Nachbarn: Erzählungen - 05

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müde Ruhe, als suche er in diesen späten Tagen auf Erden keine Ziele
mehr.
Schön und merkwürdig war in diesem gefestigten und stillgewordenen
Angesicht ein manchmal auftauchendes, ganz schwaches Lächeln der Ruhe
und leidlosen Resignation, wenn der alte Schorsch etwa einem Festzug,
einem Kinderauflauf, einer Prügelei oder dergleichen zuschaute. Wenn
hinter diesem Lächeln irgend ein bewußter Gedanke stand, so war es der
eines ironisch zuschauenden, überlegen Unbeteiligten, dem die
Wichtigkeit dieser kleinen menschlichen Händel schon lange lächerlich
und kindlich vorkam.
»Hauet einander nur,« sagte dieses Lächeln, »hauet nur zu! Und
meinetwegen könnt ihr ja Feste feiern, wenn's euch Spaß macht. Was
kümmert's mich?«
Mein Verstand war noch viel zu klein, um diese Züge zu lesen und sich
einen Reim darauf zu machen. Aber meine Phantasie nahm von dem stillen
Alten Besitz und ließ ihn nicht los, sie liebte ihn und schuf ihn zu
einem Wesen um, das mir viel ferner und fremder war als er selber und
das doch zu mir gehörte und zum Helden meiner Gedanken wurde, während
der Schorsch selber jahraus jahrein mir vorüberging und unbekannt blieb.
Und wenn ich nun vom alten Garibaldi erzähle, ist es mehr Geträumtes als
Gesehenes, aber lauter Erlebtes, und vielleicht ist das Erfundene so
wahr wie das Gesehene; vielleicht erlebte meine Phantasie nichts anderes
als was der Alte hätte erleben können und sollen, wenn er nur dazu
gekommen wäre.
* * * * *
Vom Hofe aus führte eine kaum fußbreite, schadhafte und überhängende
steinerne Treppe, ein richtiger Halsbrecher, an der alten, weit
ausgebauchten Bergmauer hin in ein winziges Gärtchen hinauf, das dem
Nachbar Staudenmeyer gehörte. Gärtchen ist eigentlich schon viel gesagt,
denn das zwischen zwei in den Berg hinein gebauten Hinterhäusern und
einer jähen Terrassenmauer eingeklemmte Stück abschüssigen Bodens war
nicht größer als eine tüchtige Stube. Vom Berge her schwemmte jeder
Regen eine Menge Sand herab und nahm dafür die gute schwarze Erde mit,
und auf der einen Seite stand das Dach des daraufstoßenden Hauses so
weit über, daß man dort in Wirklichkeit kaum das Gefühl haben konnte, im
Freien zu sein. Die Nachbarin hatte, noch außer der Witterung und dem
Unkraut, um den Besitz ihres Fleckchens Erde ohne Unterlaß mit einer
großen Schar von verwilderten Katzen und mit einer nicht kleineren Horde
strohblonder Kinder zu kämpfen. Beide, Kinder und Katzen, entstammten
der benachbarten, steilen und finsteren Armutgasse, wilderten üppig in
dem Winkel dort herum, waren nicht auseinander zu kennen und so wenig
mit Erfolg zu bekriegen wie ein Mückenschwarm. Allmählich wurde also
Frau Staudenmeyer des Kämpfens müde und das Gärtlein fiel ganz den
ungebetenen Gästen anheim. Es wucherten nun auf dem verwahrlosten Platze
alte Stachelbeerstauden mit einem geilen, niemals Früchte reifenden
Erdbeergeschlinge samt vielerlei Unkräutern zu einem grünen Wirrwarr
zusammen, aus welchem hier und dort ein Rest der ehemaligen
Gartenherrlichkeit, etwa ein himmelhoch aufgeschossener Salatstock oder
eine faustgroße Zwiebelblüte hervorragte.
