Nachbarn: Erzählungen - 02

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brachte seine Mutter mit. Er hatte ihr am vergangenen Abend gestanden,
daß er in Margret verliebt sei und zwar wenig Hoffnungen hege, dem
mütterlichen Beistande aber und dem Ausflugsnachmittage doch noch
einiges zutraue. So sehr sie ihrem Kleinen das beste gönnte, so schien
ihr doch Margret zu jung und zu hübsch für ihn zu sein. Man konnte es ja
versuchen; die Hauptsache war, daß Andreas bald eine Frau bekam, schon
des Ladens wegen.
Man rückte ohne Gesang aus, denn der Waldweg ging ziemlich steil und
beschwerlich bergauf. Frau Ohngelt fand trotzdem Sammlung und Atem
genug, um erstlich ihrem Sohn die letzten Verhaltungsmaßregeln für die
kommenden Stunden einzuschärfen und hernach ein aufgeräumtes Gespräch
mit Frau Dierlamm anzufangen. Margrets Mutter bekam, während sie Mühe
hatte im Bergansteigen Luft für die notwendigsten Antworten zu
erübrigen, eine Reihe angenehmer und interessanter Dinge zu hören. Frau
Ohngelt begann mit dem prächtigen Wetter, ging von da zu einer Würdigung
der Kirchenmusik, einem Lob für Frau Dierlamms rüstiges Aussehen und
einem Entzücken über das Frühlingskleid der Margret und ihre Schönheit
über, sie verweilte bei Angelegenheiten der Toilette und gab schließlich
eine Darstellung von dem erstaunlichen Aufschwung, den der
Weißwarenladen ihrer Schwägerin in den letzten Jahren genommen habe.
Frau Dierlamm konnte auf dieses hin nicht anders, als auch des jungen
Ohngelt lobend zu erwähnen, der so viel Geschmack und kaufmännische
Fähigkeiten zeige, was ihr Mann schon vor manchen Jahren während
Andreas' Lehrzeit bemerkt und anerkannt habe. Auf diese Schmeichelei
antwortete die entzückte Mutter mit einem halben Seufzer. Freilich, der
Andreas sei tüchtig und werde es noch weit bringen, auch sei der
prächtige Laden schon so gut wie sein Eigentum, ein Jammer aber sei es
mit seiner Schüchternheit gegen das Frauenzimmer. Seinerseits fehle es
weder an Lust noch an den wünschenswerten Tugenden für das Heiraten,
wohl aber an Zutrauen und Unternehmungsmut, und wenn schon dies ja in
einem gewissen Sinne für ihn spreche, so komme er doch auf diese Weise
in der erwähnten Hauptsache niemals vorwärts.
Frau Dierlamm, da die Gesellschaft mittlerweile die Hügelhöhe und einen
nahezu ebenen Pfad erreicht hatte, begann mit wiedergewonnenem Atem nun
die besorgte Mutter zu trösten und wenn sie dabei auch weit davon
entfernt war, an ihre Tochter zu denken, versicherte sie doch, daß eine
Verbindung mit Andreas für jede ledige Tochter der Stadt nur willkommen
sein könnte. Diese Worte sog die Ohngelt wie Honig ein und über ihr vom
Gehen warm gewordenes Gesicht leuchtete eine so reine Genugtuung, daß es
fast wie Schadenfreude anzusehen war.
Unterdessen war Margret mit anderen jungen Leuten der Gesellschaft weit
voran geeilt und diesem kleinen Kreise der Jüngsten und Lustigsten
schloß sich auch Ohngelt an, obwohl er alle Not hatte, mit seinen kurzen
Beinen nachzukommen.
Wieder waren alle ausnehmend freundlich gegen ihn, denn für diese
Spaßvögel war der ängstliche Kleine mit seinen verliebten Augen ein
gefundenes Fressen. Auch die hübsche Margret tat mit und zog den Anbeter
je und je mit scheinbarem Ernste ins Gespräch, so daß er vor glücklicher
Erregung und verschluckten Satzteilen ganz heiß wurde.
