Miss Sara Sampson - 4

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Sara (sie setzet sich zum Schreiben nieder). Wenn man mir es vor Jahr
und Tag gesagt hätte, daß ich auf einen solchen Brief würde antworten
müssen! Und unter solchen Umständen!--Ja, die Feder hab ich in der
Hand.--Weiß ich aber auch schon, was ich schreiben soll? Was ich
denke; was ich empfinde.--Und was denkt man denn, wenn sich in einem
Augenblicke tausend Gedanken durchkreuzen? Und was empfindet man denn,
wenn das Herz vor lauter Empfinden in einer tiefen Betäubung liegt?--
Ich muß doch schreiben--Ich führe ja die Feder nicht das erstemal.
Nachdem sie mir schon so manche kleine Dienste der Höflichkeit und
Freundschaft abstatten helfen, sollte mir ihre Hilfe wohl bei dem
wichtigsten Dienste entstehen?--(Sie denkt ein wenig nach und schreibt
darauf einige Zeilen.) Das soll der Anfang sein? Ein sehr frostiger
Anfang. Und werde ich denn bei seiner Liebe anfangen wollen? Ich muß
bei meinem Verbrechen anfangen. (Sie streicht aus und schreibt anders.)
Daß ich mich ja nicht zu obenhin davon ausdrücke!--Das Schämen kann
überall an seiner rechten Stelle sein, nur bei dem Bekenntnisse
unserer Fehler nicht. Ich darf mich nicht fürchten, in Übertreibungen
zu geraten, wenn ich auch schon die gräßlichsten Züge anwende.--Ach!
warum muß ich nun gestört werden?

Fünfter Auftritt
Marwood. Mellefont. Sara.

