Nachbarn: Erzählungen - 04

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»So, was sagst du dazu? Ist's wahr oder nicht?«
»Es ist wahr,« bestätigte er leise.
»Bist du ein Lump oder nicht?«
»Mama --«
»Ja oder nein!«
»Ja,« flüsterte er und wurde fuchsrot.
»Jetzt kannst du mit ihm reden, Schorsch,« sagte sie zum Papa, dessen
Entrüstung nun verzweifelt losbrach. Alle Kraftworte, die er früher an
dem Buben gespart hatte, stürzten nun verspätet und hitzig hervor, so
daß der Malefikant seinen Vater kaum mehr kannte, während zu seinem
Erstaunen die Mutter ruhig sitzen blieb und mit merkwürdigem Mienenspiel
das Losheulen, Wüten und Verrollen des großen Donnerwetters beobachtete.
»Du kannst uns jetzt allein lassen,« sagte sie ruhig zu Karl Eugen, als
der Vater verstummte, in seinen Sessel sank und mit dem Ersticken rang.
Wieder hatte sich das Zünglein der Wage bewegt und von diesem Tage an
hatte die kluge, entschlossene Frau den Schwerpunkt der häuslichen Macht
auf ihre Seite gebracht. Es wurden keine Worte darüber verloren, aber
Eiselein senior tat nun vollends gar nichts mehr, ohne sie vorher mit
stummer Frage anzublicken, und der junior witterte und begriff, daß er
von nun an seinen Wandel allein vor den Augen der Mutter zu führen und
zu rechtfertigen haben werde. Darum fügte er sich ihr schweigend und
wartete lautlos, bis die Reihe an ihn käme, mit ihr zu reden.
Das geschah denn auch bald und gründlich. Er bekam nichts geschenkt, vom
Indianerzug bis zur japanischen Tapete fand er seine Vergehen und Laster
treu gezählt und gebucht, und die Abrechnung schloß für ihn mit einem
bodenlosen Minus. Zugleich hielt die Mutter es jetzt für angezeigt, ihm
die verschlimmerte Lage des väterlichen Handels und Vermögens zu
eröffnen, versteht sich nicht ohne nachdrücklich darauf hinzuweisen, wie
erheblich er, der Sohn, an diesem Rückgange mitschuldig war.
»So stehen die Sachen,« schloß sie endlich, »und an deinen Schulden
haben wir mindestens noch vier, fünf Jahre zu büßen. Was soll jetzt mit
dir werden?«
Karl Eugen hatte mehrmals Miene gemacht, die lebhafte, aber sachliche
Darlegung seiner Mutter zu unterbrechen, war aber streng zur Ruhe
verwiesen worden. Nun saß er da, geschlagen und vernichtet, und sollte
Antwort geben. Mit finsterer Miene erhob er sich, rückte den Stuhl und
sagte: »Ich weiß nichts zu sagen, du würdest mich doch nicht verstehen.
Es ist besser, ich gehe jetzt fort; wenn ich mein Ziel erreiche, höret
ihr wieder von mir, im andern Falle bin ich nicht der erste, der so
zugrunde gegangen ist.«
Und schon näherte er sich der Türe, fast stolz auf sein Elend und auf
den tragischen Ton, in dem er seine Worte vorgebracht hatte. Aber die
Mutter rief ihn zurück.
»Du bleibst gefälligst sitzen,« sagte sie, »bis ich fertig bin.«
Er nahm leise wieder Platz. Sie lachte vor sich hin.
»Soll denn die Theaterspielerei gar nicht aufhören, dummer Bub? Wo
willst du denn hin? Hast du denn Geld? Du bist gar nicht der Mann, mir
was vorzuspielen, und für das Verzweifelttun geb' ich dir keinen
Kreuzer. Oder willst du dir etwa das Leben nehmen? O du! Tust's ja doch
nicht, ich kenn' dich schon. Nun, du bist nun einmal leider Gottes unser
Bub und wir müssen sehen, daß noch was aus dir wird. Fortgereist wird
jetzt nimmer, also mach' keine Komödie und sag', was du zu sagen hast.