Allein das Vergnügen dauerte nicht lange. Allmählich merkte der arme
Teufel doch, daß er hinterrücks beständig ausgelacht wurde, und wenn er
sich auch darein zu schicken wußte, so ward er doch niedergeschlagen und
ließ alle Hoffnung wieder sinken. Äußerlich ließ er sich jedoch
möglichst wenig anmerken. Die Ausgelassenheit der jungen Leute stieg mit
jeder Viertelstunde und er lachte angestrengt desto lauter mit, je
deutlicher er alle Witze und Andeutungen als auf ihn selber gemünzt
erkannte. Schließlich endete der Keckste von den Jungen, ein baumlanger
Apothekergehilfe, die Neckereien durch einen recht groben Scherz.
Man kam gerade an einer schönen alten Eiche vorüber und der Apotheker
bot sich an zu versuchen, ob er den untersten Ast des hohen Baumes mit
den Händen erreichen könne. Er stellte sich auf und sprang mehrmals in
die Höhe, aber es reichte nicht ganz, und die im Halbkreise
umherstehenden Zuschauer begannen ihn auszulachen. Da kam er auf den
Einfall, sich durch einen Witz wieder in Ehren und einen andern an die
Stelle des Ausgelachten zu bringen. Plötzlich griff er den kleinen
Ohngelt um den Leib, hob ihn in die Höhe und forderte ihn auf, den Ast
zu fassen und sich daran zu halten. Der Überraschte war empört und wäre
gewiß nicht darauf eingegangen, hätte er nicht in seiner schwebenden
Lage Furcht vor einem Sturze gehabt. So packte er denn zu und klammerte
sich an; sobald sein Träger dies aber bemerkte, ließ er ihn los und
Ohngelt hing nun unter dem Gelächter der Jugend hilflos hoch am Aste,
mit den Beinen zappelnd und zornige Schreie ausstoßend.
»Herunter!« schrie er heftig. »Nehmen Sie mich sofort wieder herunter,
Sie!«
Seine Stimme überschlug sich, er fühlte sich vollkommen vernichtet und
ewiger Schande preisgegeben. Der Apotheker aber meinte, nun müsse er
sich loskaufen, und alle jubelten Beifall.
»Sie müssen sich loskaufen,« rief auch Margret Dierlamm.
Da konnte er doch nicht widerstehen.
»Ja, ja,« rief er, »aber schnell!«
Sein Peiniger hielt nun eine kleine Rede des Inhalts, daß Herr Ohngelt
schon seit drei Wochen Mitglied des Kirchengesangvereins wäre, ohne daß
jemand ihn habe singen hören. Nun könne er nicht eher aus seiner hohen
und gefährlichen Lage befreit werden, als bis er der Versammlung ein
Lied vorgesungen habe.
Kaum hatte er gesprochen, so begann Andreas auch schon zu singen, denn
er fühlte sich von seinen Kräften verlassen. Halb schluchzend fing er
an: »Gedenkst du noch der Stunde« -- und war noch nicht mit der ersten
Strophe fertig, so mußte er loslassen und stürzte mit einem Schrei
herab. Alle waren nun doch erschrocken und wenn er ein Bein gebrochen
hätte, wäre er gewiß eines reumütigen Mitleids sicher gewesen. Aber er
stand zwar blaß, doch unversehrt wieder auf, griff nach seinem Hute, der
neben ihm im Moose lag, setzte ihn sorgfältig wieder auf und ging
schweigend davon -- denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Hinter
der nächsten Wegbiegung setzte er sich am Straßenrande nieder und suchte
sich zu erholen.
Hier fand ihn der Apotheker, der ihm mit schlechtem Gewissen
nachgeschlichen war. Er bat um Verzeihung, ohne eine Antwort zu
erhalten.
»Es tut mir wirklich furchtbar leid,« sagte er nochmals bittend, »ich
hatte gewiß nichts Böses im Sinn. Bitte verzeihen Sie mir und kommen Sie
wieder mit!«
»Es ist schon gut«, sagte Ohngelt und winkte ab, und der andere ging
unbefriedigt davon.
Wenig später kam der zweite Teil der Gesellschaft mit den älteren Leuten
und den beiden Müttern dabei langsam angerückt. Ohngelt ging zu seiner
Mutter hin und sagte:
»Ich will heim.«
»Heim? Ja warum denn? Ist was passiert?«
»Nein. Aber es hat doch keinen Wert, ich weiß es jetzt gewiß.«
»So? Hast du einen Korb gekriegt?«
»Nein. Aber ich weiß doch --«
Sie unterbrach ihn und zog ihn mit.