Im Sommer und Herbst, wenn an schönen Tagen abends noch Sonne dort
hinunter kam und die feuchten Mauern erwärmte, dann erschien gegen
sieben Uhr der greise Garibaldi im Hof, stieg langsam die schmalen
Steinstaffeln zum Gärtchen hinauf und setzte sich auf den ausgetretenen
obersten Treppenstein. Dort ruhte er schweigend in der schwachen
Spätsonne, tat seltene Züge aus einer schwarzgebrannten, kurzen
Holzpfeife und gab nur, wenn etwa ein Nachbar ihn vom Fenster aus
anrief, ein kurzes Wort zurück. Sonst redete er keinen Ton, sondern saß
regungslos auf dem schmalen Stein und ruhte und rauchte, bis es dunkelte
und kühl wurde. Über und unter ihm rumorten die Kinder, rauften und
zankten miteinander, fraßen unreife Beeren und erfüllten die goldige
Abendluft mit Gelächter, Geschrei und Gewimmer. Sie hieben einander die
Köpfe blutig, stahlen einander das Vesperbrot, fielen über die Mauer
herab und schrien Mordio. Den Alten berührte es nicht, obwohl er
ungezählte Enkel und Großneffen unter der Horde hatte. Wenn einmal etwas
Besonderes los war und das Geschrei zum Gebrüll anwuchs, drehte er den
verwitterten Kopf vielleicht ein wenig danach hinüber und auf seine
schmalen Lippen trat für einen flüchtigen Augenblick das kühle,
gleichgültige Lächeln, mit welchem er den Lauf der Ereignisse zu
betrachten gewohnt war.
Er hatte an anderes zu denken als an das kleine Zeug um ihn herum.
Während sein brauner Daumen die Glut in die Holzpfeife zurück stopfte,
verweilte seine Erinnerung weit von hier, in alten Zeiten und fremden
Ländern, in wilden Feldzügen und auf weiten, abenteuerlichen Raub- und
Wanderfahrten.
Er sah Höfe und Dörfer in Brand stehen und mit langen, unwilligen
Flammen durch die Nacht gen Himmel klagen. Er sah auf verlassenen
Straßen und auf den Türschwellen verlassener Häuser Erschlagene in
schmutzigen Blutlachen liegen, krepierte Pferde und zertrümmerte Wagen,
dazwischen herrenlos umherirrendes Vieh und verlaufene, weinende Knaben
und Mädchen.
Kam dann etwa eins von seinen strohblonden, verwahrlosten Enkelkindern
hergelaufen und bettelte: »Großvater, schenk' mir was!«, dann streifte
er es mit flüchtigem Blick und setzte, ohne eine Antwort zu geben, sein
spöttisch stilles Lächeln auf, und das Kind lief wieder weg. Er aber
hörte schnell wieder auf zu lächeln, zog die Kniee ein wenig höher,
neigte den grauen Kopf ein wenig weiter vor und blickte wieder in die
Länder der Erinnerung, der Abenteuer, mit demselben unverwandten,
glühenden und auch verschleierten Blick, welchen die in Käfige
gesperrten Raubvögel haben. Über seine hohe, braune Stirne fiel in
fahlen Strängen das lange Haar und nichts an der ganzen Gestalt hatte
Leben und bewegte sich als der schmale, alte Mund, der zuweilen eine
dünne Rauchfahne hinaus blies, und als sein hagerer Schatten, der über
die Mauer hinab und langsam über den ganzen Hof wanderte, immer länger
und phantastischer und immer wesenloser werdend, bis er in die
allgemeine Dämmerung untertauchte.
So im Dunkelwerden war es mir eine grausige Lust, vom Fenster meiner
Knabenkammer aus den Garibaldi dasitzen zu sehen, von Haar und Bart
umfilzt, aufrecht und bewegungslos, mit geisterhaft undeutlichen Zügen,
bis sein Gesicht vollständig in das Dunkel versank und nur noch die
Silhouette eines sitzenden Riesen übrig blieb, hin und wieder von einer
spärlichen Rauchwolke umflogen. Die vielen Kinder waren um diese Zeit
nicht mehr da, von der überdachten Gartenseite her wuchs die Finsternis
heran, die uraltmodisch geschweiften Giebel und krummen Dächer all der
Armenhäuser standen schwarz in den noch lichten Himmel, da und dort
glühte ein Fensterlein gleich einem trüben roten Auge auf, und damitten
kauerte rastend der alte Abenteurer, bis ihn fröstelte, dann verschwand
er still in den finsteren Torweg hinein wie in eine unzugänglich fremde
Welt.
