Nachbarn: Erzählungen - 01

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Nachbarn

Erzählungen
von
Hermann Hesse
Vierte Auflage

S. Fischer, Verlag, Berlin
1909

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Published, October 15, 1908. Privilege of copyright
in the United States reserved under the act approved
March 3, 1905 by S. Fischer, Verlag, Berlin.


Inhalt

Seite
Die Verlobung 9
Karl Eugen Eiselein 49
Garibaldi 109
Walter Kömpff 137
In der alten Sonne 227


Die Verlobung

In der Hirschengasse, die nur aus sieben Häusern besteht, gibt es einen
bescheidenen, doch anständigen Weißwarenladen, der gleich seiner
Nachbarschaft noch unberührt von den Veränderungen der neuen Zeit in
einer etwas kärglich gewordenen Wohlhabenheit dasteht und hinreichenden
Zuspruch hat. Man sagt dort noch beim Abschied zu jedem Kunden, auch
wenn er seit zwanzig Jahren regelmäßig kommt, die Worte: »Schenken Sie
mir die Ehre ein andermal wieder,« und es gehen dort noch zwei oder drei
alte Käuferinnen ab und zu, die ihren Bedarf an Band und Litzen in Ellen
verlangen und auch im Ellenmaß bedient werden. Die Bedienung wird von
einer ledig gebliebenen Tochter des Hauses und einer angestellten
Verkäuferin besorgt, der Besitzer selbst ist von früh bis spät im Laden
und stets geschäftig, doch redet er niemals ein Wort. Er kann nun gegen
siebzig alt sein, ist von sehr kleiner Statur, hat nette rosige Wangen
und einen kurz geschnittenen grauen Bart, auf dem vielleicht längst
kahlen Kopfe aber trägt er allezeit eine runde steife Mütze mit
stramingestickten Blumen und Mäandern. Er heißt Andreas Ohngelt und
gehört unbestritten zur echten, ehrwürdigen Altbürgerschaft der Stadt.
Dem schweigsamen Kaufmännlein sieht niemand etwas Besonderes an, es
sieht sich seit Jahrzehnten gleich und scheint ebensowenig älter zu
werden, als jemals jünger gewesen zu sein. Doch war auch Andreas Ohngelt
einmal ein Knabe und ein Jüngling, und wenn man alte Leute fragt, kann
man erfahren, daß er vorzeiten »der kleine Ohngelt« geheißen wurde und
eine gewisse Berühmtheit wider Willen genoß. Einmal, vor etwa
fünfunddreißig Jahren, hat er sogar eine »Geschichte« erlebt, die früher
jedem Gerbersauer geläufig war, wenn sie auch jetzt niemand mehr
erzählen und hören will. Das war die Geschichte seiner Verlobung.
Der kleine Ohngelt hatte seinen Übernamen von der geringen Höhe seines
Wuchses, doch hätte diese Eigenschaft nicht ganz hingereicht, ihn in den
Augen seiner Mitbürger zu einer interessanten und komischen Figur zu
machen. Diese Art von Beachtung verdankte er vielmehr seiner inwendigen
Natur, in welcher ein schüchtern sanftes Wesen sich mit einem ungemein
zärtlichen Gemüte hübsch und drollig verband.
Der junge Andreas war schon in der Schule aller Rede und Geselligkeit
abgeneigt, er fühlte sich überall überflüssig und von jedermann
beobachtet und war ängstlich und bescheiden genug, jedem andern im
voraus nachzugeben und das Feld zu räumen. Vor den Lehrern empfand er
einen abgründigen Respekt, vor den Kameraden eine mit Bewunderung
gemischte Furcht. Man sah ihn nie auf der Gasse und auf den
Spielplätzen, nur selten beim Bad im Fluß, und im Winter zuckte er
zusammen und duckte sich, sobald er einen Knaben eine Handvoll Schnee
aufheben sah. Dafür spielte er daheim vergnügt und zärtlich mit den
hinterbliebenen Puppen seiner älteren Schwester und mit einem Kaufladen,
auf dessen Wage er Mehl, Salz und Sand abwog und in kleine Gucken
verpackte, um sie später wieder gegeneinander zu vertauschen,
auszuleeren, umzupacken und wieder zu wägen. Auch half er seiner Mutter
gern bei leichter Hausarbeit, machte Einkäufe für sie oder suchte im
Gärtlein die Schnecken vom Salat.