»Jetzt keine Faxen! Du kommst mit und es wird schon recht werden. Beim
Kaffee setz' ich dich neben die Margret, paß auf.«
Er schüttelte bekümmert den Kopf, gehorchte aber und ging mit. Das
Kircherspäule versuchte eine Unterhaltung mit ihm anzufangen und mußte
es wieder aufgeben, denn er blickte schweigend geradeaus und hatte ein
gereiztes und verbittertes Gesicht, wie es niemand an ihm je gesehen
hatte.
Nach einer halben Stunde erreichte die Gesellschaft das Ziel des
Ausflugs, ein kleines Walddorf, dessen Wirtshaus durch seinen guten
Kaffee bekannt war und in dessen Nähe die Ruinen einer kleinen
Raubritterburg lagen. Im Wirtsgarten war die schon länger angekommene
Jugend lebhaften Spielen hingegeben, Gelächter und laute Rufe klangen
hell durch die sonnige Frühlingsluft. Jetzt wurden Tische aus dem Hause
gebracht und zusammengerückt, die jungen Leute trugen Stühle und Bänke
herbei; frisches Tischzeug wurde aufgelegt und die Tafeln mit Tassen,
Kannen, Tellern und Backwerk bestellt. Frau Ohngelt gelang es richtig,
ihren Sohn an Margrets Seite zu bringen. Er aber nahm seines Vorteils
nicht wahr, sondern dämmerte im Gefühl seines Unglücks trostlos vor sich
hin, rührte gedankenlos mit dem Löffel im erkaltenden Kaffee und schwieg
hartnäckig trotz allen Blicken, die seine Mutter ihm sandte.
Gleichgiltig hörte er zu, wie Margret mit ihrem andern Tischnachbarn ein
lebhaftes Gespräch begann und weiterführte, und er nickte nur still vor
sich hin, als weiter unten an der Tafel im Gewirre der Unterhaltungen
auch Anspielungen auf sein Abenteuer laut wurden. Er hörte mehrmals
unter Kichern das Wort Zachäus aussprechen und wußte, wem es galt, und
dennoch war er nicht mehr zornig, sondern gab sich dem Gefühl eines
widerstandslosen Untersinkens in Schmach und Unglück mit einer Art von
Wollust hin.
Nach der zweiten Tasse beschlossen die Anführer der Jungen, einen Gang
nach der Burgruine zu tun und dort Spiele zu machen. Lärmend erhob sich
die Jungmannschaft samt den Mädchen. Auch Margret Dierlamm stand auf und
im Aufstehen übergab sie dem mutlos verharrenden Ohngelt ihr hübsches
perlengesticktes Handtäschlein mit den Worten:
»Bitte bewahren Sie mir das gut, Herr Ohngelt, wir gehen zum
Spielen.« Er nickte und nahm das Ding zu sich. Die grausame
Selbstverständlichkeit, mit der sie annahm, er werde bei den Alten
bleiben und sich nicht an den Spielen beteiligen, wunderte ihn nicht
mehr. Ihn wunderte nur noch, daß er das alles nicht von Anfang an
bemerkt hatte, die merkwürdige Freundlichkeit bei den Proben, die
Geschichte mit dem Kistlein und alles andere.
Als die fröhlichen jungen Leute gegangen waren und die Zurückgebliebenen
weiter Kaffee tranken und Gespräche spannen, verschwand Ohngelt
unvermerkt von seinem Platz und ging hinterm Garten übers Feld dem Walde
zu. Die hübsche Tasche, die er in der Hand trug, glitzerte freudig im
Sonnenlicht; er aber wußte nicht, sollte er das nette Spielzeug mit
Küssen bedecken oder weit in die Büsche schleudern. Vor einem frischen
Baumstrunk machte er Halt. Er zog sein Taschentuch heraus, breitete es
über das noch lichte, feuchte Holz und setzte sich darauf. Dann stützte
er den Kopf in die Hände und brütete über traurigen Gedanken und als
sein Blick wieder auf die bunte Tasche fiel und als zugleich mit einem
Windzug die Schreie und Freudenrufe der in der Burg Ballspielenden
herüberklangen, neigte er den schweren Kopf tiefer und begann lautlos
und kindlich zu weinen.