* * * * *
Der alte Garibaldi hatte zwei Söhne gehabt, junge stramme Riesen von
gewaltiger Erscheinung und vom übelsten Ruf, aber beide waren eines
Tages ohne Abschied verschwunden und man brachte sogleich alle in den
letzten Jahren am Ort begangenen und unaufgeklärt gebliebenen Verbrechen
mit ihrem Flüchtigwerden in Verbindung. Fast ein Jahr später kam Bericht
aus Brasilien, daß beide nicht mehr am Leben seien. Der eine war schon
unterwegs auf dem Schiff am Fieber gestorben, der andere nachher in Rio,
offenbar im bittersten Elend. Zusammen mit dem dazu beauftragten
Polizeidiener besuchte mein Vater den Alten, um ihm die Todesnachricht
zu bringen.
»Ihren Söhnen ist's drüben nicht gut gegangen,« fing mein Vater an.
»Wo drüben denn?« fragte der Garibaldi.
»In Brasilien, 's ist ihnen nicht gut gegangen.«
»Wieso?«
»Wieso? Tot und gestorben sind sie,« schrie der Büttel, dem es nicht
wohl war, bis er es herausgesagt hatte.
»So so?« machte der Garibaldi und schüttelte den Kopf. Und:
»Alle beide?« fragte er nach einer Weile.
»Ja wohl, alle beide,« sagte mein Vater.
»So so. -- So so.«
Und als jetzt mein Vater sich anschickte einen Anfang mit dem Trösten zu
machen, winkte er ab und lächelte verachtungsvoll. Da ging denn mein
Vater mit dem Polizeidiener wieder fort und Garibaldi machte sich wie
sonst an seine Arbeit.
Am Abend dieses Tages, da jedermann die Nachricht schon wußte, saß er
wieder auf seiner Staffel und alle Nachbarn schauten ihn an und alle
paar Minuten rief ihn einer vom Fenster oder von der Gasse herüber an:
»Mein Beileid auch, du!«
Und er sagte jedesmal »_merci_«. Da kam der Stadtpfarrer auch noch
gegangen und gab ihm die Hand und sagte freundlich: »Wir wollen in Ihre
Stube hinein gehen, kommen Sie!«
Aber Garibaldi schüttelte den Kopf. »'s ist gut,« sagte er, »und ich sag
meinen _merci_«, und blieb sitzen, und die vielen Herumsteher drückten
sich hintereinander und kicherten. Der Stadtpfarrer schien betrübt und
es sah aus, wie wenn er noch einiges zu sagen hätte, aber er zog nur den
Hut und grüßte wieder freundlich und ging langsam aus dem Hof und fort,
und der Garibaldi blies eine große Rauchwolke hinter ihm her.
Von da an, wenn ich ihn des Abends wieder rasten sah, schien mir sein
Gesicht ein wenig tiefer gefurcht und noch abwehrender und einsamer als
sonst, und ich betrachtete ihn, der zwei starke Söhne im fremden Land
verloren hatte, mit vermehrter Scheu.
Außer jenen untergegangenen Söhnen hatte Garibaldi noch drei
verheiratete Töchter, deren älteste verwitwet war. Dies war die Lene
Voßler, ein wildes und berüchtigtes Weib, groß von Wuchs und von einer
seltsam ungelenken, aber längst verwilderten Schönheit. Diese war von
allen seinen Kindern das einzige, das zu ihm paßte, und auch das
einzige, das in Verkehr und Freundschaft mit ihm stand. Sie kam den
Winter über fast jeden Abend zu ihm in seine Hinterhausstube, dort saß
sie neben dem Alten, oft bis es spät wurde, und redete kaum ein Wort mit
ihm, der seine kleine Pfeife im Munde hielt und ebenfalls schwieg. Ich
besann mich oft genug, was die zwei wohl mit einander anstellen möchten,
aber sie saßen hinter den alten großblumigen Gardinen aus Wolle und man
konnte im Schimmer der schlechten Ölfunzel nur zuweilen ihre ernsten
Köpfe sehen.