Mellefont. Liebste Miß, ich habe die Ehre, Ihnen Lady Solmes
vorzustellen, welche eine von denen Personen in meiner Familie ist,
welchen ich mich am meisten verpflichtet erkenne.
Marwood. Ich muß um Vergebung bitten, Miß, daß ich so frei bin, mich
mit meinen eignen Augen von dem Glücke eines Vetters zu überführen,
dem ich das vollkommenste Frauenzimmer wünschen würde, wenn mich nicht
gleich der erste Anblick überzeugt hätte, daß er es in Ihnen bereits
gefunden habe.
Sara. Sie erzeigen mir allzuviel Ehre, Lady. Eine Schmeichelei wie
diese würde mich zu allen Zeiten beschämt haben; itzt aber sollte ich
sie fast für einen versteckten Vorwurf annehmen, wenn ich Lady Solmes
nicht für viel zu großmütig hielte, ihre Überlegenheit an Tugend und
Klugheit eine Unglückliche fühlen zu lassen.
Marwood (kalt). Ich würde untröstlich sein, Miß, wenn Sie mir andre
als die freundschaftlichsten Gesinnungen zutrauten.--(Beiseite.) Sie
ist schön!
Mellefont. Und wäre es denn auch möglich, Lady, gegen soviel
Schönheit, gegen soviel Bescheidenheit gleichgültig zu bleiben? Man
sagt zwar, daß einem reizenden Frauenzimmer selten von einem andern
Gerechtigkeit erwiesen werde: allein dieses ist auf der einen Seite
nur von denen, die auf ihre Vorzüge allzu eitel sind, und auf der
andern nur von solchen zu verstehen, welche sich selbst keiner Vorzüge
bewußt sind. Wie weit sind Sie beide von diesem Falle entfernt!--(Zur
Marwood, welche in Gedanken steht.) Ist es nicht wahr, Lady, daß
meine Liebe nichts weniger als parteiisch gewesen ist? Ist es nicht
wahr, daß ich Ihnen zum Lobe meiner Miß viel, aber noch lange nicht so
viel gesagt habe, als Sie selbst finden?--Aber warum so in Gedanken?--
(Sachte zu ihr.) Sie vergessen, wer Sie sein wollen.
Marwood. Darf ich es sagen?--Die Bewunderung Ihrer liebsten Miß
führte mich auf die Betrachtung ihres Schicksals. Es ging mir nahe,
daß sie die Früchte ihrer Liebe nicht in ihrem Vaterlande genießen
soll. Ich erinnerte mich, daß sie einen Vater und, wie man mir gesagt
hat, einen sehr zärtlichen Vater verlassen müßte, um die Ihrige sein
zu können; und ich konnte mich nicht enthalten, ihre Aussöhnung mit
ihm zu wünschen.
Sara. Ach! Lady, wie sehr bin ich Ihnen für diesen Wunsch verbunden.
Er verdient es, daß ich meine ganze Freude mit Ihnen teile. Sie
können es noch nicht wissen, Mellefont, daß er erfüllt wurde, ehe Lady
die Liebe für uns hatte, ihn zu tun.
Mellefont. Wie verstehen Sie dieses, Miß?
Marwood (beiseite). Was will das sagen?
Sara. Eben itzt habe ich einen Brief von meinem Vater erhalten.
Waitwell brachte mir ihn. Ach, Mellefont, welch ein Brief!
Mellefont. Geschwind reißen Sie mich aus meiner Ungewißheit. Was hab
ich zu fürchten? Was habe ich zu hoffen? Ist er noch der Vater, den
wir flohen? Und wenn er es noch ist, wird Sara die Tochter sein, die
mich zärtlich genug liebt, um ihn noch weiter zu fliehen? Ach! hätte
ich Ihnen gefolgt, liebste Miß, so wären wir jetzt durch ein Band
verknüpft, das man aus eigensinnigen Absichten zu trennen wohl
unterlassen müßte. In diesem Augenblick empfinde ich alles das
Unglück, das unser entdeckter Aufenthalt für mich nach sich ziehen
kann. Er wird kommen und Sie aus meinen Armen reißen. Wie hasse ich
den Nichtswürdigen, der uns ihm verraten hat! (Mit einem zornigen
Blick gegen die Marwood.)
Sara. Liebster Mellefont, wie schmeichelhaft ist diese Ihre Unruhe
für mich! Und wie glücklich sind wir beide, daß sie vergebens ist!
Lesen Sie hier seinen Brief.--(Gegen die Marwood, indem Mellefont den
Brief für sich lieset.) Lady, er wird über die Liebe meines Vaters
erstaunen. Meines Vaters? Ach! er ist nun auch der seinige.
Marwood (betroffen). Ist es möglich?
Sara. Jawohl, Lady, haben Sie Ursache, diese Veränderung zu bewundern.
Er vergibt uns alles; wir werden uns nun vor seinen Augen lieben; er
erlaubt es uns; er befiehlt es uns.--Wie hat diese Gütigkeit meine
ganze Seele durchdrungen!--Nun, Mellefont? (Der ihr den Brief
wiedergibt.) Sie schweigen? O nein, diese Träne, die sich aus Ihrem
Auge schleicht, sagt weit mehr, als Ihr Mund ausdrücken könnte.
Marwood (beiseite). Wie sehr habe ich mir selbst geschadet! Ich
Unvorsichtige!
Sara. Oh! lassen Sie mich diese Träne von Ihrer Wange küssen!
Mellefont. Ach Miß, warum haben wir so einen göttlichen Mann betrüben
müssen? Jawohl, einen göttlichen Mann: denn was ist göttlicher als
vergeben?--Hätten wir uns diesen glücklichen Ausgang nur als möglich
vorstellen können: gewiß, so wollten wir ihn jetzt so gewaltsamen
Mitteln nicht zu verdanken haben; wir wollten ihn allein unsern Bitten
zu verdanken haben. Welche Glückseligkeit wartet auf mich! Wie
schmerzlich wird mir aber auch die eigne Überzeugung sein, daß ich
dieser Glückseligkeit so unwert bin!
Marwood (beiseite). Und das muß ich mit anhören!
Sara. Wie vollkommen rechtfertigen Sie durch solche Gesinnungen meine
Liebe gegen Sie.
Marwood (beiseite). Was für Zwang muß ich mir antun!
Sara. Auch Sie, vortreffliche Lady, müssen den Brief meines Vaters
lesen. Sie scheinen allzuviel Anteil an unserm Schicksale zu nehmen,
als daß Ihnen sein Inhalt gleichgültig sein könnte.
Marwood. Mir gleichgültig, Miß? (Sie nimmt den Brief.)
Sara. Aber, Lady, Sie scheinen noch immer sehr nachdenkend, sehr
traurig.--
Marwood. Nachdenkend, Miß, aber nicht traurig.
Mellefont (beiseite). Himmel! wo sie sich verrät!
Sara. Und warum denn?
Marwood. Ich zittere für Sie beide. Könnte die unvermutete Güte
Ihres Vaters nicht eine Verstellung sein? eine List?
Sara. Gewiß nicht, Lady, gewiß nicht. Lesen Sie nur, und Sie werden
es selbst gestehen. Die Verstellung bleibt immer kalt, und eine so
zärtliche Sprache ist in ihrem Vermögen nicht. (Marwood lieset für
sich.) Werden Sie nicht argwöhnisch, Mellefont; ich bitte Sie. Ich
stehe Ihnen dafür, daß mein Vater sich zu keiner List herablassen kann.
Er sagt nichts, was er nicht denkt, und Falschheit ist ihm ein
unbekanntes Laster.
Mellefont. Oh! davon bin ich vollkommen überzeugt, liebste Miß.--Man
muß der Lady den Verdacht vergeben, weil sie den Mann noch nicht kennt,
den er trifft.
Sara (indem ihr Marwood den Brief zurückgibt). Was seh ich, Lady?
Sie haben sich entfärbt? Sie zittern? Was fehlt Ihnen?
Mellefont (beiseite). In welcher Angst bin ich! Warum habe ich sie
auch hergebracht?
Marwood. Es ist nichts, Miß, als ein kleiner Schwindel, welcher
vorübergehn wird. Die Nachtluft muß mir auf der Reise nicht bekommen
sein.
Mellefont. Sie erschrecken mich, Lady--ist es Ihnen nicht gefällig,
frische Luft zu schöpfen? Man erholt sich in einem verschloßnen
Zimmer nicht so leicht.
Marwood. Wenn Sie meinen, so reichen Sie mir Ihren Arm.
Sara. Ich werde Sie begleiten, Lady.
Marwood. Ich verbitte diese Höflichkeit, Miß. Meine Schwachheit wird
ohne Folgen sein.
Sara. So hoffe ich denn, Lady bald wiederzusehen.
Marwood. Wenn Sie erlauben, Miß--
(Mellefont führt sie ab.)
Sara (allein). Die arme Lady!--Sie scheinet die freundschaftlichste
Person zwar nicht zu sein; aber mürrisch und stolz scheinet sie doch
auch nicht.--Ich bin wieder allein. Kann ich die wenigen Augenblicke,
die ich es vielleicht sein werde, zu etwas Besserm als zur Vollendung
meiner Antwort anwenden? (Sie will sich niedersetzen, zu schreiben.)