Ob ich's dann versteh' oder nicht versteh', ist meine Sache. Warum soll
ich dich durchaus nicht verstehen? Du hast doch meiner Seel' nicht so
viel studiert. Also los!«
Im Herzen war der Jüngling froh, daß sie ihn nicht hatte laufen lassen,
und trotz der Beschämung begann er ein wenig Vertrauen zu ihr zu fassen.
Er hustete also ein bißchen, seufzte und schnitt die vorbereitenden
Grimassen, und dann begann er zu erzählen und zu erklären, daß er von
jeher ein Dichter habe werden wollen. Er habe, man möge es glauben oder
nicht, genug Studien gemacht und viel gelernt, und er sei jetzt auf dem
Sprung, sein erstes Werk zu schaffen. Wenn er jetzt davon ablassen
müsse, so wäre all die schöne Zeit doppelt verloren; vielleicht glücke
es ihm damit und dann sei alles wettgemacht. Er begann von
Schriftstellern zu erzählen, die Landhäuser besitzen und erster Klasse
reisen; von den Briefen der beiden Symbolisten sagte er nichts. Sie
unterbrach ihn und meinte, er könne schon zufrieden sein, wenn es
hinreiche, seine Schulden zu zahlen. Bis wann er denn sein Werk fertig
machen wolle, wenn es in all den Semestern nicht fertig geworden sei? Da
wurde er wieder lebhaft und erklärte ihr, welche Reife so etwas
erfordere. »Reife!« lächelte sie. Jetzt aber sei er so weit; wenn er nur
noch diesen Winter zur Arbeit frei habe, würde er fertig.
»Ich will noch drüber schlafen,« sagte sie, »es kommt jetzt vollends auf
einen Tag nimmer an. Wir reden morgen weiter. Daß du Tabak und Schnaps
nach Belieben aus dem Laden holst, muß aber schon heut ein Ende haben,
denk' dran!«
Als der junge Mensch in seiner Stube saß und die Sache überdachte, kam
er sich zwar erbärmlich klein und gedemütigt vor und schämte sich fast
vor den stolzen Büchertiteln an der Wand; aber froh war er doch, die
Angst vom Halse und wieder Boden unter seinen Füßen zu haben. Er zog das
dicke Heft hervor, in welchem die paar ersten Zeilen seiner großen
Dichtung standen. »Das Tal der bleichen Seelen« stand auf dem Umschlag,
und der Titel schien ihm gut, ein kleines Meisterwerkchen. Er war eine
Offenbarung und ihm vor einem Vierteljahr auf dem Heimweg von einer
einsamen Kneiperei eingefallen, und seither glaubte er an sein Werk und
hatte ein Gefühl, als sei das Schwerste, Entscheidende daran schon
getan. Auch die Widmung war schon fertig. Sie war an jenen Dichter, der
ihm den Märtyrerbrief geschrieben hatte, gerichtet, kurz und schön, in
feiner Mischung von Stolz und Demut, das ehrerbietige Sichneigen vor dem
auserwählten Geiste ausdrückend.
Herr Eiselein hatte noch am selben Abend eine zweite Unterredung mit
seiner Frau. Er wußte durchaus keinen Rat, stöhnte und fluchte
abwechselnd und wurde desto elender, je lebhafter die Frau ihn um
Vorschläge drängte.
»Du weißt also nichts?« sagte sie dann am Ende freundlich.
Wütend sprang er auf und lief in der Stube hin und her wie ein
Eingesperrter.
»Nach Amerika schick ich ihn, den Gutedel!« schrie er zornig.
»Damit er vollends ein Lump wird? Und meinst du, die Reise kostet
nichts? Nein, er soll schön dableiben, bis er seine Streiche abverdienen
kann. Man hat schon Schlimmere wieder zuwege gebracht.«
»Ja, aber wie denn?«
»Wenn dir's recht ist, will ich sehen, was zu machen ist. Geduld wird's
schon brauchen. Überlaß ihn nur mir!«
Dabei blieb es, denn der Hausherr wehrte sich nicht. Er fühlte, ohne daß
sie etwas weiteres sagte, den Sinn dieses Abkommens wohl heraus. »Du
hast ihn verlottern lassen,« meinte sie, »ich will ihn wieder kurieren,
du aber laß die Finger davon.«
Folgenden Tages rief sie den bange harrenden Sohn zu sich und gab ihm
ihre Entschlüsse kund.
