werden dem
Theater entnommen oder angefertigt. Ich habe gesprochen.«
Ein ungeheurer Lärm antwortete, bis der Ruhe gebietende Nostitz endlich
durchdrang. »Ich nehme diesen Lärm einfach als Zustimmung, und
beglückwünsche Kamerad Zieten, mit einem einzigen und ersten
Meisterschuß gleich ins Schwarze getroffen zu haben. Also
Schlittenfahrt. Angenommen?«
»Ja, ja.«
»So bleibt nur noch Rollenvertheilung. Wer giebt den Luther?«
»Schach.«
»Er wird ablehnen.«
»Nicht doch,« krähte Zieten, der gegen den schönen, ihm bei mehr als
einer Gelegenheit vorgezogenen Schach eine Spezialmalice hegte: »wie
kann man Schach so verkennen! Ich kenn ihn besser. Er wird es freilich
eine halbe Stunde lang beklagen, sich hohe Backenknochen auflegen und
sein Normal-Oval in eine bäurische _tête carré_ verwandeln zu müssen.
Aber schließlich wird er Eitelkeit gegen Eitelkeit setzen, und seinen
Lohn darin finden, auf vierundzwanzig Stunden der Held des Tages zu
sein.«
Ehe Zieten noch ausgesprochen hatte, war von der Wache her ein Gefreiter
eingetreten, um ein an Nostitz adressiertes Schreiben abzugeben.
»Ah, _lupus in fabula_.«
»Von Schach?«
»Ja!«
»Lesen, lesen!«
Und Nostitz erbrach den Brief und las. »Ich bitte Sie, lieber Nostitz,
bei der muthmaßlich in eben diesem Augenblicke stattfindenden
Versammlung unsrer jungen Offiziere, meinen Vermittler und wenn nöthig,
auch meinen Anwalt machen zu wollen. Ich habe das Zirkular erhalten, und
war anfänglich gewillt zu kommen. Inzwischen aber ist mir mitgetheilt
worden, um was es sich aller Wahrscheinlichkeit nach handeln wird, und
diese Mittheilung hat meinen Entschluß geändert. Es ist Ihnen kein
Geheimniß, daß all das, was man vorhat, meinem Gefühl widerstreitet, und
so werden Sie sich mit Leichtigkeit herausrechnen können, wie viel oder
wie wenig ich (dem schon ein =Bühnen=-Luther _contre coeur_ war) für
einen Mummenschanz-Luther übrig habe. Daß wir diesen Mummenschanz in
eine Zeit verlegen, die nicht einmal eine Fastnachtsfreiheit in Anspruch
nehmen darf, bessert sicherlich nichts. Jüngeren Kameraden soll aber
durch diese meine Stellung zur Sache kein Zwang auferlegt werden, und
jedenfalls darf man sich meiner Diskretion versichert halten. Ich bin
nicht das Gewissen des Regiments, noch weniger sein Aufpasser. Ihr
Schach.«
»Ich wußt es,« sagte Nostitz in aller Ruhe, während er das Schachsche
Billet an dem ihm zunächst stehenden Lichte verbrannte. »Kamerad Zieten
ist größer in Vorschlägen und Phantastik, als in Menschenkenntniß. Er
will mir antworten, seh ich, aber ich kann ihm nicht nachgeben, denn in
diesem Augenblicke heißt es ausschließlich: wer spielt den Luther? Ich
bringe den Reformator unter den Hammer. Der Meistbietende hat ihn. Zum
Ersten, Zweiten und zum .... Dritten. Niemand? So bleibt mir nichts
übrig als Ernennung: Alvensleben, Sie.«
Dieser schüttelte den Kopf. »Ich stehe dazu wie Schach; machen Sie das
Spiel, ich bin kein Spielverderber, aber ich spiele persönlich nicht
mit. Kann nicht und will nicht. Es steckt mir dazu zu viel Katechismus
_Lutheri_ im Leibe.«
Nostitz wollte nicht gleich nachgeben. »Alles zu seiner Zeit,« nahm er
das Wort »und wenn der Ernst seinen Tag hat, so hat der Scherz
wenigstens seine Stunde. Sie nehmen alles zu gewissenhaft, zu feierlich,
zu pedantisch. Auch darin wie Schach. Keinerlei Ding ist an sich gut
oder bös. Erinnern Sie sich, daß wir den alten Luther nicht verhöhnen
wollen, im Gegentheil, wir wollen ihn rächen. Was verhöhnt werden soll,
ist das =Stück=, ist die Lutherkarrikatur, ist der Reformator in
falschem Licht und an falscher Stelle. Wir sind Strafgericht, Instanz
aller oberster Sittlichkeit. Thun Sie's. Sie dürfen uns nicht im Stiche
lassen oder es fällt alles in den Brunnen.«
Andere sprachen in gleichem Sinn. Aber Alvensleben blieb fest, und eine
kleine Verstimmung schwand erst, als sich unerwartet (und eben deshalb
von allgemeinstem Jubel begrüßt) der junge Graf Herzberg erhob, um sich
für die Lutherrolle zu melden.