Seine Schulkameraden plagten und hänselten ihn zwar häufig, aber da er
nie zornig wurde und fast nichts übelnahm, hatte er im ganzen doch ein
leichtes und ziemlich zufriedenes Leben. Was er an Freundschaft und
Gefühl bei seinesgleichen nicht fand und nicht weggeben durfte, das gab
er seinen Puppen. Den Vater hatte er früh verloren, er war ein Spätling
gewesen, und die Mutter hätte ihn wohl anders gewünscht, ließ ihn aber
gewähren und hatte für seine fügsame Anhänglichkeit eine etwas
mitleidige Liebe.
Dieser leidliche Zustand hielt jedoch nur so lange an, bis der kleine
Andreas aus der Schule und aus der Lehre war, die er am obern Markt im
Dierlamm'schen Geschäft abdiente. Um diese Zeit, etwa von seinem
siebzehnten Jahre an, fing sein nach Zärtlichkeiten dürstendes Gemüt
andere Wege zu gehen an. Der klein und schüchtern gebliebene Jüngling
begann mit immer größeren Augen nach den Mädchen zu schauen und
errichtete in seinem Herzen einen Altar der Frauenliebe, dessen Flamme
desto höher loderte, je trauriger seine Verliebtheiten verliefen.
Zum Kennenlernen und Beschauen von Mädchen jeden Alters war reichliche
Gelegenheit vorhanden, denn der junge Ohngelt war nach Ablauf seiner
Lehrzeit in den Weißwarenladen seiner Tante eingetreten, den er später
einmal übernehmen sollte. Da kamen Kinder, Schulmädchen, junge Fräulein
und alte Jungfern, Mägde und Frauen tagaus tagein, kramten in Bändern
und Linnen, wählten Besätze und Stickmuster aus, lobten und tadelten,
feilschten und wollten beraten sein, ohne doch auf Rat zu hören, kauften
und tauschten das Gekaufte wieder um. Alledem wohnte der Jüngling
höflich und schüchtern bei, er zog Schubladen heraus, stieg die
Bockleiter hinauf und herunter, legte vor und packte wieder ein,
notierte Bestellungen und gab über Preise Auskunft, und alle acht Tage
war er in eine andere von seinen Kundinnen verliebt. Errötend pries er
Litzen und Wolle an, zitternd quittierte er Rechnungen, mit Herzklopfen
hielt er die Ladentür und sagte den Spruch vom Wiederbeehren, wenn eine
schöne Junge hoffärtig das Geschäft verließ.
Um seinen Schönen recht gefällig und angenehm zu sein, gewöhnte Andreas
sich feine und sorgfältige Manieren an. Er frisierte sein hellblondes
Haar jeden Morgen auf das Nobelste, hielt seine Kleider und Leibwäsche
sehr sauber und sah dem allmählichen Erscheinen eines Schnurrbärtchens
mit leidenschaftlicher Ungeduld entgegen. Er lernte beim Empfange seiner
Kunden elegante Verneigungen machen, lernte beim Vorlegen der Zeuge sich
mit dem linken Handrücken auf den Ladentisch stützen und auf nur
anderthalb Beinen stehen, und brachte es zur Meisterschaft im Lächeln,
das er bald vom diskreten Schmunzeln bis zum innig glücklichen Strahlen
beherrschte. Außerdem war er stets auf der Jagd nach neuen schönen
Phrasen, die zumeist aus Umstandsworten bestanden und deren er immer
neue und köstlichere erlernte oder erfand. Da er von Hause aus im
Sprechen unbeholfen und ängstlich war und schon früher nur selten einen
vollkommenen Satz mit Subjekt und Prädikat ausgesprochen hatte, fand er
nun in diesem sonderbaren Wortschatz eine Hilfe und gewöhnte sich daran,
unter Verzicht auf Sinn und Verständlichkeit sich und andern eine Art
von Sprechvermögen vorzutäuschen.