Und häufig kam zu diesen beiden merkwürdigen, geheimnisvollen Menschen
noch eine dritte Fabelgestalt. Dies war der alte Penzler, ein gewesener
und verarmter Mühlenbauer, der aus Bayern stammte und den schon seine
Herkunft und sein seltenes Handwerk zu etwas besonderem machten. Seit
Jahren lebte er einsam und vielbesprochen in der finsteren
Hengstettergasse ein ärmliches Sonderlingsleben, drehte ewig an seinem
ungeheuren Schnauzbart, redete in alttestamentlichen Wendungen und
betrank sich alle paar Wochen einmal, was meistens zu Nachtskandal und
schlimmen Szenen führte. Der einzige Mensch, dem er Achtung zeigte und
mit dem er eine Freundschaft unterhielt, war Garibaldi. Als dessen Söhne
totgesagt wurden, kam Penzler zu ihm, schlug ihm auf die Schulter und
rief mit gewaltiger Trösterstimme: »So geht's, alter Prophete! Wir sind
allesamt wie Gras und wie des Grases Blüte. Na, die Lausbuben haben
jetzt keine Sorgen mehr.«
Winterabends kam der Mühlenbauer sehr oft zum Garibaldi und saß mit ihm
und seiner Tochter, der Lene Voßler, in der niedrigen, trüb erhellten
Stube, die sich allmählich ganz mit Tabaksrauch füllte. Ich schaute
immer hinüber und lief manchesmal noch spät Nachts von meinem Bett ans
Fenster, schaute nach ob drüben noch Licht sei und stierte das einsame
rote Fenster ahnungsvoll und begierig an, bis mich fror und ich ins Bett
zurück mußte.
An einem Abend, es ging schon gegen den April und man brauchte fast
nimmer zu heizen, wurde meine Neugierde belohnt und das eigentliche
Treiben und Wesen des Alten ward mir klarer. Es fehlte nämlich diesmal
der wollene Vorhang hinter seiner Scheibe und ich sah den Garibaldi mit
der Lene und dem Penzler am Tische sitzen. Es mochte neun Uhr oder
später sein. Eine Blechlampe gab trübes Licht, die beiden grauhaarigen
Männer bliesen Rauch aus ihren Pfeifchen und saßen still und vorgebeugt
auf ihren Hockern, die Lene Voßler aber hatte über den ganzen Tisch im
Viereck ein Kartenspiel ausgebreitet, ein Blatt dicht am andern. Auf
diese Karten starrten alle drei. Bald nahm die Lene, bald ihr Vater eine
Karte in die Hand und legte sie nachdenklich und zögernd an einen
anderen Platz; der Mühlenbauer sah mit scharfem Gesichte zu, deutete mit
dem Pfeifenstiel hierhin und dorthin, schnitt ernste Grimassen,
schüttelte den Kopf oder zuckte mächtig mit den gewaltigen Augenbrauen,
die so stark wie Schnurrbärte waren. Gesprochen wurde nichts. Über den
drei gebeugten Köpfen wölkte der dichte Rauch und stieg über der
Lampenflamme in einer ununterbrochenen Säule in die Höhe.
Zwei Stunden lang schaute ich zu. Penzler schnitt immer schärfere
Grimassen, die Lene ordnete ihre Karten immer leidenschaftlicher und
legte sie hastig aus, der alte Garibaldi aber saß mir gerade gegenüber
und so oft er den Kopf erhob, floh ich in meine Stube zurück, obwohl er
mich am dunklen Fenster nicht hätte sehen können. Seine Augen waren auf
die Karten gerichtet und brannten in dem braunverwelkten Gesicht mit
leiser Glut.
Sie taten also Karten legen und wahrsagen, und es wunderte mich nicht.
Aber wer wahrsagen kann, der muß auch zaubern können. Vom Bayern, dem
Penzler, wußte man ja schon immer, daß er mit Geistern umging und viele
geheime Heilmittel kannte. Ich paßte auf wie ein Jagdhund und brannte
vor banger Begierde. Und als die Tage wärmer und die Abende lang und
mild wurden, sah ich öftere Male wie Garibaldi, sobald es zu dunkeln
begann, an seinem Staffelplatz vom Penzler abgeholt wurde und mit ihm
die Gasse hinab verschwand. Ich wußte genau, daß er nicht ins Wirtshaus
ging, dafür hatte ihn meine Mutter oft gerühmt; daß man aber in diesen
lauen, stichdunkeln Frühjahrsnächten viel Zauber treiben konnte, war
gewiß.