Wohl eine Stunde lang blieb er so sitzen. Seine Augen waren wieder
trocken und seine Erregung verflogen, aber das Traurige seines Zustandes
und die Hoffnungslosigkeit seiner sehnlichsten Bestrebungen waren ihm
jetzt noch klarer als zuvor. Da hörte er einen leichten Schritt sich
nähern, ein Kleid rauschen, und ehe er von seinem Sitze aufspringen
konnte, stand die Paula Kircher neben ihm.
»Ganz allein?« fragte sie scherzend. Und da er nicht antwortete und sie
ihn genauer anschaute, wurde sie plötzlich ernst und fragte mit
frauenhafter Güte: »Wo fehlt es denn? Ist Ihnen ein Unglück geschehen?«
»Nein,« sagte Ohngelt leise und ohne nach Phrasen zu suchen. »Nein. Ich
habe nur eingesehen, daß ich nicht unter die Leute passe. Und daß ich
ihr Hanswurst gewesen bin.«
»Nun, so schlimm wird es nicht sein --«
»Doch, gerade so. Ihr Hanswurst bin ich gewesen, und besonders noch den
Mädchen ihrer. Weil ich gutmütig gewesen bin und es redlich gemeint
habe. Sie haben recht gehabt, ich hätte nicht in den Verein gehen
sollen.«
»Sie können ja wieder austreten und dann ist alles gut.«
»Austreten kann ich schon, und ich tu es lieber heut als morgen. Aber
damit ist noch lange nicht alles gut.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich zum Spott für sie geworden bin. Und weil jetzt vollends keine
mehr --«
Das Schluchzen übernahm ihn beinahe. Sie fragte freundlich: »-- und weil
jetzt keine mehr --?«
Mit zitternder Stimme fuhr er fort: »Weil jetzt vollends kein Mädchen
mehr mich achtet und mich ernst nehmen will.«
»Herr Ohngelt,« sagte das Päule langsam, »sind Sie jetzt nicht
ungerecht? Oder meinen Sie, ich achte Sie nicht und nehme Sie nicht
ernst?«
»Ja, das wohl, das war nicht recht von mir. Aber das war auch eigentlich
nicht das, was ich gemeint habe. Ich glaube schon, daß Sie mich noch
achten. Aber das ist es nicht.«
»Ja, was ist es denn?«
»Ach Gott, ich sollte gar nicht davon reden. Aber ich werde ganz irr,
wenn ich denke, daß jeder andere es besser hat als ich, und ich bin doch
auch ein Mensch, nicht? Aber mich -- mich will -- mich will keine
heiraten!«
Es entstand eine längere Pause. Dann fing das Päule wieder an:
»Ja, haben Sie denn schon die eine oder andre gefragt, ob sie will oder
nicht?«
»Gefragt! Nein, das nicht. Zu was auch? Ich weiß ja vorher, daß keine
will.«
»Dann verlangen Sie also, daß die Mädchen zu Ihnen kommen und sagen: Ach
Herr Ohngelt, verzeihen Sie, aber ich möchte so schrecklich gern haben,
daß Sie mich heiraten! Ja, auf das werden Sie freilich noch lang warten
können.«
»Das weiß ich wohl,« seufzte Andreas. »Sie wissen schon, wie ich's
meine, Fräulein Päule. Wenn ich wüßte, daß eine es gut mit mir meint und
mich ein wenig gut leiden könnte, dann --«
»Dann würden Sie vielleicht so gnädig sein und ihr zublinzeln oder mit
dem Zeigfinger winken! Lieber Gott, Sie sind -- Sie sind --«
Damit lief sie davon, aber nicht etwa mit einem Gelächter, sondern mit
Tränen in den Augen. Ohngelt konnte das nicht sehen, doch hatte er etwas
Sonderbares in ihrer Stimme und in ihrem Davonlaufen bemerkt, darum
rannte er ihr nach und als er bei ihr war und beide keine Worte fanden,
hielten sie sich plötzlich umarmt und gaben sich einen Kuß. Da war der
kleine Ohngelt verlobt.