Sagte jemand: »Heut ist aber ein Prachtswetter,« so antwortete der
kleine Ohngelt: »Gewiß -- o ja -- denn, mit Verlaub -- allerdings --.«
Fragte eine Käuferin, ob dieser Leinenstoff auch haltbar sei, so sagte
er: »O bitte, ja, ohne Zweifel, sozusagen, ganz gewiß.« Und erkundigte
sich jemand nach seinem Befinden, so erwiderte er: »Danke gehorsamst --
freilich wohl -- sehr angenehm --.« In besonders wichtigen
und ehrenvollen Lagen scheute er auch vor Ausdrücken wie
»nichtsdestoweniger, aber immerhin, keinesfalls hingegen« nicht zurück.
Dabei waren alle seine Glieder vom geneigten Kopf bis zur wippenden
Fußspitze ganz Aufmerksamkeit, Höflichkeit und Ausdruck. Am
ausdrucksvollsten aber sprach sein verhältnismäßig langer Hals, der
mager und sehnig und mit einem erstaunlich großen und beweglichen
Adamsapfel ausgestattet war. Wenn der kleine schmachtende Ladengehilfe
eine seiner Antworten im Staccato gab, hatte man neben dem Gefühl
unendlicher Hingabe vor allem den Eindruck, er bestehe zu einem Dritteil
aus Kehlkopf.
Die Natur verteilt ihre Gaben jedoch nicht ohne Sinn, und wenn der
bedeutende Hals des Ohngelt in einem Mißverhältnis zu dessen
Redefähigkeit stehen mochte, so war er als Eigentum und Wahrzeichen
eines leidenschaftlichen Sängers desto berechtigter. Andreas war in
hohem Grade ein Freund des Gesanges. Auch beim wohlgelungensten
Komplimente, bei der feinsten kaufmännischen Gebärde, beim gerührtesten
»Immerhin« und »Wennschon« war ihm vielleicht im Innersten der Seele
nicht so schmelzend wohl wie beim Singen. Dieses Talent war in den
Schulzeiten verborgen geblieben, kam aber nach vollendetem Stimmbruch zu
immer schönerer Entfaltung, wenn auch nur im Geheimen. Denn es hätte zu
der ängstlich scheuen Befangenheit Ohngelts nicht gepaßt, daß er seiner
heimlichen Lust und Kunst anders als in der sichersten Verborgenheit
froh geworden wäre.
Am Abend, wenn er zwischen Mahlzeit und Bettgehen ein Stündlein in
seiner Kammer verweilte, sang er im Dunkeln seine Lieder und schwelgte
in lyrischen Entzückungen. Seine Stimme war ein ziemlich hoher Tenor,
und was ihm an Schulung gebrach, suchte er durch Temperament zu
ersetzen. Sein Auge schwamm in feuchtem Schimmer, sein schön
gescheiteltes Haupt neigte sich rückwärts zum Nacken und sein Adamsapfel
stieg mit den Tönen auf und nieder. Sein Lieblingslied war »Wenn die
Schwalben heimwärts ziehn«. Bei der Strophe »Scheiden, ach Scheiden tut
weh« hielt er die Töne gar lang und zitternd aus und hatte manchmal
Tränen in den Augen.
In seiner geschäftlichen Laufbahn kam er mit schnellen Schritten
vorwärts. Es hatte der Plan bestanden, ihn noch einige Jahre nach einer
größeren Stadt, etwa Pforzheim oder Heilbronn zu schicken. Nun aber
machte er sich im Geschäft der Tante bald so unentbehrlich, daß diese
ihn nicht mehr fortlassen wollte, und da er später den Laden erblich
übernehmen sollte, war sein äußeres Wohlergehen für alle Zeiten
gesichert. Anders stand es mit der Sehnsucht seines Herzens. Er war für
alle Mädchen seines Alters, namentlich für die hübschen, trotz seiner
Blicke und Verbeugungen nichts als eine komische Figur. Der Reihe nach
war er in sie alle verliebt und er hätte jede genommen, die ihm nur
einen Schritt entgegen getan hätte. Aber den Schritt tat keine, obwohl
er nach und nach seine Sprache um die gebildetsten Phrasen und seine
Toilette um die angenehmsten Gegenstände bereicherte.