Ich sah in meinen Gedanken die zwei alten Hexenmeister die Stadt
verlassen, im finstern Walde Kräuter suchen, ein Feuer anfachen und
Beschwörungen ausüben. Ich sah sie unter moosigen Felsen beim Lichte
kleiner Diebslaternen Schätze aus der feuchten Erde graben. Ich sah sie
Wetter machen und Krankheiten beschwören.
Ob wohl die Lene Voßler auch mitging? Nein, sie ging nicht mit. Eines
Abends konnte ich der Neugier nicht widerstehen. Sobald ich den
Mühlenbauer im Hof erscheinen sah, verließ ich still das Haus durchs
Gartentor und schlich mich zwischen den Gärten hindurch auf die Gasse.
Garibaldi und Penzler gingen miteinander straßabwärts. Der eine hatte
etwas unter dem Arm, was wie ein aufgerollter langer Strick aussah, der
andere trug eine Art Kachel oder Kanne. Ich folgte ihnen mit großem
Herzklopfen die Gasse hinunter, über den Balkensteg und bis auf den
Brühel, wo das letzte Haus der Stadt, ein alter Gasthof steht und wo der
Weg sich teilt. Es führt von dort aus ein Sträßlein eben den Fluß
entlang, das andere stark ansteigend bergan in den Wald hinein.
Weiter wagte ich nicht hinterher zu gehen, der Gasthof war schon
geschlossen, ringsum brannte keine Laterne, von der Stadt hörte man
nichts mehr als vielleicht ein fernes Wagenrollen; vor mir lag
kirchenstill der Brühel mit seinen riesigen Linden und Kastanien und
durch die alten Kronen stöhnte der feuchte, stürmische Frühlingswind.
Und die beiden dunklen Männer, die unter den hohen Bäumen auf einmal
klein erschienen, wandelten in die schwarze Stille hinein, gleichmäßig
im Schritt und ohne miteinander zu reden, ihre Geräte tragend. Ich sah
sie schwer und stille schreiten, der Nacht entgegen, mitten in das sich
auftuende Reich der Finsternis und der schrecklichen Wunder, wo sie
heimisch waren.
Mir wurde todesangst, als der Penzler einmal hinter sich schaute; ich
blieb am Brühel stehen und sah nur noch, daß die beiden den Talweg
flußabwärts einschlugen. Dann lief ich im Galopp zurück, kam ungesehen
wieder durch die Hintertüre ins Haus und als ich dann geborgen im Bette
lag, konnte ich noch lang nicht einschlafen, weil mein Herz vom
schnellen Laufen und vor Angst nicht aufhören wollte gewaltig zu
schlagen.
* * * * *
Von da an wagte ich dem Garibaldi kaum mehr zu begegnen und wich ihm und
dem Penzler auf der Straße ängstlich aus. Und daran tat ich wohl, denn
es zeigte sich nicht allzu lange darauf, daß sie gefährliche Wege
gegangen seien.
An einem Morgen im Sommer -- ich hatte Ferien -- sprach es sich in der
Stadt herum, es sei zu Nacht ein Unglück passiert. Nach einer Stunde
erfuhr man, der Mühlenbauer Penzler sei in aller Gottesfrühe tot aus dem
Wasser gezogen worden und liege drunten im Gutleuthaus. Alles strömte in
großer Aufregung und Neugierde dorthin. Auf den steinernen Korridor des
Gutleuthauses waren ein paar Bündel leinene Säcke und darüber eine rote
Wolldecke gelegt, darauf lag halb entkleidet eine Gestalt, das war der
Mühlenbauer. Aus der Nähe betrachten durfte man ihn nicht, ein Landjäger
stand dabei, und mir war es recht, denn das Grausen hätte mich
umgebracht.
Der Garibaldi war auch da, ging aber bald wieder weg und hatte sein
gleichmütiges Gesicht aufgesetzt, so als gehe die Geschichte ihn nichts
an. Als er wegging und die vielen Leute immer noch neugierig
herumstanden und die Mäuler offen hatten, lächelte er auf seine stille,
verächtliche Art. Und der Penzler war sein einziger Freund gewesen.