Sechster Auftritt
Betty. Sara.

Betty. Das war ja wohl ein sehr kurzer Besuch.
Sara. Ja, Betty. Es ist Lady Solmes; eine Anverwandte meines
Mellefont. Es wandelte ihr gähling eine kleine Schwachheit an. Wo
ist sie jetzt?
Betty. Mellefont hat sie bis an die Türe begleitet.
Sara. So ist sie ja wohl wieder fort?
Betty. Ich vermute es.--Aber je mehr ich Sie ansehe, Miß--Sie müssen
mir meine Freiheit verzeihen--, je mehr finde ich Sie verändert. Es
ist etwas Ruhiges, etwas Zufriednes in Ihren Blicken. Lady muß ein
sehr angenehmer Besuch oder der alte Mann ein sehr angenehmer Bote
gewesen sein.
Sara. Das letzte, Betty, das letzte. Er kam von meinem Vater. Was
für einen zärtlichen Brief will ich dich lesen lassen! Dein gutes
Herz hat so oft mit mir geweint, nun soll es sich auch mit mir freuen.
Ich werde wieder glücklich sein und dich für deine guten Dienste
belohnen können.
Betty. Was habe ich Ihnen in kurzen neun Wochen für Dienste leisten
können?
Sara. Du hättest mir ihrer in meinem ganzen andern Leben nicht
mehrere leisten können als in diesen neun Wochen. Sie sind vorüber!--
Komm nur itzt, Betty; weil Mellefont vielleicht wieder allein ist, so
muß ich ihn noch sprechen. Ich bekomme eben den Einfall, daß es sehr
gut sein würde, wenn er zugleich mit mir an meinen Vater schriebe, dem
seine Danksagung schwerlich unerwartet sein dürfte. Komm!
(Sie gehen ab.)

Siebenter Auftritt
Der Saal.