Alles was danach noch zu ordnen war, ordnete sich rasch, und ehe zehn
Minuten um waren, waren bereits die Hauptrollen vertheilt: Graf Herzberg
den Luther, Diricke den Famulus, Nostitz, wegen seiner kolossalen Größe,
die Katharina von Bora. Der Rest wurde einfach als Nonnenmaterial
eingeschrieben, und nur Zieten, dem man sich besonders verpflichtet
fühlte, rückte zur Aebtissin auf. Er erklärte denn auch sofort, auf
seinem Schlittensitz ein »_jeu_ entriren« oder mit dem Klostervogt eine
Partie Mariage spielen zu wollen. Ein neuer Jubel brach aus, und nachdem
noch in aller Kürze der nächste Montag für die Maskerade festgesetzt,
alles Ausplaudern aber aufs strengste verboten worden war, schloß
Nostitz die Sitzung.
In der Thür drehte sich Diricke noch einmal um, und fragte: »Aber wenn's
regnet?«
»Es darf nicht regnen.«
»Und was wird aus dem Salz?«
»_C'est pour les domestiques._«
»_Et pour la canaille_,« schloß der jüngste Cornet.


Elftes Kapitel.
Die Schlittenfahrt.

Schweigen war gelobt worden, und es blieb auch wirklich verschwiegen.
Ein vielleicht einzig dastehender Fall. Wohl erzählte man sich in der
Stadt, daß die Gensdarmes »etwas vorhätten« und mal wieder über einem
jener tollen Streiche brüteten, um derentwillen sie vor andern
Regimentern einen Ruf hatten, aber man erfuhr weder worauf die Tollheit
hinauslaufen werde, noch auch für welchen Tag sie geplant sei. Selbst
die Carayonschen Damen, an deren letztem Empfangsabende weder Schach
noch Alvensleben erschienen waren, waren ohne Mittheilung geblieben, und
so brach denn die berühmte »Sommer-Schlittenfahrt« über Näher- und
Fernerstehende gleichmäßig überraschend herein.
In einem der in der Nähe der Mittel- und Dorotheenstraße gelegenen
Stallgebäude hatte man sich bei Dunkelwerden versammelt, und ein Dutzend
prachtvoll gekleideter und von Fackelträgern begleiteter Vorreiter
vorauf, ganz also wie Zieten es proponirt hatte, schoß man mit dem
Glockenschlage neun an dem Akademiegebäude vorüber auf die Linden zu,
jagte weiter abwärts erst in die Wilhelms-, dann aber umkehrend in die
Behren- und Charlottenstraße hinein und wiederholte diese Fahrt um das
ebenbezeichnete Linden-Quarré herum in einer immer gesteigerten Eile.
Als der Zug das =erste= Mal an dem Carayonschen Hause vorüberkam und das
Licht der vorausreitenden Fackeln grell in alle Scheiben der Bel-Etage
fiel, eilte Frau von Carayon, die sich zufällig allein befand,
erschreckt ans Fenster und sah auf die Straße hinaus. Aber statt des
Rufes »Feuer«, den sie zu hören erwartete, hörte sie nur, wie mitten im
Winter, ein Knallen großer Hetz- und Schlittenpeitschen mit
Schellengeläut dazwischen, und ehe sie sich zurecht zu finden im Stande
war, war alles schon wieder vorüber und ließ sie verwirrt und fragend
und in einer halben Betäubung zurück. In solchem Zustande war es, daß
Victoire sie fand.