»Ich habe mit Papa über dich beraten,« sagte sie. »An deine Dichterei
hab ich keinen rechten Glauben. Damit du aber nicht sagen kannst, wir
hätten dich mit Gewalt von deinem Glück abgehalten, sollst du deinen
Willen noch einmal haben, aber zum letzten Mal. Du kannst also diesen
Winter dichten so viel du willst. Wir sind jetzt im Oktober, da kannst
du bis zum Frühjahr schon was hinter dich bringen. Aber wenn es dann
nichts damit ist, hat das Bummeln ein Ende und du mußt dann endlich
daran glauben und eine solide Arbeit anfangen. Ist's dir so recht?«
Es war ihm recht und er ließ es nicht an Dankesworten fehlen. Das Herz
schlug ihm vor Lust, daß er nun nicht mehr heimlich, sondern erlaubter-
und anerkannterweise das Leben eines Dichters führen sollte. Der Druck
der Angst und des bösen Gewissens war von ihm genommen, er atmete wieder
legitime Lebensluft, nachdem er so lang auf dem dünnen Glasboden einer
rechtlosen Scheinexistenz gewandelt war. Nun hoffte er einen neuen
Aufschwung und freute sich darauf, tüchtig zu arbeiten. Denn von
Arbeiten redet ja niemand lieber als Dichter, Künstler und dergleichen
Müßiggänger. Freudig stieg er die schmale Stiege zu seiner Stube hinauf,
warf sich aufatmend in den Lehnsessel, steckte eine Pfeife an und griff
nach den »Violetten Nächten«, einem seiner Lieblingsbücher, in dessen
dunkle, reimlose Verse er sich mit Wollust vertiefte.
Das Tal der bleichen Seelen war einstweilen immer noch ein dickes
Quartheft mit weißen Blättern. Der Dichter hütete sich wohl, diese
harrende unbeschriebene Fläche zu entweihen. Auf ihr sollte nur etwas
Kostbares, Delikates Platz finden, Züge bleicher Seelen sollten über sie
hinweg schauern wie Herbstwolken, zart und düster, abwechselnd mit
tieftönigen, farbig lodernden Träumen im Stile des Gabriele d'Annunzio,
der seit einiger Zeit für Karl Eugen die Rolle des Vermittlers
romanischer Kultur spielte. Selber hatte er nie das Glück gehabt,
Italien oder italienische Kunstwerke zu sehen, doch hatte die Lektüre
dieses Italieners ihn so erzogen, daß er mühelos Vergleiche und Bilder
anwenden konnte wie »vornehm gleich den Gesten einer Madonna des Karlo
Crivelli« oder »kühn wie eine Form des göttlichen Benvenuto Cellini«
oder »ein Lächeln von lionardesker Lieblichkeit«. So häufte er spielend
die Schönheiten alter und fremder Kulturen; er gab seinem Stil bald die
Glut des d'Annunzio, bald die welke Reife von Huysmans, bald die
träumerische Märchenfarbe Maeterlincks oder die weiche Süßigkeit
Hofmannsthals. Noch ein wenig Zeit, ein wenig Reife, und es mußte daraus
etwas berückend Köstliches entstehen.
Er wartete ab, las in seinen Büchern, liebkoste das leere Papier und
setzte sich in Bereitschaft, die bleichen Seelen würdig und feierlich
durch symbolische Traumländer zu geleiten. Sie sollten von allem reden,
was schön und fern und seltsam ist, und an alles erinnern, was in
einsamen Nächten die schauernde Seele eines Ästheten berührt und
entzückt und traurig gemacht hat. Von den Wänden schauten erwartungsvoll
und segnend die Bücherreihen, die Tabakspfeifen und das Bildnis des
Dichters mit dem Kondottiere herab. Zuweilen schien es ihm, als seien
dies alles Dinge, welche überwunden oder doch überboten werden könnten.
Dann strich er sich leise mit der Rechten übers Haar, blickte sinnend
und lächelnd vor sich nieder und träumte von den wunderbaren, reichen,
schöpferischen Stunden, in denen er im Sinnbilde der bleichen Seelen
alles Wunderbare und Unerhörte aus dem Reich der Schönheit erfassen und
in adlige Formen schöpfen würde.