Eine Ausnahme gab es wohl, allein er bemerkte sie kaum. Das Fräulein
Paula Kircher, das Kircherspäule genannt, war immer nett gegen ihn und
schien ihn ernst zu nehmen. Sie war freilich weder jung noch hübsch,
vielmehr zwei Jahre älter als er und ziemlich unscheinbar, sonst aber
ein tüchtiges und geachtetes Mädchen aus einer anständigen und
wohlhabenden Handwerkerfamilie. Wenn Andreas sie auf der Straße grüßte,
dankte sie nett und ernsthaft, und wenn sie in den Laden kam, war sie
freundlich, einfach und bescheiden, machte ihm das Bedienen leicht und
nahm seine geschäftsmännischen Aufmerksamkeiten wie bare Münze hin.
Daher sah er sie nicht ungern und hatte Vertrauen zu ihr, im übrigen
aber war sie ihm recht gleichgültig und sie gehörte zu der geringen
Anzahl lediger Mädchen, für die er außerhalb seines Ladens keinen
Gedanken übrig hatte.
Bald setzte er seine Hoffnungen auf feine, neue Schuhe, bald auf ein
nettes Halstuch, ganz abgesehen vom Schnurrbart, der allmählich sproßte
und den er wie seinen Augapfel pflegte. Endlich kaufte er sich von einem
reisenden Handelsmanne auch noch einen Ring aus Gold mit einem großen
Opal daran und mußte es erleben, daß auch diese Verschönerung ohne
Einfluß auf die geringe Wertschätzung der Damenwelt für ihn blieb.
Damals war er sechsundzwanzig Jahre alt.
Als er aber dreißig wurde und noch immer den Hafen der Ehe nur in
sehnsüchtiger Ferne umsegelte, hielten Mutter und Tante es für
notwendig, fördernd einzugreifen. Die Tante, die schon recht hoch in den
Jahren war, machte den Anfang mit dem Angebot, sie wolle ihm noch zu
ihren Lebzeiten das Geschäft abtreten, jedoch nur am Tage seiner
Verheiratung mit einer unbescholtenen Gerbersauer Tochter. Dies war denn
auch für die Mutter das Signal zum Angriff. Nach manchen Überlegungen
kam sie zu dem Befinden, ihr Sohn müsse in einen Verein eintreten, um
mehr unter Leute zu kommen und den Umgang mit Frauen zu lernen. Und da
sie seine Liebe zur Sangeskunst wohl kannte, dachte sie ihn an dieser
Angel zu fangen und legte ihm nahe, sich beim Liederkranz als Mitglied
anzumelden.
Trotz seiner Scheu vor Geselligkeit war Andreas in der Hauptsache sofort
einverstanden. Doch schlug er statt des Liederkranzes den
Kirchengesangverein vor, weil ihm die ernstere Musik besser gefalle. Der
wahre Grund war aber der, daß dem Kirchengesangverein Margret Dierlamm
angehörte. Diese war die Tochter von Ohngelts früherem Lehrprinzipal,
ein sehr hübsches und fröhliches Mädchen von wenig mehr als zwanzig
Jahren, und in sie war Andreas seit neuestem verliebt, da es schon seit
geraumer Zeit keine ledigen Altersgenossinnen mehr für ihn gab,
wenigstens keine hübschen.
Die Mutter hatte gegen den Kirchengesangverein nichts Triftiges
einzuwenden. Zwar hatte dieser Verein nicht halb so viel gesellige
Abende und Festlichkeiten wie der Liederkranz, dafür war aber die
Mitgliedschaft hier viel wohlfeiler, und Mädchen aus guten Häusern, mit
denen Andreas bei Proben und Aufführungen zusammenkommen würde, gab es
auch hier genug. So ging sie denn ungesäumt mit dem Herrn Sohn zum
Vorstande, einem greisen Schullehrer, der sie freundlich empfing.
»So, Herr Ohngelt,« sagte er, »Sie wollen bei uns mitsingen?«
»Ja, gewiß, bitte --«
»Haben Sie denn schon früher gesungen?«
»O ja, das heißt, gewissermaßen --«
»Nun, machen wir eine Probe. Singen Sie irgend ein Lied, das Sie
auswendig können.«
Ohngelt wurde rot wie ein Knabe und wollte um alles nicht anfangen. Aber
der Lehrer bestand darauf und wurde schließlich fast böse, sodaß er am
Ende doch sein Bangen überwand und nach einem resignierten Blick auf die
ruhig dasitzende Mutter sein Leiblied anstimmte. Es riß ihn mit und er
sang den ersten Vers ohne Stocken.
