Miss Sara Sampson - 3

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also nur, mich um mein väterliches Erbteil gebracht zu haben, und
lassen mich ein weit geringeres mit einer würdigern Gattin genießen.
Marwood. Ha! nun seh ich's, was dich eigentlich so trotzig macht.
Wohl, ich will kein Wort mehr verlieren. Es sei darum! Rechne darauf,
daß ich alles anwenden will, dich zu vergessen. Und das erste, was
ich in dieser Absicht tun werde, soll dieses sein--Du wirst mich
verstehen! Zittre für deine Bella! Ihr Leben soll das Andenken
meiner verachteten Liebe auf die Nachwelt nicht bringen; meine
Grausamkeit soll es tun. Sieh in mir eine neue Medea!
Mellefont (erschrocken). Marwood--
Marwood. Oder wenn du noch eine grausamere Mutter weißt, so sieh sie
gedoppelt in mir! Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift
und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein
Kind zu bald töten. Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will
ich es sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte
jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren
und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied,
Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen und das Kleinste derselben auch
da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon
nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas. Ich--ich werde
wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei!
Mellefont. Sie rasen, Marwood--
Marwood. Du erinnerst mich, daß ich nicht gegen den Rechten rase.
Der Vater muß voran! Er muß schon in jener Welt sein, wenn der Geist
seiner Tochter unter tausend Seufzern ihm nachzieht.--(Sie geht mit
einem Dolche, den sie aus dem Busen reißt, auf ihn los.) Drum stirb,
Verräter!
Mellefont (der ihr in den Arm fällt und den Dolch entreißt).
Unsinniges Weibsbild!--Was hindert mich nun, den Stahl wider dich zu
kehren? Doch lebe, und deine Strafe müsse einer ehrlosen Hand
aufgehoben sein!
Marwood (mit gerungenen Händen). Himmel, was habe ich getan?
Mellefont--
Mellefont. Deine Reue soll mich nicht hintergehen! Ich weiß es doch
wohl, was dich reuet; nicht daß du den Stoß tun wollen, sondern daß du
ihn nicht tun können.
Marwood. Geben Sie mir ihn wieder, den verirrten Stahl! geben Sie
mir ihn wieder! und Sie sollen es gleich sehen, für wen er
geschliffen ward. Für diese Brust allein, die schon längst einem
Herzen zu enge ist, das eher dem Leben als Ihrer Liebe entsagen will.
Mellefont. Hannah!--
Marwood. Was wollen Sie tun, Mellefont?

Achter Auftritt
Hannah (erschrocken). Marwood. Mellefont.

Mellefont. Hast du es gehört, Hannah, welche Furie deine Gebieterin
ist? Wisse, daß ich Arabellen von deinen Händen fodern werde.
Hannah. Ach Madam, wie sind Sie außer sich!
Mellefont. Ich will das unschuldige Kind bald in völlige Sicherheit
bringen. Die Gerechtigkeit wird einer so grausamen Mutter die
mördrischen Hände schon zu binden wissen. (Er will gehen.)
Marwood. Wohin, Mellefont? Ist es zu verwundern, daß die Heftigkeit
meines Schmerzes mich des Verstandes nicht mächtig ließ? Wer bringt
mich zu so unnatürlichen Ausschweifungen? Sind Sie es nicht selbst?
Wo kann Bella sicherer sein als bei mir? Mein Mund tobet wider sie,
und mein Herz bleibt doch immer das Herz einer Mutter. Ach, Mellefont!
vergessen Sie meine Raserei und denken zu ihrer Entschuldigung nur
an die Ursache derselben.
Mellefont. Es ist nur ein Mittel, welches mich bewegen kann, sie zu
vergessen.
Marwood. Welches?
Mellefont. Wenn Sie den Augenblick nach London zurückkehren.
Arabellen will ich in einer andern Begleitung wieder dahin bringen
lassen. Sie müssen durchaus ferner mit ihr nichts zu tun haben.
Marwood. Gut, ich lasse mir alles gefallen; aber eine einzige Bitte
gewähren Sie mir noch. Lassen Sie mich Ihre Sara wenigstens einmal
sehen.
Mellefont. Und wozu?
Marwood. Um in ihren Blicken mein ganzes künftiges Schicksal zu lesen.
Ich will selbst urteilen, ob sie einer Untreue, wie Sie an mir
begehen, würdig ist; und ob ich Hoffnung haben kann, wenigstens einmal
einen Anteil an Ihrer Liebe wiederzubekommen.
Mellefont. Nichtige Hoffnung!
Marwood. Wer ist so grausam, daß er einer Elenden auch nicht einmal
die Hoffnung gönnen wollte? Ich will mich ihr nicht als Marwood,
sondern als eine Anverwandte von Ihnen zeigen. Melden Sie mich bei
ihr als eine solche; Sie sollen bei meinem Besuche zugegen sein, und
ich verspreche Ihnen bei allem, was heilig ist, ihr nicht das
geringste Anstößige zu sagen. Schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab;
denn sonst möchte ich vielleicht alles anwenden, in meiner wahren
Gestalt vor ihr zu erscheinen.
Mellefont. Diese Bitte, Marwood (nachdem er einen Augenblick
nachgedacht)--könnte ich Ihnen gewähren. Wollen Sie aber auch alsdann
gewiß diesen Ort verlassen?
Marwood. Gewiß; ja, ich verspreche Ihnen noch mehr; ich will Sie, wo
nur noch einige Möglichkeit ist, von dem Überfalle ihres Vaters
befreien.
Mellefont. Dieses haben Sie nicht nötig. Ich hoffe, daß er auch mich
in die Verzeihung mit einschließen wird, die er seiner Tochter
widerfahren läßt. Will er aber dieser nicht verzeihen, so werde ich
auch wissen, wie ich ihm begegnen soll.--Ich gehe, Sie bei meiner Miß
zu melden. Nur halten Sie Wort, Marwood! (Geht ab.)
Marwood. Ach, Hannah! daß unsere Kräfte nicht so groß sind als
unsere Wut! Komm, hilf mich ankleiden. Ich gebe mein Vorhaben nicht
auf. Wenn ich ihn nur erst sicher gemacht habe. Komm!
(Ende des zweiten Aufzugs.)