Nach einer solchen Stunde war es ihm immer doppelt peinlich, wenn er im
Laden, wo er sich mit irgend einer Stärkung versehen wollte, dem
strafenden Blick des Vaters oder gar der Mutter begegnete und
unverrichteter Dinge wieder abziehen oder ein paar Zigarren und
dergleichen durch lange, demütige Bitten und Reden erkämpfen mußte. Doch
wußte er sich in diese Mißlichkeiten fast immer mit Ergebung und
freundlicher Ruhe zu finden oder für die Stillung seiner Bedürfnisse
unbewachte Minuten zu benützen.
Der November brachte noch eine Reihe von sonnig blauen Tagen und am
Rande der Tannenwälder leuchtete noch immer rot und gelbes Laubgebüsch.
Um diese Zeit begann der »Abgrund« seine Leser zur schleunigen
Erneuerung ihres Abonnements aufzufordern, was eine Zwiesprache zwischen
Mutter und Sohn zur Folge hatte, worin er den kürzeren zog, so daß er
sich darein schicken mußte, die Tröstung, sich je und je gedruckt zu
sehen, künftig zu entbehren.
Dann kam ein tagelanger schwerer Regen, und eines Morgens lag auf den
völlig entblätterten Büschen im Garten der erste leichte Reif.
Kaum hatte den der Dichter erblickt, so stieg er in den Keller und holte
sich ein Becken voll Kohlen und einen Arm voll Holz herauf. Das
wiederholte er am Nachmittag und acht Tage lang täglich zweimal, bis an
einem Abend, während es im Ofen knallte und krachte, Frau Eiselein in
die Stube trat.
»Du bist wohl verrückt,« sagte sie und deutete auf den glühenden Ofen.
»So heizen kann man zur Not bei zehn Grad Frost. Das ist auch so eine
Studentenmode. Du weißt wahrscheinlich nicht, was die Kohlen kosten?
Drunten müssen wir jeden Pfennig sauer verdienen und du verbrennst das
Zeug da gleich zentnerweise.«
Karl Eugen war aufgestanden und blickte scheu herüber.
»Ungesund ist die übertriebene Heizerei auch noch,« fuhr sie fort.
»Frieren sollst du nicht, aber auch nicht das Dreifache verbrennen wie
andere Leute. Künftig findest du jeden Morgen ein Becken voll Kohlen und
das nötige Holz dazu parat gemacht. Damit kommst du aus, wenn du
Vernunft hast. Das Selberholen muß aber aufhören.«
Des Sohnes Vorstellungen waren erfolglos und er blieb schmollend in
seiner Stube. Vierzehn Tage lang behalf er sich mit dem zugemessenen
Vorrat; da er aber die Gewohnheit hatte, zu überheizen und weit in die
Nacht hinein lesend aufzubleiben, reichte er bald damit nimmer aus.
Morgens einmal, als er noch das ganze Haus schlafend glaubte, stand er
fröstelnd auf und schlich in den Keller, fand aber zu seinem nicht
geringen Ärger und Schrecken den Kohlenverschlag wohlverschlossen. Noch
größer war seine Verlegenheit, als er beim Hinaufsteigen in der Türe die
Mutter stehen sah, die ihm guten Morgen wünschte.
»Machst dir ein bißchen Bewegung?« rief sie lächelnd. »Ja, ja,
Frühaufstehen ist gesund.«
»Du, Mutter,« sagte er flehend, »mit dem bißchen komm' ich nicht aus.