»Um Gotteswillen, Mama, was ist?«
Aber ehe Frau von Carayon antworten konnte, war die Spitze der Maskerade
zum =zweiten= Male heran, und Mutter und Tochter, die jetzt rasch und zu
bessrer Orientirung von ihrem Eckzimmer aus auf den Balkon
hinausgetreten waren, waren von diesem Augenblick an nicht länger mehr
im Zweifel, was das Ganze bedeute. Verhöhnung, gleichviel auf wen und
was. Erst unzüchtige Nonnen, mit einer Hexe von Aebtissin an der Spitze,
johlend, trinkend und Karte spielend, und in der Mitte des Zuges ein auf
Rollen laufender und in der Fülle seiner Vergoldung augenscheinlich als
Triumphwagen gedachter Hauptschlitten, in dem Luther sammt Famulus und
auf der Pritsche Katharina von Bora saß. An der riesigen Gestalt
erkannten sie Nostitz. Aber wer war =der= auf dem Vordersitz? fragte
sich Victoire. Wer verbarg sich hinter dieser Luther-Maske? War =er= es?
Nein, es war unmöglich. Und doch, auch wenn er es =nicht= war, er war
doch immer ein Mitschuldiger in diesem widerlichen Spiele, das er
gutgeheißen oder wenigstens nicht gehindert hatte. Welche verkommne
Welt, wie pietätlos, wie baar aller Schicklichkeit! Wie schaal und ekel.
Ein Gefühl unendlichen Wehs ergriff sie, das Schöne verzerrt und das
Reine durch den Schlamm gezogen zu sehen. Und warum? Um einen Tag lang
von sich reden zu machen, um einer kleinlichen Eitelkeit willen. Und
=das= war die Sphäre, darin sie gedacht und gelacht, und gelebt und
gewebt, und darin sie nach Liebe verlangt, und ach, das Schlimmste von
allem, an Liebe geglaubt hatte!
»Laß uns gehen,« sagte sie, während sie den Arm der Mutter nahm, und
wandte sich, um in das Zimmer zurückzukehren. Aber ehe sie's erreichen
konnte, wurde sie wie von einer Ohnmacht überrascht und sank auf der
Schwelle des Balkons nieder.
Die Mama zog die Klingel, Beate kam, und beide trugen sie bis an das
Sopha, wo sie gleich danach von einem heftigen Brustkrampfe befallen
wurde. Sie schluchzte, richtete sich auf, sank wieder in die Kissen, und
als die Mutter ihr Stirn und Schläfe mit kölnischem Wasser waschen
wollte, stieß sie sie heftig zurück. Aber im nächsten Augenblick riß sie
der Mama das Flacon aus der Hand und goß es sich über Hals und Nacken.
»Ich bin mir zuwider, zuwider wie die Welt. In meiner Krankheit damals
hab ich Gott um mein Leben gebeten .... Aber wir =sollen= nicht um unser
Leben bitten .... Gott weiß am besten, was uns frommt. Und wenn er uns
zu sich hinaufziehen will, so sollen wir nicht bitten: laß uns noch ....
O, wie schmerzlich ich das fühle! Nun leb ich .... Aber wie, wie!«
Frau von Carayon kniete neben dem Sopha nieder und sprach ihr zu.
Denselben Augenblick aber schoß der Schlittenzug zum =dritten= Mal an
dem Hause vorüber, und wieder war es, als ob sich schwarze phantastische
Gestalten in dem glührothen Scheine jagten und haschten. »Ist es nicht
wie die Hölle?« sagte Victoire, während sie nach dem Schattenspiel an
der Decke zeigte.
Frau von Carayon schickte Beaten, um den Arzt rufen zu lassen. In
Wahrheit aber lag ihr weniger an dem Arzt, als an einem Alleinsein und
einer Aussprache mit dem geliebten Kinde.
»Was ist Dir? Und wie Du nur fliegst und zitterst. Und siehst so starr.
Ich erkenne meine heitre Victoire nicht mehr. Ueberlege, Kind, was ist
denn geschehen? Ein toller Streich mehr, einer unter vielen, und ich
weiß Zeiten, wo Du diesen Uebermuth mehr belacht als beklagt hättest. Es
ist etwas andres, was Dich quält und drückt; ich seh es seit Tagen
schon. Aber Du verschweigst mir's, Du hast ein Geheimniß. Ich beschwöre
Dich, Victoire, sprich. Du darfst es. Es sei, was es sei.«
Victoire schlang ihren Arm um Frau von Carayons Hals, und ein Strom von
Thränen entquoll ihrem Auge.