Der Dirigent winkte, es sei genug. Er war wieder ganz höflich und sagte,
das sei allerdings sehr nett gesungen und man merke, daß es _con amore_
geschehe, allein vielleicht wäre er doch mehr für weltliche Musik
veranlagt, ob er es nicht etwa beim Liederkranz probieren wolle. Schon
wollte Herr Ohngelt eine verlegene Antwort stammeln, da legte seine
Mutter sich für ihn ins Zeug. Er singe wirklich schön, meinte sie, und
sei jetzt nur ein wenig verlegen gewesen, und es wäre ihr gar so lieb,
wenn er ihn aufnähme, der Liederkranz sei doch etwas ganz anderes und
nicht so fein, und sie gebe auch jedes Jahr für die Kinderbescherung,
und kurz, wenn der Herr Lehrer so gut sein wollte, wenigstens für eine
Probezeit, man werde ja alsdann schon sehen. Der alte Mann versuchte
noch zweimal begütigend davon zu reden, daß das Kirchensingen kein Spaß
sei, und daß es ohnehin schon so eng hergehe auf dem Orgelpodium, aber
die mütterliche Beredsamkeit siegte zuletzt doch. Es war dem bejahrten
Dirigenten noch nie vorgekommen, daß ein Mann von über dreißig Jahren
sich zum Mitsingen gemeldet und seine Mutter zum Beistand mitgebracht
hatte. So ungewohnt und eigentlich unbequem ihm dieser Zuwachs zu seinem
Chore war, machte ihm die Sache im stillen doch ein Vergnügen, wenn auch
nicht um der Musik willen. Er bestellte Andreas zur nächsten Probe und
ließ die beiden lächelnd ziehen.
Am Mittwoch Abend fand sich der kleine Ohngelt pünktlich in der
Schulstube ein, wo die Proben abgehalten wurden. Man übte einen Choral
für das Osterfest. Die allmählich ankommenden Sänger und Sängerinnen
begrüßten das neue Mitglied sehr freundlich und hatten alle ein so
aufgeräumtes und heiteres Wesen, daß Ohngelt sich selig fühlte. Auch
Margret Dierlamm war da und auch sie nickte dem Neuen mit freundlichem
Lächeln zu. Wohl hörte er manchmal hinter sich leise lachen, doch war er
ja gewöhnt, ein wenig komisch genommen zu werden, und ließ es sich nicht
anfechten. Was ihn hingegen befremdete, war das zurückhaltend ernste
Betragen des Kircherspäule, das ebenfalls anwesend war und, wie er bald
bemerkte, sogar zu den geschätzteren Sängerinnen gehörte. Sie hatte
sonst immer eine wohltuende Freundlichkeit gegen ihn gezeigt, und jetzt
war gerade sie merkwürdig kühl und schien beinahe Anstoß daran zu
nehmen, daß er hier eingedrungen war. Aber was ging ihn das
Kircherspäule an?
Beim Singen verhielt sich Ohngelt überaus vorsichtig. Wohl hatte er von
der Schule her noch eine leise Ahnung vom Notenwesen und manche Takte
sang er mit gedämpfter Stimme den andern nach, im ganzen aber fühlte er
sich seiner Kunst erbärmlich wenig sicher und hegte bange Zweifel daran,
ob das jemals anders werden würde. Der Dirigent, den seine Verlegenheit
lächerte und rührte, schonte ihn und sagte beim Abschied sogar: »Es wird
mit der Zeit schon gehen, wenn Sie sich dran halten.« Den ganzen Abend
aber hatte Andreas das Vergnügen, in Margrets Nähe sein und sie häufig
anschauen zu dürfen. Er dachte daran, daß bei dem öffentlichen Singen
vor und nach dem Gottesdienst auf der Orgel die Tenöre gerade hinter den
Mädchen aufgestellt waren und malte sich die Wonne aus, am Osterfest und
bei allen künftigen Anlässen so nahe bei Fräulein Dierlamm zu stehen und
sie ungescheut betrachten zu können. Da fiel ihm zu seinem Schmerze
wieder ein, wie klein und niedrig er gewachsen war und daß er zwischen
den andern Sängern stehend nichts würde sehen können. Mit großer Mühe
und vielem Stottern machte er einem der Mitsinger diese seine künftige
Notlage auf der Orgel klar, natürlich ohne den wahren Grund seines
Kummers zu nennen. Da beruhigte ihn der Kollege lachend und meinte, er
werde ihm schon zu einer ansehnlichen Aufstellung verhelfen können.