Als er mit seiner Braut verschämt und doch tapfer Arm in Arm in den
Wirtsgarten zurückkehrte, war alles schon zum Aufbruch bereit und hatte
nur noch auf die zwei gewartet. In dem allgemeinen Tumult, Erstaunen,
Kopfschütteln und Glückwünschen trat die schöne Margret vor Ohngelt und
fragte: »Ja, wo haben Sie denn meine Handtasche gelassen?«
Bestürzt gab der Bräutigam Auskunft und eilte in den Wald zurück, und
das Päule lief mit. An der Stelle, wo er so lang gesessen und geweint
hatte, lag im braunen Laube der schimmernde Beutel, und die Braut sagte:
»Es ist gut, daß wir noch einmal herüber sind. Da liegt ja auch noch
dein Sacktuch.«


Karl Eugen Eiselein

Schorsch Eiselein, Kolonialwarenhändler in Gerbersau, besaß einen
Kaufladen, von dem er anständig und bequem leben konnte und der ihm
wenig Sorgen machte, und eine kluge kleine Frau, mit der er überaus
zufrieden war, ferner einen kleinen Sohn, der vom Vater sowohl wie von
der Vorsehung zu Höherem bestimmt war und ihm darum viele Sorgen machte.
Dieser Sohn hieß Karl Eugen Eiselein, und es wollte etwas bedeuten, daß
er von klein auf nicht Karl oder Eugen, sondern stets mit dem
fürstlichen Doppelnamen Karleugen gerufen ward. Dementsprechend gab der
Kleine auch für zwei zu tun und zu sorgen, schrie für zwei und brauchte
Windeln und Kleider für zwei, bis er allmählich in das Alter trat, wo
die Erzeuger an ihren Sprößlingen eine gewisse Freude zu erleben
wünschen. Daran ließ es denn der Knabe auch nicht fehlen; es zeigte
sich, daß er nicht zu den Dummen gehöre und wohl einer höhern Ausbildung
fähig sei.
Herr Eiselein war sehr glücklich. Ihm selbst waren die Gefilde der
klassischen Bildung zu seinem Schmerze unerschlossen geblieben; desto
sehnlicher wünschte er, seinen Sohn in dieser fremden Welt sich tummeln
zu sehen. Er legte daher eines Tages einen Festrock, gestickte Weste und
reinen Hemdkragen an, strich dem Knäblein zärtlich über den glatten
blonden Scheitel und führte es zur Lateinschule, wo er es der Obhut des
Kollaborators Wurster übergab.
Von da an ging der junge Karl Eugen den gewohnten Weg eines Gerbersauer
Lateiners. Ein Jahr lang regierte ihn der Kollaborator Wurster, ein
sanfter lächelnder Mann mit altmodischen Löcklein und engen Hosen; dann
gab ihn dieser an den Präzeptor Dilger weiter, einen feisten Wüterich
mit langem Meerrohr und furchtbarer Stirnrunzel, und wieder nach einem
Jahr übernahm ihn Doktor Müller, ein eleganter Stutzer von feinen
Manieren.
Der Bub erwies sich als gescheit und kam glatt von einer Klasse in die
andere. Nicht so glatt und tadellos ging er aus manchen langwierigen
Affären und Untersuchungen hervor, welche Äpfeldiebstähle,
Unehrerbietigkeiten gegen die Lehrer, Schulschwänzereien und schlechtes
Betragen beim Kirchenbesuch zum Gegenstande hatten. Zwar verstand er die
Kunst, sich hinter andere zu bergen und einleuchtende mildernde Umstände
beizubringen, vortrefflich; trotzdem verbüßte er manchen sonnigen
Mittwoch nachmittag im Klassenarrest und kam oft genug geprügelt und
gescholten und jammervoll nach Hause, wo der Vater ihn mit Trost und
Teilnahme empfing und jedesmal schnell wieder einer freundlicheren
Betrachtung des Lebens entgegenführte.
Nichtsdestoweniger war Karl Eugen Eiselein in seinem elften Lebensjahre
eines Tages spurlos verschwunden, samt vier Talern aus seines Vaters
Ladenkasse, einem halben Zuckerhut und zwei Schulkameraden, deren
bestürzte Eltern ihre Klagen mit denen des Kolonialwarenhändlers
vereinigten.
Als die Knaben gegen Abend noch immer fehlten, wurden nach allen Seiten
Boten ausgesandt, der ganze Fluß ward mit Stangen abgestochen und bei
jedem Stiche schauderte die zuschauende Kinderschar zusammen, gewärtig,
im nächsten Augenblick einen der Ertrunkenen am Spieße zu sehen. Es kam
aber keiner zum Vorschein.