»Beste Mutter!«
Und sie zog sie fester an sich, und küßte sie und beichtete ihr alles.


Zwölftes Kapitel.
Schach bei Frau von Carayon.

Am andern Vormittage saß Frau von Carayon am Bette der Tochter und
sagte, während diese zärtlich und mit einem wiedergewonnenen
ruhig-glücklichen Ausdruck zu der Mutter aufblickte: »Habe Vertrauen,
Kind. Ich kenn ihn so lange Zeit. Er ist schwach und eitel nach Art
aller schönen Männer, aber von einem nicht gewöhnlichen Rechtsgefühl und
einer untadligen Gesinnung.«
In diesem Augenblicke wurde Rittmeister von Schach gemeldet, und der
alte Jannasch setzte hinzu, »daß er ihn in den Salon geführt habe.«
Frau von Carayon nickte zustimmend.
»Ich wußte, das er kommen würde,« sagte Victoire.
»Weil Du's geträumt?«
»Nein, nicht geträumt; ich beobachte nur und rechne. Seit einiger Zeit
weiß ich im voraus, an welchem Tag und bei welcher Gelegenheit er
erscheinen wird. Er kommt immer, wenn etwas geschehen ist oder eine
Neuigkeit vorliegt, über die sich bequem sprechen läßt. Er geht einer
intimen Unterhaltung mit mir aus dem Wege. So kam er nach der Aufführung
des Stücks, und heute kommt er nach der Aufführung der Schlittenfahrt.
Ich bin doch begierig, ob er mit dabei war. War er's, so sag ihm, wie
sehr es mich verletzt hat. Oder sag es lieber nicht.«
Frau von Carayon war bewegt. »Ach, meine süße Victoire, Du bist zu gut,
viel zu gut. Er verdient es nicht; keiner.« Und sie streichelte die
Tochter und ging über den Korridor fort in den Salon, wo Schach ihrer
wartete.
Dieser schien weniger befangen als sonst und verbeugte sich ihr die Hand
zu küssen, was sie freundlich geschehen ließ. Und doch war ihr Benehmen
verändert. Sie wies mit einem Ceremoniell, das ihr sonst fremd war, auf
einen der zur Seite stehenden japanischen Stühle, schob sich ein
Fußkissen heran, und nahm ihrerseits auf dem Sopha Platz.
»Ich komme, nach dem Befinden der Damen zu fragen und zugleich in
Erfahrung zu bringen, ob die gestrige Maskerade Gnade vor Ihren Augen
gefunden hat oder nicht.«
»Offen gestanden, nein. Ich, für meine Person, fand es wenig passend,
und Victoire fühlte sich beinah widerwärtig davon berührt.«
»Ein Gefühl, das ich theile.«
»So waren Sie nicht mit von der Partie?«
»Sicherlich nicht. Und es überrascht mich, es noch erst versichern zu
müssen. Sie kennen ja meine Stellung zu dieser Frage, meine theure
Josephine, kennen sie seit jenem Abend, wo wir zuerst über das Stück und
seinen Verfasser sprachen. Was ich damals äußerte, gilt ebenso noch
heut. Ernste Dinge fordern auch eine ernste Behandlung, und es freut
mich aufrichtig, Victoiren auf meiner Seite zu sehen. Ist sie zu Haus?«
»Zu Bett.«
»Ich hoffe nichts Ernstliches.«
»Ja und nein. Die Nachwirkungen eines Brust- und Weinkrampfes, von dem
sie gestern Abend befallen wurde.«
»Muthmaßlich infolge dieser Maskeradentollheit. Ich beklag es von ganzem
Herzen.«
»Und doch bin ich eben dieser Tollheit zu Danke verpflichtet. In dem
Degoût über die Mummerei, deren Zeuge sie sein mußte, löste sich ihr die
Zunge; sie brach ihr langes Schweigen, und vertraute mir ein Geheimniß
an, ein Geheimniß, das Sie kennen.«
Schach, der sich doppelt schuldig fühlte, war wie mit Blut übergossen.