Sir William Sampson. Waitwell.
Sir William. Was für Balsam, Waitwell, hast du mir durch deine
Erzählung in mein verwundetes Herz gegossen! Ich lebe wieder neu auf;
und ihre herannahende Rückkehr scheint mich ebensoweit zu meiner
Jugend wieder zurückzubringen, als mich ihre Flucht näher zu dem Grabe
gebracht hatte. Sie liebt mich noch! Was will ich mehr?--Geh ja bald
wieder zu ihr, Waitwell. Ich kann den Augenblick nicht erwarten, da
ich sie aufs neue in diese Arme schließen soll, die ich so sehnlich
gegen den Tod ausgestreckt hatte. Wie erwünscht wäre er mir in den
Augenblicken meines Kummers gewesen! Und wie fürchterlich wird er mir
in meinem neuen Glücke sein! Ein Alter ist ohne Zweifel zu tadeln,
wenn er die Bande, die ihn noch mit der Welt verbinden, so fest wieder
zuziehet. Die endliche Trennung wird desto schmerzlicher.--Doch der
Gott, der sich jetzt so gnädig gegen mich erzeigt, wird mir auch diese
überstehen helfen. Sollte er mir wohl eine Wohltat erweisen, um sie
mir zuletzt zu meinem Verderben gereichen zu lassen? Sollte er mir
eine Tochter wiedergeben, damit ich über seine Abfoderung aus diesem
Leben murren müsse? Nein, nein; er schenkt mir sie wieder, um in der
letzten Stunde nur um mich selbst besorgt sein zu dürfen. Dank sei
dir, ewige Güte! Wie schwach ist der Dank eines sterblichen Mundes!
Doch bald, bald werde ich in einer ihm geweihten Ewigkeit ihm würdiger
danken können.
Waitwell. Wie herzlich vergnügt es mich, Sir, Sie vor meinem Ende
wieder zufrieden zu wissen! Glauben Sie mir es nur, ich habe fast so
viel bei Ihrem Jammer ausgestanden als Sie selbst. Fast so viel; gar
so viel nicht: denn der Schmerz eines Vaters mag wohl bei solchen
Gelegenheiten unaussprechlich sein.
Sir William. Betrachte dich von nun an, mein guter Waitwell, nicht
mehr als meinen Diener. Du hast es schon längst um mich verdient, ein
anständiger Alter zu genießen. Ich will dir es auch schaffen, und du
sollst es nicht schlechter haben, als ich es noch in der Welt haben
werde. Ich will allen Unterschied zwischen uns aufheben; in jener
Welt, weißt du wohl, ist er ohnedies aufgehoben.--Nur dasmal sei noch
der alte Diener, auf den ich mich nie umsonst verlassen habe. Geh und
gib acht, daß du mir ihre Antwort sogleich bringen kannst, als sie
fertig ist.
Waitwell. Ich gehe, Sir. Aber so ein Gang ist kein Dienst, den ich
Ihnen tue. Er ist eine Belohnung, die Sie mir für meine Dienste
gönnen. Ja gewiß, das ist er.
(Sie gehen auf verschiedenen Seiten ab.)
(Ende des dritten Aufzuges.)


Vierter Aufzug

Erster Auftritt
Mellefonts Zimmer.