Herr Eiselein war in seiner Not den ganzen Abend herumgelaufen. Er
kehrte spät und trostlos heim und schob den Suppenteller, den die Frau
ihm warmgestellt hatte, traurig zurück. Aber die kleine Frau, so ruhig
und nachgiebig sie sonst war, stellte ihm den Teller sogleich wieder
hin, zwang ihm den Löffel in die Hand und sagte sehr bestimmt: »Für nix
will ich 's Essen nicht gewärmt haben, iß du jetzt nur. Der Lausbub wird
wohl wiederkommen, wenn er Hunger kriegt. Sei jetzt so gut und iß!« Und
der Vater war so gebrochen und widerstandslos, daß er nicht einmal
aufbegehrte, sondern ganz still den Löffel nahm und aß, bis nichts mehr
da war. Das hatte die Frau doch nicht erwartet, und da sie daraus seine
Verzweiflung ersah, wurde jetzt auch sie beklommen und angstvoll, und
beide saßen den ganzen Abend beisammen am Tisch, sagten nichts und gaben
sich düsteren Gedanken hin.
Nachts nach elf Uhr geschah ein kurzes schwaches Läuten an der
Hausglocke und gleich darauf ein stärkeres, kühneres, und an der Pforte
stand und wartete und schämte sich Karl Eugen. Nachdem man ihm abgefragt
hatte, daß auch seine Kameraden wieder da und noch am Leben seien, ließ
man ihn schlafen. Ehe der aufatmende Vater vom Bette aus nach dem
Kerzenlöscher griff, hustete seine kühn gewordene Frau und sagte:
»Schorsch, wenn du morgen dem Bub nicht eine gesalzene Portion gibst,
dann geb' sie ihm ich.« Er seufzte, löschte das Licht und konnte noch
lang nicht einschlafen.
Am anderen Tag kam alles sauber an das Licht und als Hauptverführer ward
der gefährliche Fennimore Cooper entdeckt. Die Knäblein hatten
beschlossen, miteinander die langweilige alte Welt zu verlassen und die
Heimat der Mohikaner aufzusuchen, wo statt Meerrohr und Grammatik
Skalpmesser, Kriegsbeil und Flinte die Begleiter der Jugend sind. Auch
wäre alles gut gegangen, aber die Nacht war so kalt und sie hatten im
Walde nimmer aus noch ein gewußt, obwohl der eine von ihnen Pfadfinder,
der zweite Falkenauge und der dritte Waldläufer hieß. Von den vier
Talern waren drei Batzen für eine Blechpistole und sieben für ein
grausam langes Sackmesser ausgegeben worden, der Rest fand sich
unversehrt vor und nur der Verbleib des Zuckerhutes blieb ein Rätsel.
Diesen ganzen Tag lief Karl Eugens Mutter in Spannung umher und als bis
zum Abendessen noch nichts geschehen war, ging sie zum Vater in den
Laden hinunter. »Eh' der Kleine seine Prügel nicht hat, kriegt er auch
nix zu essen,« sagte sie mit Nachdruck und der Gatte sah ein, daß es
Pflichten gibt, denen niemand sich entziehen kann, und Weltgesetze,
denen wir widerstandslos unterliegen. Gleich darauf machte das Söhnchen
dieselbe Erfahrung; während jedoch der Vater sich mit Seufzen begnügte,
ließ jener nach Art der Jugend seinen Gefühlen und Tränen freien Lauf,
ja erhob ein so erschütterndes Wehegeschrei, daß der Züchtiger schon
nach wenigen Streichen innehielt und froh war, als Karl Eugen nur wieder
aufstand und sich zum Essen bewegen ließ.
Dieses Abenteuer hatte zur Folge, daß in der Lateinschule über dreißig
Indianerbücher konfisziert wurden, daß die drei Amerikaner zuerst vom
Klassenlehrer eine angemessene Strafpredigt samt Arrest zugeteilt
erhielten und dann noch dem schonungslosen Spott der Schulkameraden
anheimfielen, und daß der kleine Eiselein für eine Weile in sich ging
und mehrere Wochen lang ein Musterschüler war. Allmählich wurden die
kassierten Bücher durch neue ersetzt, die Strafrede und der Arrest
verschmerzt, auch der Musterschüler verschwand wieder wie ein Nebelbild
und nur der Schülerspott hielt noch lange Zeiten vor.