»Lieber Schach,« fuhr Frau von Carayon fort, während sie jetzt seine
Hand nahm und ihn aus ihren klugen Augen freundlich aber fest ansah:
»lieber Schach, ich bin nicht albern genug, Ihnen eine Szene zu machen
oder gar eine Sittenpredigt zu halten; zu den Dingen, die mir am meisten
verhaßt sind, gehört auch Tugendschwätzerei. Ich habe von Jugend auf in
der Welt gelebt, kenne die Welt, und habe manches an meinem eignen
Herzen erfahren. Und wär ich heuchlerisch genug, es vor mir und andern
verbergen zu wollen, wie könnt ich es vor =Ihnen=?«
Sie schwieg einen Augenblick, während sie mit ihrem Battisttuch ihre
Stirn berührte. Dann nahm sie das Wort wieder auf und setzte hinzu:
»Freilich es giebt ihrer, und nun gar unter uns Frauen, die den Spruch
von der Linken, die nicht wissen soll was die Rechte thut, dahin deuten,
daß das Heute nicht wissen soll, was das Gestern that. Oder wohl gar das
Vorgestern! Ich aber gehöre nicht zu diesen Virtuosinnen des Vergessens.
Ich leugne nichts, will es nicht, mag es nicht. Und nun verurtheilen Sie
mich, wenn Sie können.«
Er war ersichtlich getroffen, als sie so sprach, und seine ganze Haltung
zeigte, welche Gewalt sie noch immer über ihn ausübte.
»Lieber Schach,« fuhr sie fort, »Sie sehen, ich gebe mich Ihrem Urtheil
preis. Aber wenn ich mich auch bedingungslos einer jeden Vertheidigung
oder Anwaltschaft für Josephine von Carayon enthalte, für =Josephine=
(Verzeihung, Sie haben eben selbst den alten Namen wieder
heraufbeschworen) so darf ich doch nicht darauf verzichten, der Anwalt
der =Frau= von Carayon zu sein, ihres Hauses und ihres Namens.«
Es schien, daß Schach unterbrechen wollte. Sie ließ es aber nicht zu.
»Noch einen Augenblick. Ich werde gleich gesagt haben, was ich zu sagen
habe. Victoire hat mich gebeten, über =alles= zu schweigen, nichts zu
verrathen, auch =Ihnen= nicht, und nichts zu verlangen. Zur Sühne für
eine halbe Schuld (und ich rechne hoch, wenn ich von einer =halben=
Schuld spreche) will sie die =ganze= tragen, auch vor der Welt, und will
sich in jenem romantischen Zuge, der ihr eigen ist, aus ihrem Unglück
ein Glück erziehen. Sie gefällt sich in dem Hochgefühl des Opfers, in
einem süßen Hinsterben für =den=, den sie liebt, und für =das=, was sie
lieben =wird=. Aber so schwach ich in meiner Liebe zu Victoire bin, so
bin ich doch nicht schwach genug, ihr in dieser Großmuthskomödie zu
willen zu sein. Ich gehöre der Gesellschaft an, deren Bedingungen ich
erfülle, deren Gesetzen ich mich unterwerfe; daraufhin bin ich erzogen,
und ich habe nicht Lust, einer Opfermarotte meiner einzig geliebten
Tochter zur Liebe meine gesellschaftliche Stellung mit zum Opfer zu
bringen. Mit andern Worten, ich habe nicht Lust ins Kloster zu gehen
oder die dem Irdischen entrückte Säulenheilige zu spielen, auch nicht um
Victoirens willen. Und so muß ich denn auf Legitimisirung des
Geschehenen dringen. Dies, mein Herr Rittmeister, war es, was ich Ihnen
zu sagen hatte.«
Schach, der inzwischen Gelegenheit gefunden hatte sich wieder zu
sammeln, erwiderte, »daß er wohl wisse, wie jegliches Ding im Leben
seine natürliche Konsequenz habe. Und solcher Konsequenz gedenk er sich
nicht zu entziehen. Wenn ihm =das=, was er jetzt wisse, bereits früher
bekannt geworden sei, würd er um eben die Schritte, die Frau von Carayon
jetzt fordere, seinerseits aus freien Stücken gebeten haben. Er habe den
Wunsch gehabt, unverheirathet zu bleiben, und von einer solchen
langgehegten Vorstellung Abschied zu nehmen, schaffe momentan eine
gewisse Verwirrung. Aber er fühle mit nicht mindrer Gewißheit, daß er
sich zu dem Tage zu beglückwünschen habe, der binnen kurzem diesen
Wechsel in sein Leben bringen werde. Victoire sei der Mutter Tochter,
das sei die beste Gewähr seiner Zukunft, die Verheißung eines wirklichen
Glücks.«
All dies wurde sehr artig und verbindlich gesprochen, aber doch zugleich
auch mit einer bemerkenswerthen Kühle.