Mellefont. Sara.
Mellefont. Ja, liebste Miß, ja; das will ich tun; das muß ich tun.
Sara. Wie vergnügt machen Sie mich!
Mellefont. Ich bin es allein, der das ganze Verbrechen auf sich
nehmen muß. Ich allein bin schuldig; ich allein muß um Vergebung
bitten.
Sara. Nein, Mellefont, nehmen Sie mir den größern Anteil, den ich an
unserm Vergehen habe, nicht. Er ist mir teuer, so strafbar er auch
ist: denn er muß Sie überzeugt haben, daß ich meinen Mellefont über
alles in der Welt liebe.--Aber ist es denn gewiß wahr, daß ich nunmehr
diese Liebe mit der Liebe gegen meinen Vater verbinden darf? Oder
befinde ich mich in einem angenehmen Traume? Wie fürchte ich mich,
ihn zu verlieren und in meinem alten Jammer zu erwachen!--Doch nein,
ich bin nicht bloß in einem Traume, ich bin wirklich glücklicher, als
ich jemals zu werden hoffen durfte; glücklicher, als es vielleicht
dieses kurze Leben zuläßt. Vielleicht erscheint mir dieser Strahl von
Glückseligkeit nur darum von ferne und scheinet mir nur darum so
schmeichelhaft näher zu kommen, damit er auf einmal wieder in die
dickste Finsternis zerfließe und mich auf einmal in einer Nacht lasse,
deren Schrecklichkeit mir durch diese kurze Erleuchtung erst recht
fühlbar geworden.--Was für Ahnungen quälen mich!--Sind es wirklich
Ahnungen, Mellefont, oder sind es gewöhnliche Empfindungen, die von
der Erwartung eines unverdienten Glücks und von der Furcht, es zu
verlieren, unzertrennlich sind?--Wie schlägt mir das Herz, und wie
unordentlich schlägt es! Wie stark itzt, wie geschwind!--Und nun, wie
matt, wie bange, wie zitternd!--Itzt eilt es wieder, als ob es die
letzten Schläge wären, die es gern recht schnell hintereinander tun
wolle. Armes Herz!
Mellefont. Die Wallungen des Geblüts, welche plötzliche
Überraschungen nicht anders als verursachen können, werden sich legen,
Miß, und das Herz wird seine Verrichtungen ruhiger fortsetzen. Keiner
seiner Schläge zielet auf das Zukünftige; und wir sind zu tadeln--
verzeihen Sie, liebste Sara--, wenn wir des Bluts mechanische
Drückungen zu fürchterlichen Propheten machen.--Deswegen aber will ich
nichts unterlassen, was Sie selbst zur Besänftigung dieses kleinen
innerlichen Sturms für dienlich halten. Ich will sogleich schreiben,
und Sir William, hoffe ich, soll mit den Beteurungen meiner Reue, mit
den Ausdrücken meines gerührten Herzens und mit den Angelobungen des
zärtlichsten Gehorsams zufrieden sein.
Sara. Sir William? Ach Mellefont, fangen Sie doch nun an, sich an
einen weit zärtlichern Namen zu gewöhnen. Mein Vater, Ihr Vater,
Mellefont--
Mellefont. Nun ja, Miß, unser gütiger, unser bester Vater!--Ich mußte
sehr jung aufhören, diesen süßen Namen zu nennen; sehr jung mußte ich
den ebenso süßen Namen "Mutter" verlernen--
Sara. Sie haben ihn verlernt, und mir--mir ward es so gut nicht, ihn
nur einmal sprechen zu können. Mein Leben war ihr Tod.--Gott! ich
ward eine Muttermörderin wider mein Verschulden. Und wie viel fehlte--
wie wenig, wie nichts fehlte--, so wäre ich auch eine Vatermörderin
geworden! Aber nicht ohne mein Verschulden; eine vorsätzliche
Vatermörderin!--Und wer weiß, ob ich es nicht schon bin? Die Jahre,
die Tage, die Augenblicke, die er geschwinder zu seinem Ziele kömmt,
als er ohne die Betrübnis, die ich ihm verursacht, gekommen wäre--
diese hab ich ihm--ich habe sie ihm geraubt. Wenn ihn sein Schicksal
auch noch so alt und lebenssatt sterben läßt, so wird mein Gewissen
doch nichts gegen den Vorwurf sichern können, daß er ohne mich
vielleicht noch später gestorben wäre. Trauriger Vorwurf, den ich mir
ohne Zweifel nicht machen dürfte, wenn eine zärtliche Mutter die
Führerin meiner Jugend gewesen wäre! Ihre Lehren, ihr Exempel würden
mein Herz--So zärtlich blicken Sie mich an, Mellefont? Sie haben
recht; eine Mutter würde mich vielleicht mit lauter Liebe tyrannisiert
haben, und ich würde Mellefonts nicht sein. Warum wünsche ich mir
denn also das, was mir das weisere Schicksal nur aus Güte versagte?
Seine Fügungen sind immer die besten. Lassen Sie uns nur das recht
brauchen, was es uns schenkt: einen Vater, der mich noch nie nach
einer Mutter seufzen lassen; einen Vater, der auch Sie ungenossene
Eltern will vergessen lehren. Welche schmeichelhafte Vorstellung!
Ich verliebe mich selbst darein und vergesse es fast, daß in dem
Innersten sich noch etwas regt, das ihm keinen Glauben beimessen will.-
-Was ist es, dieses rebellische Etwas?
Mellefont. Dieses Etwas, liebste Sara, wie Sie schon selbst gesagt
haben, ist die natürliche furchtsame Schwierigkeit, sich in ein großes
Glück zu finden.--Ach, Ihr Herz machte weniger Bedenken, sich
unglücklich zu glauben, als es jetzt zu seiner eignen Pein macht, sich
für glücklich zu halten!--Aber wie dem, der in einer schnellen
Kreisbewegung drehend geworden, auch da noch, wenn er schon wieder
still sitzt, die äußern Gegenstände mit ihm herumzugehen scheinen, so
wird auch das Herz, das zu heftig erschüttert worden, nicht auf einmal
wieder ruhig. Es bleibt eine zitternde Bebung oft noch lange zurück,
die wir ihrer eignen Abschwächung überlassen müssen.
Sara. Ich glaube es, Mellefont, ich glaube es: weil Sie es sagen;
weil ich es wünsche.--Aber lassen Sie uns einer den andern nicht
länger aufhalten. Ich will gehen und meinen Brief vollenden. Ich
darf doch auch den Ihrigen lesen, wenn ich Ihnen den meinigen werde
gezeigt haben?
Mellefont. Jedes Wort soll Ihrer Beurteilung unterworfen sein; nur
das nicht, was ich zu Ihrer Rettung sagen muß: denn ich weiß es, Sie
halten sich nicht für so unschuldig, als Sie sind. (Indem er die Sara
bis an die Szene begleitet.)