Nach dem Schluß der Probe lief alles davon, kaum daß man einander
grüßte. Einige Herren begleiteten Damen nach Hause, andere gingen
miteinander zu einem Glas Bier. Ohngelt blieb allein und kläglich auf
dem Platze vor dem finsteren Schulhause stehen, sah den andern und
namentlich der Margret beklommen nach und machte ein enttäuschtes
Gesicht, da kam das Kircherspäule an ihm vorbei und als er den Hut zog,
sagte sie: »Gehen Sie heim? Dann haben wir ja einen Weg und können
miteinander gehen.« Dankbar schloß er sich an und lief neben ihr her
durch die feuchten, märzkühlen Gassen heimwärts, ohne mehr Worte als den
Gutenachtgruß mit ihr zu tauschen.
Am nächsten Tag kam Margret Dierlamm in den Laden und er durfte sie
bedienen. Er faßte jeden Stoff an, als wäre er Seide, und bewegte den
Maßstab wie einen Fiedelbogen, er legte Gefühl und Anmut in jede kleine
Dienstleistung, und leise wagte er zu hoffen, sie würde ein Wort von
gestern und vom Verein und von der Probe sagen. Richtig tat sie das
auch. Gerade noch unter der Türe fragte sie: »Es war mir ganz neu, daß
Sie auch singen, Herr Ohngelt. Singen Sie denn schon lang?« Und während
er unter Herzklopfen hervorstieß: »Ja -- vielmehr nur so -- mit
Verlaub,« entschwand sie leicht nickend in die Gasse.
»Schau, schau!« dachte er bei sich und spann Zukunftsträume, ja er
verwechselte beim Einräumen zum ersten Male in seinem Leben die
halbwollenen Litzen mit den reinwollenen.
Indessen kam die Osterzeit immer näher, und da sowohl am Karfreitag wie
am Ostersonntag der Kirchenchor singen sollte, gab es mehrmals in der
Woche Proben. Ohngelt erschien stets pünktlich und gab sich alle Mühe,
nichts zu verderben, wurde auch von jedermann mit Wohlwollen behandelt.
Nur das Kircherspäule schien nicht recht mit ihm zufrieden zu sein und
das war ihm nicht lieb, denn sie war schließlich doch die einzige Dame,
zu der er ein volles Vertrauen hatte. Auch fügte es sich regelmäßig, daß
er an ihrer Seite nach Hause ging, denn der Margret seine Begleitung
anzutragen, war wohl stets sein stiller Wunsch und Entschluß, doch fand
er nie den Mut dazu. So ging er denn mit dem Päule. Die drei ersten Male
wurde auf diesem Heimgang kein Wort geredet. Das nächste Mal nahm die
Kircher ihn ins Gebet und fragte, warum er nur so wortkarg sei, ob er
sie denn fürchte.
»Nein,« stammelte er erschrocken, »das nicht -- vielmehr -- gewiß nicht
-- im Gegenteil.«
Sie lachte leise und fragte: »Und wie geht's denn mit dem Singen? Haben
Sie Freude dran?«
»Freilich ja -- sehr -- jawohl.«
Sie schüttelte den Kopf und sagte leiser: »Kann man denn mit Ihnen
wirklich nicht reden, Herr Ohngelt? Sie drücken sich auch um jede
Antwort herum.«
Er sah sie hilflos an und stotterte.
»Ich meine es doch gut,« fuhr sie fort. »Glauben Sie das nicht?«
Er nickte heftig.