Leg' ein paar Schaufeln zu!«
»Tut mir leid,« war die Antwort, »tut mir leid, junger Herr. Wer nichts
verdient, muß wenigstens sparen können. Wenn du aber durchaus mehr
brauchst, so weißt du ja den Weg in den Wald, wo du als Bub schon oft
genug Tannenzapfen aufgelesen hast. Wenn du jeden Morgen so zeitig
aufstehst wie heute und statt in den Keller in den Wald gehst, kannst du
leicht einen Korb voll oder zwei zusammenbringen. Arme Leute heizen mit
nichts anderem.«
Am nächsten Morgen blieb er zum Trotz recht lang im Bett liegen. Am
übernächsten stand er in der Frühe leise auf, nahm einen Sack mit und
ging in den Wald. Das Lesen kam ihm schrecklich mühsam vor, nach einer
guten Stunde war der Sack aber voll und er konnte ihn noch heimtragen,
eh' die Gassen sich belebten. Von da an ging er täglich und die Mutter
tat, als nehme sie keine Notiz davon. Bald kannte er im Walde die guten
Reviere, vermied die Kiefernwälder und die jungen Bestände und hielt
sich an den alten Tannenforst, wo das dichte Moos voll Zapfen lag. Dabei
wurde er immer so warm, daß er nachher kaum mehr zu heizen brauchte. Die
harsche Herbstmorgenluft tat ihm sichtlich gut und allmählich lernte er,
zum ersten Mal seit seiner Schulbubenzeit, auch wieder ein Auge auf das
Waldleben haben. Er sah die Sonne aus dem Nebel steigen, gewöhnte sich
dran aufs Wetter zu achten, jagte bald einen Hasen, bald ein Wildhuhn
aus dem Schlaf und da er doch einmal mit den verdammten Zapfen zu tun
hatte, lernte er sie allmählich nach Form und Herkunft kennen und die
dunklen harzreichen von den leichten und dürren, die der Weißtannen von
den rottannenen unterscheiden. Anfangs verbarg er sich, so oft ein armes
Weiblein, ein Forsthüter oder Bauer daherkam, nach und nach wurde er
weniger scheu und schließlich trug er im Notfall, wenn auch ungern,
seinen Sack vor jedermanns Augen heim.
Es kam ein Tag, noch im November, da gab er seinen letzten, aus den
üppigen Zeiten her übrig gebliebenen Batzen aus. Zaghaft wandte er sich
an die Mutter um ein wenig Taschengeld.
»Was brauchst du denn?« fragte sie. »Du hast doch alles Nötige.«
Nun ja, er brauchte eigentlich nichts, aber man mußte doch für alle
Fälle ein paar Groschen im Sack haben.
»Ach so.« Die Mutter nickte. »Zu einem Glas Bier oder so, nicht wahr?
Ist ganz recht. Leider hab' ich für solche Sachen gar nichts übrig --
aber wenn dir neben dem Dichten etwa eine Stunde übrig bleibt, kannst du
dir ja leicht ein bißchen was verdienen. Für den Sack Tannenzapfen, den
du mir bringst, geb' ich fünfzig Pfennig. Oder wenn du morgen vormittag
mit dem Vater Kisten packen willst, kannst du auch eine Mark verdienen.«
Er war einverstanden und wenn er künftig für sein wohlverdientes Geld im
Adler oder Sternen einen Schoppen trank oder eine Kegelpartie mitmachte,
schmeckte es ihm besser als früher bei manchem Kommers.
Kurz vor Weihnachten fiel ein wenig Schnee und gleich darauf trat Frost
ein, so daß es mit der Waldarbeit plötzlich ein Ende hatte. Dem Dichter
tat es fast leid um die gewohnte Morgenbeschäftigung, als aber
Weihnachten kam und vorüberging, fiel es ihm plötzlich auf die Seele,
wie schnell die Zeit verstrich und wie notwendig es nun war, seine
Dichtung ernstlich vorwärts zu bringen. Säcke holen, Kisten packen, Holz
spalten und dergleichen hatte ihn in der letzten Zeit ganz davon
abgebracht.
Als er zum ersten Mal das Tal der bleichen Seelen wieder zur Hand nahm,
gefiel der Titel ihm nicht mehr so ganz und er suchte einen neuen zu
finden, aber es fiel ihm keiner ein. Mißmutig lief er eine Zeitlang
herum, ging öfter als sonst zu einem Bier und Billard und sah sich daher
bald wieder ohne Taschengeld. Diesmal half er beim Ausschreiben der
Neujahrsrechnungen und saß drei Tage beim Papa im Kontor. Er bekam ein
paar Mark dafür, aber seine Dichtung wurde davon nicht fett. Vielmehr
war es merkwürdig, wie nach jeder solchen Arbeit die Gedanken
ausblieben, statt zu kommen. Während er das Widmungsblatt nochmals
überlas und sich daran begeistern wollte, geschah es, daß er plötzlich
daran denken mußte, daß der reiche Direktor Selbiger seinem Vater die
letzte Halbjahrsrechnung noch immer schuldig geblieben war. Ob es wohl
anging, den Mann zu mahnen? Bei Tische sprach er mit dem Alten darüber,
aber der war entschieden fürs Abwarten.