Zweiter Auftritt

Mellefont (nachdem er einigemal tiefsinnig auf und nieder gegangen).
Was für ein Rätsel bin ich mir selbst! Wofür soll ich mich halten?
Für einen Toren? oder für einen Bösewicht?--oder für beides?--Herz,
was für ein Schalk bist du!--Ich liebe den Engel, so ein Teufel ich
auch sein mag.--Ich lieb ihn? Ja, gewiß, gewiß, ich lieb ihn. Ich
weiß, ich wollte tausend Leben für sie aufopfern, für sie, die mir
ihre Tugend aufgeopfert hat! Ich wollt' es; jetzt gleich ohne Anstand
wollt' ich es--Und doch, doch--Ich erschrecke, mir es selbst zu sagen--
Und doch--Wie soll ich es begreifen?--Und doch fürchte ich mich vor
dem Augenblicke, der sie auf ewig vor dem Angesichte der Welt zu der
Meinigen machen wird.--Er ist nun nicht zu vermeiden; denn der Vater
ist versöhnt. Auch weit hinaus werde ich ihn nicht schieben können.
Die Verzögerung desselben hat mir schon schmerzhafte Vorwürfe genug
zugezogen. So schmerzhaft sie aber waren, so waren sie mir doch
erträglicher als der melancholische Gedanke, auf zeitlebens gefesselt
zu sein.--Aber bin ich es denn nicht schon?--Ich bin es freilich, und
bin es mit Vergnügen.--Freilich bin ich schon ihr Gefangener.--Was
will ich also?--Das!--Itzt bin ich ein Gefangener, den man auf sein
Wort frei herumgehen läßt: das schmeichelt! Warum kann es dabei nicht
sein Bewenden haben? Warum muß ich eingeschmiedet werden und auch
sogar den elenden Schatten der Freiheit entbehren?--Eingeschmiedet?
Nichts anders!--Sara Sampson, meine Geliebte! Wieviel Seligkeiten
liegen in diesen Worten! Sara Sampson, meine Ehegattin!--Die Hälfte
dieser Seligkeiten ist verschwunden! und die andre Hälfte--wird
verschwinden.--Ich Ungeheuer!--Und bei diesen Gesinnungen soll ich an
ihren Vater schreiben?--Doch es sind keine Gesinnungen; es sind
Einbildungen! Vermaledeite Einbildungen, die mir durch ein zügelloses
Leben so natürlich geworden! Ich will ihrer los werden, oder--nicht
leben.

Dritter Auftritt
Norton. Mellefont.