Es kamen die Jahre heran, in welchen es sich zu zeigen pflegt, ob ein
Schüler Lust und Beruf zu den höheren Studien habe oder ob es geratener
sei, ihn sein Latein in einem Kaufladen oder in einer Schreibstube
vergessen zu lassen. Beim jungen Eiselein war es unzweifelhaft, daß er
zu ersterem bestimmt sei. Seine Hefte waren sauber und wiesen gute
Zeugnisse auf, seine Aufsätze hatten Schwung und Feuer, ebenso seine
Deklamationen, und bei der Entlassungsfeier der obersten Klasse trug er,
nun fünfzehnjährig, eine selbstgefertigte Rede vor, bei der dem Rektor
ein Schmunzeln auf die Lippen und dem andächtig zuhörenden
Kolonialwarenhändler eine Träne ins Vaterauge trat. Es war beschlossen,
ihn in die Residenz auf das Gymnasium zu tun.
Vorher waren noch ein paar Wochen Ferien, und in dieser Zeit legte Karl
Eugen die ersten Zeugnisse seiner Dichterbegabung ab. Es fand nämlich
der Geburtstag einer Großtante statt, die Familie Eiselein war
eingeladen und beim Kaffee trat der Jüngling mit einem Gedicht hervor,
dessen Schönheit und Länge die ganze Festgesellschaft in Erstaunen
setzte. Seinem Vater gab der Bengel auf Befragen zur Antwort, er habe
schon seit einem Jahr oder noch länger eine Masse Gedichte gemacht und
wisse schon längst, daß er zum Dichter und nur zum Dichter geboren sei.
Dies hörte der überraschte Papa mit ebensoviel Befremdung als Stolz.
Denn wenn er auch nie an den außerordentlichen Gaben seines Sohnes
gezweifelt hatte, so war doch dieser frühe und kühne Flug des jungen
Adlers ihm eigentümlich überraschend. Teils um ihn zu belohnen, teils
vielleicht auch um ihn in gute Bahnen zu lenken, kaufte und schenkte er
dem Jungen Theodor Körners Werke in rot Leinen gebunden und eine
ebenfalls schön gebundene, jedoch im Preise herabgesetzte ältere
Lebensbeschreibung Gotthold Ephraim Lessings.
Um die Zeit dieser Ereignisse hatte der inzwischen auch schon
konfirmierte Karl Eugen das Äußere eines Knaben vollkommen abgelegt,
Pausbacken sowohl wie kurze Hosen, und sich in einen schlanken, stillen
und wohlgekleideten Jüngling verwandelt, der etwas auf sich hielt und
jedem, der ihn etwa noch als Bub zu behandeln und mit du anzureden
wagte, eine ironische Haltung entgegenzusetzen wußte, deren Wirkung,
obwohl er selbst sie überschätzte, nicht zu leugnen war. Seine Schuhe
waren stets blank, sein Gang gemessen, sein Scheitel glatt und gepflegt.
Das hauptstädtische Gymnasium würde sich seiner nicht zu schämen
brauchen. Vorwegnehmend drang er auch schon in den Ferien tief in die
homerische Welt ein und las die halbe Odyssee, allerdings in der
Vossischen Übersetzung. Er hätte sie ganz gelesen, wenn nicht der
rotleinene Körner dazwischen gekommen wäre.
Die Ferienzeit erreichte ihr Ende, diesmal nicht zum Leidwesen Karl
Eugens, welcher vielmehr die Reise nach der Stadt und den Eintritt in
das Gymnasium mit freudigster Ungeduld erwartete. Während in den letzten
Tagen Herr Eiselein seinen Sohn mit verdoppelter Zärtlichkeit und
Sorgfalt behandelte und schon im voraus ein mit Stolz gemischtes
Abschiedsweh empfand, war die Mutter still und emsig mit dem Einkaufen
und Packen, Waschen und Glätten, Flicken und Bürsten des Notwendigen
beschäftigt. Am vorletzten Tage machte der Gymnasiast in seinem
schwarzen Konfirmandenrock eine Reihe von Abschiedsbesuchen bei
Verwandten, Gevattern, Lehrern und guten Freunden, nahm Ratschläge,
Geschenke und Glückwünsche, Händedrücke und Scherzworte mit manierlichem
Lächeln entgegen und trug die Gefühle eines in rühmliche Kriegsdienste
abgehenden jungen Fähnrichs in seiner Brust. Der feste Vorsatz, schon in
die ersten Ferien verändert, gealtert und vornehmer heimzukommen,
verlieh ihm dabei eine zurückhaltende Überlegenheit von delikater
Nuance.