Und immer öfter nahm Karl Eugen mit Verzweiflung wahr, daß er mit jedem
Schritt, den er im tätigen Leben machte, seiner Dichtung ferner kam und
Abbruch tat. Er zwang sich nun gewaltsam und schrieb ein paar Seiten,
die ihn aber nicht befriedigten. Die Sprache war gequält und steif, es
kam kein Leben hinein. Ärgerlich warf er das Heft dann in die Schublade
und ging zu einem Kartenspiel im »Hecht«, verlor ziemlich und bot sich
wieder für zwei Tage zum Mithelfen im Laden an.
Dann suchte er bei seinen Büchern Trost, die er in letzter Zeit
vernachlässigt hatte. Und nun erlebte er es zum ersten Mal, daß sie ihn
im Stich ließen, ihm keine Stimmung gaben und ihm sogar fast langweilig
vorkamen. Er hätte jetzt ein Dichterwerk gebraucht, das seine
gegenwärtige Not erfaßt und ausgesprochen und tröstlich verklärt hätte.
Aber d'Annunzio betrachtete griechische Gemmen und streichelte die
Schultern schöner Baronessen, Oskar Wilde roch an exotischen Blumen und
analysierte sein Nervenleben, und der Kondottiere-Dichter besang eine
»blaue Stunde« und einen leierspielenden Knaben.
Eine leise erste Ahnung stieg bitter in ihm auf, daß alle diese schönen
Bücher vielleicht eben nur Bücher, nur ein Luxus für Glückliche und
Reiche und Zufriedene seien, mit dem Leben und seiner Not aber keine
Berührung hatten und haben wollten -- Olympier an goldenen Tischen,
welche von unten her, aus dem Wirrsal des Menschlichen, kein Klagelaut
erreichte. Sie waren schön gewesen, als er sie in üppigen, faulen Zeiten
genossen hatte. Und jetzt, da das Leben seine Hände nach ihm
ausstreckte, schwiegen sie und wollten nichts von ihm wissen. Der
Dichter des »All« fiel ihm ein, der keine Trilogien mehr, sondern
Sportsberichte für ein Tageblatt schrieb. Und er warf das Buch, das er
gerade in der Hand hielt, zornig und traurig an die Wand.
Im Februar tat Frau Eiselein die erste behutsame Frage nach dem Gedeihen
der Dichtung. Karl Eugen hatte gerade ein Faß Petroleum hereingerollt.
Er drückte sich um die Antwort. Und als sie neugierig war, wenigstens
den Titel zu erfahren, rückte und schob er unmutig an dem Faß herum und
brummte: »Den Titel macht man immer zuletzt.« Doch wurde er rot dabei.
Ende März klopfte die Mama wieder an, trat zu dem Dichter an den
Schreibtisch und verlangte sein Werk zu sehen.
»Es ist nicht fertig,« sagte er in unbehaglichem Ton.
»Dann ist's eben halbfertig,« beharrte sie. »Ich gehe nicht aus der
Stube, bis ich's gesehen habe. Sei vernünftig, du kennst mich doch.«
O ja, er kannte sie. Dennoch zögerte er noch eine ganze Weile, ehe er
die Lade herauszog und sein Heft vorlegte.
»Das Tal der bleichen Seelen! Schau, jetzt ist ja doch der Titel da,
freilich ein komischer.«
Es folgten etwa zehn beschriebene Blätter, auf denen aber das meiste
wieder durchgestrichen war.
»Ist das alles?« fragte sie ruhig.
»Das ist alles .... Ich wollte -- --«
»Laß nur, 's ist schon gut.«
Da die Frau das schmerzliche Gesicht ihres Sohnes sah, hielt sie an sich
und brach erst nachher auf der Treppe in ein kräftiges Gelächter aus.