Dies empfand Frau von Carayon in einer ihr nicht nur schmerzlichen,
sondern sie geradezu verletzenden Weise; das, was sie gehört hatte, war
weder die Sprache der Liebe noch der Schuld, und als Schach schwieg,
erwiderte sie spitz: »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Worte, Herr
von Schach, ganz besonders auch für =das=, was sich darin an meine
Person richtete. Daß Ihr ›ja‹ rückhaltloser und ungesuchter hätte
klingen können, empfinden Sie wohl am eignen Herzen. Aber gleichviel,
mir genügt das ›Ja‹. Denn wonach dürst ich denn am Ende? Nach einer
Trauung im Dom und einer Galahochzeit. Ich will mich einmal wieder in
gelbem Atlas sehn, der mir kleidet, und haben wir dann erst unsren
Fackeltanz getanzt und Victoirens Strumpfband zerschnitten -- denn ein
wenig prinzeßlich werden wir's doch wohl halten müssen, schon um Tante
Margueritens willen -- nun so geb ich Ihnen _carte blanche_, Sie sind
dann wieder frei, frei wie der Vogel in der Luft, in Thun und Lassen, in
Haß und Liebe, denn es ist dann einfach geschehen, was geschehen
=mußte=.«
Schach schwieg.
»Ich nehme vorläufig ein stilles Verlöbniß an. Ueber alles andre werden
wir uns leicht verständigen. Wenn es sein muß, schriftlich. Aber die
Kranke wartet jetzt auf mich, und so verzeihen Sie.«
Frau von Carayon erhob sich und gleich danach verabschiedete sich Schach
in aller Förmlichkeit, ohne daß weiter ein Wort zwischen ihnen
gesprochen worden wäre.


Dreizehntes Kapitel.
»_Le choix du Schach._«

In beinah offner Gegnerschaft hatte man sich getrennt. Aber es ging
alles besser, als nach dieser gereizten Unterhaltung erwartet werden
konnte, wozu sehr wesentlich ein Brief beitrug, den Schach andern Tags
an Frau von Carayon schrieb. Er bekannte sich darin in allem Freimuth
schuldig, schützte, wie schon während des Gesprächs selbst,
Ueberraschung und Verwirrung vor, und traf in allen diesen Erklärungen
einen wärmeren Ton, eine herzlichere Sprache. Ja, sein Rechtsgefühl, dem
er ein Genüge thun wollte, ließ ihn vielleicht mehr sagen, als zu sagen
gut und klug war. Er sprach von seiner Liebe zu Victoiren und vermied
absichtlich oder zufällig all jene Versicherungen von Respekt und
Werthschätzung, die so bitter wehe thun, wo das einfache Geständniß
einer herzlichen Neigung gefordert wird. Victoire sog jedes Wort ein,
und als die Mama schließlich den Brief aus der Hand legte, sah diese
letztre nicht ohne Bewegung, wie zwei Minuten Glück ausgereicht hatten,
ihrem armen Kinde die Hoffnung, und =mit= dieser Hoffnung auch die
verlorene Frische zurückzugeben. Die Kranke strahlte, fühlte sich wie
genesen, und Frau von Carayon sagte: »wie hübsch Du bist, Victoire.«
Schach empfing am selben Tage noch ein Antwortsbillet, das ihm
unumwunden die herzliche Freude seiner alten Freundin ausdrückte.
Manches Bittre, was sie gesagt habe, mög er vergessen; sie habe sich,
lebhaft wie sie sei, hinreißen lassen. Im Uebrigen sei noch nichts
Ernstliches und Erhebliches versäumt, und wenn, dem Sprichworte nach,
aus Freude Leid erblühe, so kehre sich's auch wohl um. Sie sehe wieder
hell in die Zukunft und hoffe wieder. Was sie persönlich zum Opfer
bringe, bringe sie gern, wenn dies Opfer die Bedingung für das Glück
ihrer Tochter sei.
Schach, als er das Billet gelesen, wog es hin und her, und war
ersichtlich von einer gemischten Empfindung. Er hatte sich, als er in
seinem Briefe von Victoire sprach, einem ihr nicht leicht von irgendwem
zu versagenden, freundlich-herzlichen Gefühl überlassen, und diesem
Gefühle (dessen entsann er sich) einen besonders lebhaften Ausdruck
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