Wahrscheinlich war er nachts dabei gewesen, als der andere ins Wasser
fiel. Warum hatte er dann nicht sogleich Leute geholt?
-- Oder war der Bayer vielleicht mit seinem Wissen und durch seine
Schuld ertrunken? Hatten sie Streit gehabt, vielleicht bei der Teilung
eines Schatzes?
* * * * *
Man hörte auf von dem Unglück zu reden. Garibaldi tat wie immer seine
Arbeit in der Stadt herum und rastete bei gutem Wetter jeden Abend auf
der Treppenstaffel über unserem Hof, wo die Kinder lärmten. Der dem
Zauberwesen zum Opfer gefallene Mühlenbauer fand keinen Nachfolger.
Garibaldis Gesicht wurde je älter desto undurchschaulicher und ich, der
einen Teil seiner Geheimnisse kannte, sah hinter seiner gleichmütigen
Stirn und hinter seinem ruhig überlegenen Blick eine Welt von dunklen
Schicksalen träumen.
Im folgenden Herbst geschah es, daß ihm bei der Arbeit die hohe Leiter
eines Gipsers auf die Schulter fiel und ihn beinah erschlagen hätte. Er
lag vier Wochen krank im Spittel. Als er von dort wiederkam, war in
seinem Wesen eine gewisse Veränderung wahrzunehmen. Er lebte wie sonst,
tat seine Arbeit und sprach womöglich noch weniger als früher, aber er
hatte jetzt die Gewohnheit, leise mit sich selber zu reden und zuweilen
zu lachen, wie wenn ihm alte lustige Geschichten einfielen. An stillen
Abenden, wenn die Kinder gerade anderswo tobten oder einem
Kunstreiterwagen oder Kamelführer oder Orgelmann nachliefen, hörte man
ihn im Höfchen ohne Unterlaß murmeln. Auch saß er nie mehr lange Zeit
auf seinem Steine still, sondern ging öfters unruhig auf und ab, was
zusammen mit dem Murmeln und Kichern etwas Unheimliches hatte.
Ich fühlte damals zum ersten Mal Mitleid mit dem alten Hexenmeister,
ohne ihn aber deswegen weniger zu fürchten. Sein neuerliches Gebaren
schien mir bald auf Gewissensbisse, bald auf neue schlimme
Unternehmungen zu deuten.
»Der Garibaldi will auch anfangen altwerden,« sagte einmal meine Mutter
beim Nachtessen. Ich verstand das im Augenblick nicht, denn ich hatte
ihn nie anders als grau und alt gesehen. Aber ich vergaß das Wörtlein
nicht und merkte nach und nach selber, daß Garibaldi wirklich jetzt erst
zu altern begann.
Noch einmal machte er von sich reden. Eines Abends war, nach langem
Ausbleiben, seine Tochter Lene wieder einmal zu ihm gekommen. Sie waren
in der Stube beieinander und ich glaube, die Lene wollte auswandern.
Darüber kamen sie in Streit, bis das Weib mit der Faust auf den Tisch
schlug und ihm Schimpfworte sagte. Da hub der alte Mann seine Tochter,
so groß und stark sie war, jämmerlich zu hauen an und warf sie die
Stiege hinunter, daß das Geländer krachte und das Weib nur mit Mühe und
Schmerzen davonhinken konnte.
Von da an blieb Garibaldi ganz einsam und nun brach das Alter plötzlich
vollends über ihn herein. Die Pfeife begann ihm im Munde zu wackeln und
häufig auszugehen, die Selbstgespräche nahmen kein Ende, die Arbeit
wurde ihm sauer. Schließlich gab er sie auf und war fast über Nacht zu
einem gebückten und zittrigen Kerlchen geworden.
Für mich hörte er darum nicht auf wichtig und rätselhaft zu sein. Ich
fürchtete ihn mehr als je und konnte es doch nicht lassen, ihm halbe
Stunden lang vom sicheren Fenster aus zuzuschauen. Beim Rauchen stützte
er jetzt den Ellenbogen aufs Knie und hielt die Pfeife mit der Hand
fest, aber auch die war zittrig und hatte keine Kräfte mehr.
Die Tage waren noch kühl und im Walde lag noch ein wenig Schnee, da war
eines Tages der Garibaldi gestorben.