Als sie später den Dichter auf den Kopf fragte, bis wann sein Werk wohl
Hoffnung habe, fertig zu werden, senkte er den Kopf und gestand: »Ich
glaube nie.«
* * * * *
Im April trat Karl Eugen in das Geschäft seines Vaters ein. Im nächsten
Jahre ging er als Volontär in ein auswärtiges Kaufhaus, von wo er mit
guten Zeugnissen zurückkam, und als nach einigen weitern Jahren der alte
Herr anfing kränklich zu werden, übernahm er den Laden allein und
überließ dem Vater nur noch die Korrespondenzen.
Während dieser Jahre fiel das Geniewesen in aller Stille vollends von
ihm ab wie eine Schlangenhaut, und es zeigte sich, daß unter der Hülle
recht viele väterliche und mütterliche Erbstücke unverloren geschlummert
hatten. Die erstarkten nun und traten bald auch äußerlich zutage. Wie
mit dem Lesen und Dichten der Weltschmerz, so war mit dem Schlips und
den Geniemanieren auch die falsche Bedeutsamkeit und Wichtigkeit des
Auftretens verschwunden und der absonderliche Apfel also doch nahe beim
Stamm gefallen. Und der vom milden Stachel täglicher Arbeit aus dem
Traum geweckte Jüngling sah allmählich ein, daß seine vermeintliche
Frühreife weit eher ein ungewöhnlich langes Kapriolenmachen der
Jugendlichkeit gewesen war. Aber desto gründlicher faßte er die Arbeit
und Umkehr an.
Die Zeit ging hin, er heiratete und wurde Vater, das Geschäft ging nicht
übel und seine Schulden waren alle längst bezahlt. Zuweilen nahm er etwa
einmal abends eines der Bücher von damals in die Hand, blätterte darin
hin und her, schüttelte nachdenklich den Kopf und stellte es an seinen
Ort zurück. Das Dichterbildnis aber hing noch immer an der Wand: der
Jüngling im modischen Kragen blickte stolz und verachtend aus dem Rahmen
und hinter ihm saß unerschüttert der kühne Kondottiere auf seinem
ehernen Roß.


Garibaldi

Dieser Tage fuhr ich in der Eisenbahn von Steckborn nach Konstanz. Durch
Obstbäume glänzte mattrot der abendliche Untersee, Bauerngärten mit
Geranien, Fuchsien und Georginen leuchteten durch braun und grüne
Lattenzäune, jenseits des Wassers lag die Reichenau und über Ried und
Rebbergen das hohe Horner Kirchlein goldig umleuchtet in der milden
Abendklarheit. Es war noch heiß und ich hatte streng rudern müssen, um
den Zug noch zu erreichen. Nun saß ich müde und gedankenlos allein in
der Wagenecke und sah durchs offene Fenster die wohlbekannten Berge,
Matten und Wasser im roten Abenddunst verglühen.
Der Wagen war fast leer. Ein paar Bänke weiter saßen zwei grauhaarige
Herren in lebhaftem Gespräch beisammen. Ich war zu müd und teilnahmlos,
um etwas davon zu verstehen; ich hörte nur die einzelnen Worte und nahm
wahr, daß der eine von den Redenden ein Thurgauer vom See, der andere
aber ein Zürcher sein müsse, der Sprache nach zu urteilen. Dann
interessierte mich auch das nicht mehr, ich lehnte mich träg in die Ecke
und begann zu gähnen.
Da hörte ich in dem benachbarten Gespräch plötzlich mehrmals den Namen
Garibaldi nennen und war verwundert, daß dieses Wort mich so merkwürdig
erregte. Was ging mich Garibaldi an?
»Ja wohl, der Garibaldi!« rief da wieder der Thurgauer laut, und die
Betonung, mit der er den Namen aussprach, weckte mich aus meiner
Stumpfheit und zwang mich, dem lang nicht mehr gehörten Klange folgend
lange Erinnerungswege zu wandern, zurück und weiter zurück bis in die
Zeiten, in denen jener Name mir vertraut und wichtig gewesen war. Aus
kühlen Brunnentiefen ferner Kinderjahre wehte mich ein fremder, starker
Heimwehzauber an. Und als ich spät am Abend von Konstanz zurück war und
dann langsam durch die bleiche Seenacht meinem Dorfe entgegen fuhr, als
der leise laue Wind im Segel sang und seltene Rufe aus entfernten
Fischerbooten übers Wasser wehten, stand ein Stück Kinderzeit und
halbvergessenes, glückliches Ehemals neu und lebendig vor mir auf.