Alsdann kam die Stunde des Abschieds und der Abreise. Der Vorsteher
einer Knabenpension in der Hauptstadt, in dessen Hause Karl Eugen
unterkommen sollte, war gekommen, um ihn abzuholen. Die Mutter lächelte,
gab noch einige gute Winke und Ratschläge, sah nach dem Gepäck und warf
prüfende Blicke auf den Pensionsherrn. Dieser benahm sich sehr gemessen,
sehr höflich und sehr fein. Der Vater hingegen war traurig, seinen
Liebling zu verlieren und doch aber auch stolz, ihn einer glänzenden
Laufbahn und Zukunft entgegenschreiten zu sehen, und die Mischung dieser
Gefühle arbeitete in seinen Zügen so heftig, daß sein Gesicht ganz
bläulich anlief und so mitgenommen aussah, als hätte der brave Herr die
unverantwortlichsten Ausschweifungen zu bereuen.
»Also, geehrter Herr, seien Sie ohne Sorgen, Ihr Sohn kommt in gute
Hände,« versicherte der fremde höfliche Herr des öftern, wobei Vater
Eiselein ihn mit einem Blicke ansah, als hätte jener ihm seine Teilnahme
bei einem Todesfall ausgesprochen.
Und der Fremde zog höflich den Hut, und ein letzter inbrünstiger
Händedruck machte den Sohn erbeben. Und der Zug hielt an und man stieg
ein, und der Zug pfiff und stank nach Rauch und Öl und lief wieder
davon, so schnell, daß er schon fast außer Sicht gerückt war, als
Eiselein sein farbiges Taschentuch gefunden, herausgezogen und
ausgebreitet hatte, um nachzuwinken. Nun flatterte das stattliche Tuch
wie ein Fähnlein in den Lüften und sah mit seinem goldgelben Grund und
weiß und roten Muster so fröhlich und erquicklich aus, als sei dem Hause
Eiselein heute eitel Freude widerfahren. Während sein Knabe im Wagen
nicht ohne peinliche Gefühle der Unterhaltung des Herrn standhielt,
dessen Höflichkeit und Lächeln auf dem verlassenen Bahnhof liegen
geblieben schienen, wandelten die Eltern langsam und in Gedanken, aber
in Gedanken verschiedener Art, in die Stadt und in ihren
Spezereiwarenladen zurück.
»Du, der Pensionsherr gefällt mir nicht übel,« sagte sie.
»Ja, ja, er war ja sehr freundlich. Jawohl,« sagte er.
Sie schwieg. Im stillen baute sie aber ihre Hoffnungen durchaus nicht
auf die Freundlichkeit jenes Herrn, sondern auf das, was sie von Strenge
und schneidiger Art an ihm bemerkt zu haben glaubte. Und als auch sie
nun einen Seufzer ausstieß, dachte sie dabei vorwiegend an das sündliche
Geld, das ihr Bub nun kosten würde, denn die Pension war nicht billig.
Nach der Abreise des Knaben trat im Hause eine große Ruhe ein und
zugleich ein Stillstand in der begonnenen langsamen Verschiebung der
Machtverteilung. Seit der Indianergeschichte nämlich hatte sich des
öftern der Fall wiederholt, daß Frau Eiselein den Buben männlicher
anfaßte als ihr Gemahl und eine Lanze zur Rettung der elterlichen
Autorität einlegte. Dabei war von den bis dahin unbestrittenen
hausherrlichen Machtbefugnissen jedesmal ein Körnlein der Wagschale
ihres Mannes entglitten und auf die ihrige gefallen, so daß das Zünglein
unmerklich, aber sicher nach ihrer Seite hinüberstrebte.
Nach acht Tagen kam der erste Brief aus der Hauptstadt. Er enthielt
vornehmlich eine Aufzählung der schönsten Straßen und Denkmäler, eine
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