Mellefont. Du störest mich, Norton!
Norton. Verzeihen Sie also, mein Herr--(Indem er wieder zurückgehen
will.)
Mellefont. Nein, nein, bleib da. Es ist ebensogut, daß du mich
störest. Was willst du?
Norton. Ich habe von Betty eine sehr freudige Neuigkeit gehört, und
ich komme, Ihnen dazu Glück zu wünschen.
Mellefont. Zur Versöhnung des Vaters doch wohl? Ich danke dir.
Norton. Der Himmel will Sie also noch glücklich machen.
Mellefont. Wenn er es will--du siehst, Norton, ich lasse mir
Gerechtigkeit widerfahren--, so will er es meinetwegen gewiß nicht.
Norton. Nein, wenn Sie dieses erkennen, so will er es auch Ihretwegen.

Mellefont. Meiner Sara wegen, einzig und allein meiner Sara wegen.
Wollte seine schon gerüstete Rache eine ganze sündige Stadt, weniger
Gerechten wegen, verschonen, so kann er ja wohl auch einen Verbrecher
dulden, wenn eine ihm gefällige Seele an dem Schicksale desselben
Anteil nimmt.
Norton. Sie sprechen sehr ernsthaft und rührend. Aber drückt sich
die Freude nicht etwas anders aus?
Mellefont. Die Freude, Norton? Sie ist nun für mich dahin.
Norton. Darf ich frei reden? (Indem er ihn scharf ansieht.)
Mellefont. Du darfst.
Norton. Der Vorwurf, den ich an dem heutigen Morgen von Ihnen hören
mußte, daß ich mich Ihrer Verbrechen teilhaftig gemacht, weil ich dazu
geschwiegen, mag mich bei Ihnen entschuldigen, wenn ich von nun an
seltner schweige.
Mellefont. Nur vergiß nicht, wer du bist.
Norton. Ich will es nicht vergessen, daß ich ein Bedienter bin: ein
Bedienter, der auch etwas Bessers sein könnte, wenn er, leider!
darnach gelebt hätte. Ich bin Ihr Bedienter, ja; aber nicht auf dem
Fuße, daß ich mich gern mit Ihnen möchte verdammen lassen.
Mellefont. Mit mir? Und warum sagst du das itzt?
Norton. Weil ich nicht wenig erstaune, Sie anders zu finden, als ich
mir vorstellte.
Mellefont. Willst du mich nicht wissen lassen, was du dir
vorstelltest?
Norton. Sie in lauter Entzückung zu finden.
Mellefont. Nur der Pöbel wird gleich außer sich gebracht, wenn ihn
das Glück einmal anlächelt.
Norton. Vielleicht, weil der Pöbel noch sein Gefühl hat, das bei
Vornehmern durch tausend unnatürliche Vorstellungen verderbt und
geschwächt wird. Allein in Ihrem Gesichte ist noch etwas anders als
Mäßigung zu lesen. Kaltsinn, Unentschlossenheit, Widerwille--
Mellefont. Und wenn auch? Hast du es vergessen, wer noch außer der
Sara hier ist? Die Gegenwart der Marwood--
Norton. Könnte Sie wohl besorgt, aber nicht niedergeschlagen machen.--
Sie beunruhiget etwas anders. Und ich will mich gern geirret haben,
wenn Sie es nicht lieber gesehen hätten, der Vater wäre noch nicht
versöhnt. Die Aussicht in einen Stand, der sich so wenig zu Ihrer
Denkungsart schickt--
Mellefont. Norton! Norton! du mußt ein erschrecklicher Bösewicht
entweder gewesen sein oder noch sein, daß du mich so erraten kannst.
Weil du es getroffen hast, so will ich es nicht leugnen. Es ist wahr;
so gewiß es ist, daß ich meine Sara ewig lieben werde, so wenig will
es mir ein, daß ich sie ewig lieben soll--soll!--Aber besorge nichts;
ich will über diese närrische Grille siegen. Oder meinst du nicht,
daß es eine Grille ist? Wer heißt mich die Ehe als einen Zwang
ansehen? Ich wünsche es mir ja nicht, freier zu sein, als sie mich
lassen wird.
Norton. Diese Betrachtungen sind sehr gut. Aber Marwood, Marwood
wird Ihren alten Vorurteilen zu Hilfe kommen, und ich fürchte, ich
fürchte--
Mellefont. Was nie geschehen wird. Du sollst sie noch heute nach
London zurückreisen sehen. Da ich dir meine geheimste--Narrheit will
ich es nur unterdessen nennen--gestanden habe, so darf ich dir auch
nicht verbergen, daß ich die Marwood in solche Furcht gejagt habe, daß
sie sich durchaus nach meinem geringsten Winke bequemen muß.
Norton. Sie sagen mir etwas Unglaubliches.
Mellefont. Sieh, dieses Mördereisen riß ich ihr aus der Hand (er
zeigt ihm den Dolch, den er der Marwood genommen), als sie mir in der
schrecklichsten Wut das Herz damit durchstoßen wollte. Glaubst du es
nun bald, daß ich ihr festen Obstand gehalten habe? Anfangs zwar
fehlte es nicht viel, sie hätte mir ihre Schlinge wieder um den Hals
geworfen. Die Verräterin hat Arabellen bei sich.
Norton. Arabellen?
Mellefont. Ich habe es noch nicht untersuchen können, durch welche
List sie das Kind wieder in ihre Hände bekommen. Genug, der Erfolg
fiel für sie nicht so aus, als sie es ohne Zweifel gehofft hatte.
Norton. Erlauben Sie, daß ich mich über Ihre Standhaftigkeit freuen
und Ihre Besserung schon für halb geborgen halten darf. Allein--da
Sie mich doch alles wollen wissen lassen--was hat sie unter dem Namen
der Lady Solmes hier gesollt?
Mellefont. Sie wollte ihre Nebenbuhlerin mit aller Gewalt sehen. Ich
willigte in ihr Verlangen, teils aus Nachsicht, teils aus Übereilung,
teils aus Begierde, sie durch den Anblick der Besten ihres Geschlechts
zu demütigen.--Du schüttelst den Kopf, Norton?--
Norton. Das hätte ich nicht gewagt.
Mellefont. Gewagt? Eigentlich wagte ich nichts mehr dabei, als ich
im Falle der Weigerung gewagt hätte. Sie würde als Marwood
vorzukommen gesucht haben; und das Schlimmste, was bei ihrem
unbekannten Besuche zu besorgen steht, ist nichts Schlimmers.
Norton. Danken Sie dem Himmel, daß es so ruhig abgelaufen.
Mellefont. Es ist noch nicht ganz vorbei, Norton. Es stieß ihr eine
kleine Unpäßlichkeit zu, daß sie sich, ohne Abschied zu nehmen,
wegbegeben mußte. Sie will wiederkommen.--Mag sie doch! Die Wespe,
die den Stachel verloren hat (indem er auf den Dolch weiset, den er
wieder in den Busen steckt), kann doch weiter nichts als summen. Aber
auch das Summen soll ihr teuer werden, wenn sie zu überlästig damit
wird.--Hör ich nicht jemand kommen? Verlaß mich, wenn sie es ist.--
Sie ist es. Geh!
(Norton geht ab.)