* * * * *
Garibaldi war ein Märchen, ein Phantasiebild, eine Dichtung.
Eigentlich hieß er Schorsch Großjohann, wohnte jenseits unseres
gepflasterten Hofes und trieb das dunkle Gewerbe eines Winkelreinigers,
das ihn kümmerlich ernährte. Ich wurde aber zehn Jahre alt, ehe ich
seinen eigentlichen Namen erfuhr; bis dahin hörte ich ihn nie anders als
den Garibaldi nennen und wußte nicht, daß schon dieser Name, der mir so
wohl gefiel, eine Dichtung war. Ihn hatte meine Mutter erfunden, und da
ich ohne meine Mutter nie zum Träumespinner und Fabulierer geworden
wäre, war es billig, daß sie auch bei jenem Kindermärchen Pate stand.
Sie hatte das Bedürfnis und auch die Gabe, ihre ganze Umgebung beständig
nach ihrem eigenen, lebhaften Geist zu gestalten und zu benennen, und
ich darf von dieser ihrer Zauberkunst nicht zu reden anfangen, da ich
sonst kein Ende fände.
So hatte sie auch, schon lang vor meiner Geburt, mit dem alten
Winkelreiniger Großjohann, den man täglich mehrmals über unsern Hof
gehen sah und mit dem man doch kaum alle Jahr einmal ein Wörtlein
sprach, nichts anzufangen gewußt. Dem schmierigen Winkelreiniger half es
nichts, daß er eine mächtige, wetterfeste Figur, breite Schultern und
ein abenteuerlich kriegerisches Gesicht mit greisem, langem Doppelbart
besaß; an ihm war das nur lächerlich. Aber sobald man ihn Garibaldi
nannte, war er seines stolzen Äußeren würdig, dann umwitterte ihn statt
des Winkelgestankes eine heroische Luft und war es jedesmal ein Erlebnis
und eine Freude, ihm zu begegnen. Meine Mutter wünschte stets unter
Menschen und Sachen zu leben, deren Anblick ihr jedesmal ein Erlebnis
und eine Freude war. So nannte sie den alten Nachbar Garibaldi.
Ich kleiner Bub wußte vom wahren, historischen Garibaldi, dessen Bild
und Taten meiner Mutter wohlbekannt waren, damals noch kein Wort. Aber
der stattliche welsche Name machte mir großen Eindruck und hüllte den
Schorsch Großjohann wie eine sagenhafte Wunderwolke ein.
Soweit war Garibaldi die Schöpfung meiner Mutter. Ohne davon eine Ahnung
zu haben, dichtete ich nun an ihm weiter und machte ihn zu einem
seltsamen Helden, dessen Leben ich mitlebte und dessen Schicksale mich
wie eigene Schicksale bewegten, ohne daß ich je ein Wort mit ihm
gesprochen hätte. Fast jeden Tag sah ich ihn ein oder zweimal in seiner
Tätigkeit, außerdem abends im Hof oder hinter den niederen Fensterchen
seiner Wohnung.
Er war damals schon bald siebzig und, wenn man auf Kleidung und
Reinlichkeit nicht allzu streng achten wollte, ein schöner Greis. Das
Kriegerische, das er an sich hatte, bestand neben der großen sehnigen
Gestalt hauptsächlich in der braunen Gesichtsfarbe und in dem langen,
gelblichgrauen, stark verwilderten Haar und Bart. Wenn man das Gesicht
genauer aufschaute und mit dem äußeren Wesen und Lebenswandel des alten
Mannes zusammenhielt, kam eher ein milder Charakter heraus. Mund und
Nase zwar waren fest, scharf und schneidig geformt, aber die große
stille Stirn wies weder Narben noch tiefe Falten auf, sondern glich etwa
einer abendlichen Straße, auf welcher das Leben vollends eindämmert oder
wo Wanderer, Wagen und Rosse, das sind Gedanken, Hoffnungen und
Leidenschaften schon so lange vorübergebraust und gefahren sind, daß
ihre Spuren sich wieder zu glätten beginnen. Dies bestätigten auch die
hellgrauen Augen. Sie waren noch klar und scharf und saßen klein und
wachsam über der braunen Hakennase, aber der Blick zeigte eine etwas
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