»Also denn! Können Sie denn gar nichts reden als wieso und immerhin und
mit Verlaub und dergleichen Zeug?«
»Ja, schon, ich kann schon, obwohl -- allerdings.«
»Ja obwohl und allerdings. Sagen Sie, am Abend mit Ihrer Frau Mutter und
mit der Tante reden Sie doch auch deutsch, oder nicht? Dann tun Sie's
doch auch mit mir und mit andern Leuten. Man könnte dann doch ein
vernünftiges Gespräch führen. Wollen Sie nicht?«
»Doch ja, ich will schon -- gewiß --«
»Also gut, das ist gescheit von Ihnen. Jetzt kann ich doch mit Ihnen
reden. Ich hätte nämlich einiges zu sagen.«
Und nun sprach sie mit ihm, wie er es nicht gewöhnt war. Sie fragte, was
er denn im Kirchengesangverein suche, wenn er doch nicht singen könne
und wo fast nur Jüngere als er seien. Und ob er nicht merke, daß man
sich dort manchmal über ihn lustig mache und mehr von der Art. Aber je
mehr der Inhalt ihrer Rede ihn traurig machte, ja demütigte und
entrüstete, desto eindringlicher empfand er die gütige und wohlmeinende
Art ihres Zuredens. Etwas weinerlich schwankte er zwischen kühler
Ablehnung und gerührter Dankbarkeit. Da waren sie schon vor dem
Kircher'schen Hause. Paula gab ihm die Hand und sagte ernsthaft:
»Gute Nacht, Herr Ohngelt, und nichts für ungut. Nächstes Mal reden wir
weiter, gelt?«
Verwirrt ging er heim und so weh ihm war, wenn er an ihre Enthüllungen
dachte, so neu und tröstlich war es ihm, daß jemand so freundschaftlich
und ernst und wohlgesinnt mit ihm gesprochen hatte.
Auf dem Heimweg von der nächsten Probe gelang es ihm schon, in ziemlich
deutscher Sprache zu reden, etwa wie daheim mit der Mutter, und mit dem
Gelingen stieg sein Mut und sein Vertrauen. Am folgenden Abend war er
schon soweit, daß er ein Bekenntnis abzulegen versuchte, er war sogar
halb entschlossen, die Dierlamm mit Namen zu nennen, denn er versprach
sich Unmögliches von Päules Mitwisserschaft und Hilfe. Aber sie ließ ihn
nicht dazu kommen. Sie schnitt seine Geständnisse plötzlich ab und
sagte: »Sie wollen heiraten, nicht wahr? Das ist auch das Gescheiteste,
was Sie tun können. Das Alter haben Sie ja.«
»Das Alter, ja das schon,« sagte er traurig. Aber sie lachte nur und er
ging ungetröstet heim. Das nächste Mal kam er wieder auf diese
Angelegenheit zu sprechen. Das Päule entgegnete bloß, er müsse ja
wissen, wen er haben wolle; gewiß sei nur, daß die Rolle, die er im
Gesangverein spiele, ihm nicht förderlich sein könnte, denn junge
Mädchen nehmen schließlich bei einem Liebhaber alles in den Kauf, nur
nicht die Lächerlichkeit.
Die Bedenken und Seelenqualen, in welche ihn diese deutlichen Worte
versetzt hatten, wichen endlich der Aufregung und den Vorbereitungen zum
Karfreitag, an welchem Ohngelt zum ersten Mal im Chor auf der
Orgeltribüne sich zeigen sollte. Er kleidete sich an diesem Morgen mit
besonderer Sorgfalt an und kam mit gewichstem Zylinder frühzeitig in die
Kirche. Nachdem ihm sein Platz angewiesen worden war, wandte er sich
nochmals an jenen Kollegen, der ihm bei der Aufstellung behilflich zu
sein versprochen hatte. Wirklich schien dieser die Sache nicht vergessen
zu haben, er winkte dem Orgeltreter und dieser brachte schmunzelnd ein
kleines Kistlein, das wurde an Ohngelts Stehplatz hingesetzt und der
kleine Mann darauf gestellt, so daß er nun im Sehen und Gesehenwerden
dieselben Vorteile genoß wie die längsten Tenöre. Nur war das Stehen auf
diese Art mühevoll und gefährlich, er mußte sich genau im Gleichgewicht
halten und vergoß manchen Tropfen Schweiß bei dem Gedanken, er könnte
umfallen und mit gebrochenen Beinen unter die an der Brüstung postierten
Mädchen hinab stürzen, denn der Orgelvorbau neigte sich in schmalen,
stark abfallenden Terrassen niederwärts gegen das Kirchenschiff. Dafür
hatte er aber das Vergnügen, der schönen Margret Dierlamm aus
beklemmender Nähe in den Nacken schauen zu können, was ihn ebenfalls
nicht wenig mitnahm. Da der Gesang und der ganze Gottesdienst vorüber
war, fühlte er sich erschöpft und atmete tief auf, als die Türen
geöffnet und die Glocken gezogen wurden.