Vierter Auftritt
Mellefont. Marwood.

Marwood. Sie sehen mich ohne Zweifel sehr ungern wiederkommen.
Mellefont. Ich sehe es sehr gern, Marwood, daß Ihre Unpäßlichkeit
ohne Folgen gewesen ist. Sie befinden sich doch besser?
Marwood. So, so!
Mellefont. Sie haben also nicht wohl getan, sich wieder hieher zu
bemühen.
Marwood. Ich danke Ihnen, Mellefont, wenn Sie dieses aus Vorsorge für
mich sagen. Und ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie etwas anders
damit meinen.
Mellefont. Es ist mir angenehm, Sie so ruhig zu sehen.
Marwood. Der Sturm ist vorüber. Vergessen Sie ihn, bitte ich
nochmals.
Mellefont. Vergessen Sie nur Ihr Versprechen nicht, Marwood, und ich
will gern alles vergessen.--Aber, wenn ich wüßte, daß Sie es für keine
Beleidigung annehmen wollten, so möchte ich wohl fragen--
Marwood. Fragen Sie nur, Mellefont. Sie können mich nicht mehr
beleidigen.--Was wollten Sie fragen?
Mellefont. Wie ihnen meine Miß gefallen habe.
Marwood. Die Frage ist natürlich. Meine Antwort wird so natürlich
nicht scheinen, aber sie ist gleichwohl nichts weniger wahr.--Sie hat
mir sehr wohl gefallen.
Mellefont. Diese Unparteilichkeit entzückt mich. Aber wär' es auch
möglich, daß der, welcher die Reize einer Marwood zu schätzen wußte,
eine schlechte Wahl treffen könnte?
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