Mein Vater bürstete seinen Schwarzen und ging zur Leiche. Ich durfte
nicht im Zug gehen (wenn man das Dutzend Nachbarn einen Zug heißen
will), aber ich stieg auf die Kirchhofmauer und hörte zu und erfuhr
dabei zum ersten Mal, daß der Tote nicht Garibaldi, sondern Schorsch
Großjohann geheißen hatte, was mich in lange Zweifel stürzte, denn
fragen mochte ich niemand.
Nachher sagte mein Vater zur Mutter: »Unser Garibaldi war doch ein
sonderbarer Mensch, fast unheimlich; weiß Gott, wie er so geworden ist.«
Darüber hätte ich nun mancherlei mitteilen können. Aber ich behielt
alles für mich -- das Wahrsagen, das Zaubern, die Nachtgänge flußabwärts
und das, was ich über den Tod des bayerischen Mühlenbauers vermutete.


Walter Kömpff

Die Leute von Gerbersau, die da auf den Straßen laufen, unter ihren
Ladentüren stehen, ihr Handwerk und Geschäft besorgen und fast alle so
zufrieden sind, obwohl sie beständig über die schlechten Zeiten zu
klagen haben, alle diese Leute haben den Walter Kömpff noch gut gekannt.
Sie sind mit ihm in die Schule gegangen, sie sind mit ihm Soldat
gewesen, sie haben Geschäfte mit ihm gehabt und früher oft abends ein
Bier mit ihm getrunken. Und dann machte er plötzlich so viel von sich
reden, eine Zeitlang!
Aber alle diese Leute sprechen nimmer von ihm und haben ihn vergessen.
Es gab eine Zeit, da hätte man meinen sollen, sie würden von Walter
Kömpff noch als weißhaarige Großväter zu reden haben und mit keinem
auswärtigen Geschäftsfreund über den Marktplatz gehen können, ohne ihm
das vormals Kömpffsche Haus zu zeigen und ihm nachher im Adler oder
Hirschen die Geschichte dazu zu erzählen, der Länge und Breite nach.
Und wenn auch gar nichts zu verwundern und zu erzählen gewesen wäre, wie
war es möglich, diesen Mann so ganz zu vergessen? Hätte noch vor zehn
Jahren irgend ein Gerbersauer sich den Marktplatz vorstellen können ohne
den Kömpffschen Laden und das Schild darüber und den mit seinem Namen
bemalten grauen Pritschenwagen und ohne ihn selber, wie er unter der Tür
stand oder über den Platz schritt oder auf dem grünen Feierabendbänklein
saß? Oder hätte jemand sich einen Jahrmarkt denken können, ohne daß er
in seiner Ladentüre stand und die vielen Dutzende von auswärtigen
Bekannten begrüßte?
Beispielsweise gesprochen, stelle man sich jetzt einmal den jüngeren
Giebenrath vor, den Tuchhändler! Nicht wahr, da läuft er gaßauf, gaßab,
ruft hier »Guten Morgen!« und dort »Grüß Gott!«, langt da an den Hut und
macht dort ein Kompliment, und dann geht er in sein Haus, und man weiß,
da ist er jetzt drin und verkauft Tuch, und überm Laden steht mit Gold
auf Schwarz sein Name. Es ist niemand in der Stadt, der ihn nicht kennt
und der nicht weiß, wie er spricht und wie er lacht und was er im Winter
für einen Mantel hat und mit wem er verwandt ist und was er für
Geschäfte macht und daß er zu den Demokraten gehört. Also, wieder
beispielsweise, der jüngere Giebenrath stirbt jetzt -- oder, um niemand
weh zu tun, sagen wir, er geht weg, vielleicht nach Stuttgart oder nach
Pforzheim.
Ja, wenn ich das nur sage, da lachen sie alle und winken mir mit dem
ganzen Arm ab: »Wo denkst hin! Der bleibt, wo er ist! Der und
wegziehen!«
Also gut, aber vielleicht zieht er doch weg, und niemand begreift's, und
man schüttelt den Kopf, und sein Firmenschild wird heruntergenommen und
die Kinder sehen zu. Am Morgen vermißt ihn der Friseur und am Abend der
Ankerwirt und untertags vermißt ihn da einer und dort einer in der
Stadt, und seine Nachbarn mögen gar nimmer ans Fenster, weil er doch
nimmer vorbeikommt und hereingrüßt und einen kleinen Spaß macht, oder
wenn er's eilig hatte, konnte man ihm nachsehen und sich besinnen,
wohin's ihm denn so eilig pressierte. Und ich würde dann sagen: Ihr
Leute, sei's um eine kleine Weile, so redet kein Mensch mehr vom
jüngeren Giebenrath, außer er hätte Schulden. -- Ja, da würde man wieder
abwinken und lachen und den Kopf schütteln und mich heimschicken!