Tags darauf warf ihm das Kircherspäule vor, sein künstlich erhobener
Standpunkt sehe recht hochmütig aus und mache ihn lächerlich. Er
versprach, sich späterhin seines kurzen Leibes nicht mehr zu schämen,
doch wollte er morgen am Osterfeste noch ein letztes Mal das Kistlein
benutzen, schon um den Herrn, der es ihm angeboten, nicht zu beleidigen.
Sie wagte nicht zu sagen, ob er denn nicht sehe, daß jener die Kiste nur
hergebracht habe, um sich einen Spaß mit ihm zu machen. Kopfschüttelnd
ließ sie ihn gewähren und war über seine Dummheit so ärgerlich wie über
seine liebe Arglosigkeit gerührt.
Am Ostersonntage ging es im Kirchenchor noch um einen Grad feierlicher
zu als neulich. Es wurde eine schwierige Musik aufgeführt, und Ohngelt
balancierte tapfer und erfolgreich auf seinem Gerüste. Gegen den Schluß
des Chorals hin nahm er jedoch mit Entsetzen wahr, daß sein Standörtlein
unter seinen Sohlen zu wanken und unfest zu werden begann. Er konnte
nichts tun, als stillhalten und womöglich den Sturz über die Terrasse
vermeiden. Dieses gelang ihm auch und statt eines Skandals und Unglücks
ereignete sich nichts, als daß der Tenor Ohngelt unter leisem Krachen
sich langsam verkürzte und mit angsterfülltem Gesichte abwärts sinkend
aus der Sichtbarkeit verschwand. Der Dirigent, das Kirchenschiff, die
Emporen und der schöne Nacken der blonden Margret gingen nach einander
seinem Blick verloren, doch kam er heil zu Boden und in der Kirche hatte
außer den grinsenden Sangesbrüdern nur ein Teil der nahesitzenden
männlichen Schuljugend den Vorgang wahrgenommen. Über die Stätte seiner
Erniedrigung hinweg jubilierte und frohlockte der kunstreiche
Osterchoral, während der Versunkene reuig an die guten Ermahnungen der
Jungfer Kircher dachte.
Als unterm Kehraus des Organisten das Volk die Kirche verließ, blieb der
Verein auf seiner Tribüne noch auf ein paar Worte beinander, denn morgen
am Ostermontag sollte wie jedes Jahr ein festlicher Vereinsausflug
unternommen werden. Auf diesen Ausflug hatte Andreas Ohngelt von Anfang
an große Erwartungen gestellt. Er fand jetzt sogar den Mut, Fräulein
Dierlamm zu fragen, ob sie auch mitzukommen gedenke, und die Frage kam
ohne viel Anstoß über seine Lippen.
»Ja, gewiß gehe ich mit,« sagte das schöne Mädchen mit Ruhe, und dann
fügte sie hinzu: »Übrigens, haben Sie sich vorher nicht weh getan?«
Dabei stieß sie das verhaltene Lachen so, daß sie auf keine Antwort mehr
wartete und davonlief. In demselben Augenblick schaute das Päule
herüber, mit einem merkwürdig mitleidigen und ernsthaften Blick, der
Ohngelts trostlose Verwirrung noch steigerte. Sein flüchtig
aufgeloderter Mut war nicht minder eilig wieder umgeschlagen, und wenn
er von dem Ausflug nicht schon mit seiner Mama geredet und diese nicht
schon zum Mitgehen aufgefordert gehabt hätte, so wäre er jetzt am
liebsten vom Ausflug, vom Verein und von allen seinen Hoffnungen still
zurückgetreten.
Der Ostermontag war so blau und sonnig wie gemalt und um zwei Uhr kamen
fast alle Mitglieder des Gesangvereins mit mancherlei Gästen und
Verwandten oberhalb der Stadt in der Lärchenallee zusammen. Ohngelt
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