Und doch ist es mit dem Kömpff um kein Haar anders gewesen. Kaum daß man
jetzt seinen Namen noch etwa einmal hört. Nun, ich erzähle, wie es mir
damit gegangen ist.
Wie es die jungen Leute im Brauch haben, war ich auf der Wanderschaft,
und wohin ich kam, schien mir's kein schlechtes Leben in der Fremde; ich
kam mir extra gescheit vor und wollte gar nicht begreifen, wieso man
eigentlich gerade immer in Gerbersau leben müsse. Da war zum Beispiel
Cannstatt, ein wohlhabender Ort, und dann Tübingen, auch nicht übel, und
dann Basel und Zürich, und wiederum München, alles angenehme Plätze, wo
auch Leute wohnen und wo man so gut seine Batzen verdienen und wieder
verjucken kann wie irgendwo in der Welt. Also kam mir, aus der Ferne
gesehen, die Stadt Gerbersau immer kleiner und unnötiger und sogar
ziemlich lächerlich vor, und ich bin länger draußen geblieben, als es
der Brauch ist. Zwischenein höre ich, der Kömpff am Marktplatz fange an,
sonderbare Geschichten zu machen, das und jenes. Dann hör' ich, er sei
übergeschnappt, und nicht lang darauf von einem andern, er sei
vortrefflich bei Verstand und überhaupt viel zu gut und edel für seinen
Ort, und er werde auch wahrscheinlich fortgehen. Und so durcheinander,
wenig Gutes und viel Böses, bis ich gar nichts mehr glaubte. Ich dachte:
wenn ich zufällig einmal wieder besuchsweise heimkomme, will ich den und
jenen darum fragen und etwas Sicheres zu erfahren suchen.
Die Zeit verging und ich war nachgerade nimmer ganz jung. Daheim dachten
sie kaum mehr daran, daß ich am Ende auch wieder einmal heimkommen
könnte, und ich selber dachte es am wenigsten.
Wie es gegangen ist, daß ich jetzt doch wieder in Gerbersau sitze,
anfangs nicht ohne Unbehagen und Beschämung, und daß ich jetzt wieder
hier so zu Hause bin wie nur je in den Bubenzeiten, das wäre eine lange
Geschichte. Aber davon ist diesmal nicht die Rede. -- Also ich komme
wieder heim, lasse mich begrüßen und begutachten, anschielen und
auslachen, finde die alten Gassen und Winkel und einige neue dazu, und
kaum habe ich nach ein paar Tagen mir die alte Mundart wieder recht
angewöhnt, so frage ich rechts und links nach dem Herrn Walter Kömpff.
Ich meine, jeder müsse gleich vor lauter Geschichten und Erklärungen
überlaufen und herzensfroh sein, daß er einen Neuen findet, der's ihm
abhört.
Aber wie ich den ersten frage: »Du, wie war's denn eigentlich damit?«,
da besinnt er sich ein bißchen, klopft die Zigarre ab, zieht, bläst eine
Verlegenheitswolke hinaus, und schließlich meint er: »Ja, das sind
Sachen, da schwätzt jetzt kein Mensch mehr davon. Frag einmal den
Köberle.« Also abends, wie ich ihn bei der Metzelsuppe im Rößle treffe,
frage ich den Köberle. Er behält den Wein ein Weilchen im Mund, macht
Telleraugen, schluckt dann und runzelt, so gut er kann, die glatte Stirn
und sagt: »Ja, weißt du, das ist eigentlich schon recht lang her. Liebe
Zeit, der Kömpff! Ja ja, ich kann mir's noch gut denken. Na, wir sehen
uns ja bald einmal wieder, da reden wir dann. Am Donnerstag schenkt der
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