Dritter Aufzug

Erster Auftritt
Ein Saal im erstern Gasthofe.

Sir William Sampson. Waitwell.
Sir William. Hier, Waitwell, bringt ihr diesen Brief. Es ist der
Brief eines zärtlichen Vaters, der sich über nichts als über ihre
Abwesenheit beklaget. Sag ihr, daß ich dich damit vorweggeschickt und
daß ich nur noch ihre Antwort erwarten wolle, ehe ich selbst käme, sie
wieder in meine Arme zu schließen.
Waitwell. Ich glaube, Sie tun recht wohl, daß Sie Ihre Zusammenkunft
auf diese Art vorbereiten.
Sir William. Ich werde ihrer Gesinnungen dadurch gewiß und mache ihr
Gelegenheit, alles, was ihr die Reue Klägliches und Errötendes
eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit
mir spricht. Es wird ihr in einem Briefe weniger Verwirrung und mir
vielleicht weniger Tränen kosten.
Waitwell. Darf ich aber fragen, Sir, was Sie in Ansehung Mellefonts
beschlossen haben?
Sir William. Ach! Waitwell, wenn ich ihn von dem Geliebten meiner
Tochter trennen könnte, so würde ich etwas sehr Hartes wider ihn
beschließen. Aber da dieses nicht angeht, so siehst du wohl, daß er
gegen meinen Unwillen gesichert ist. Ich habe selbst den größten
Fehler bei diesem Unglücke begangen. Ohne mich würde Sara diesen
gefährlichen Mann nicht haben kennenlernen. Ich verstattete ihm wegen
einer Verbindlichkeit, die ich gegen ihn zu haben glaubte, einen allzu
freien Zutritt in meinem Hause. Es war natürlich, daß ihm die
dankbare Aufmerksamkeit, die ich für ihn bezeigte, auch die Achtung
meiner Tochter zuziehen mußte. Und es war ebenso natürlich, daß sich
ein Mensch von seiner Denkungsart durch diese Achtung verleiten ließ,
sie zu etwas Höherm zu treiben. Er hatte Geschicklichkeit genug
gehabt, sie in Liebe zu verwandeln, ehe ich noch das Geringste merkte
und ehe ich noch Zeit hatte, mich nach seiner übrigen Lebensart zu
erkundigen. Das Unglück war geschehen, und ich hätte wohlgetan, wenn
ich ihnen nur gleich alles vergeben hätte. Ich wollte unerbittlich
gegen ihn sein und überlegte nicht, daß ich es gegen ihn nicht allein
sein könnte. Wenn ich meine zu späte Strenge erspart hätte, so würde
ich wenigstens ihre Flucht verhindert haben.--Da bin ich nun, Waitwell!
Ich muß sie selbst zurückholen und mich noch glücklich schätzen,
wenn ich aus dem Verführer nur meinen Sohn machen kann. Denn wer weiß,
ob er seine Marwoods und seine übrigen Kreaturen eines Mädchens wegen
wird aufgeben wollen, das seinen Begierden nichts mehr zu verlangen
übriggelassen hat und die fesselnden Künste einer Buhlerin so wenig
versteht?
Waitwell. Nun, Sir, das ist wohl nicht möglich, daß ein Mensch so gar
böse sein könnte.--
Sir William. Der Zweifel, guter Waitwell, macht deiner Tugend Ehre.
Aber warum ist es gleichwohl wahr, daß sich die Grenzen der
menschlichen Bosheit noch viel weiter erstrecken?--Geh nur jetzt und
tue, was ich dir gesagt habe. Gib auf alle ihre Mienen acht, wenn sie
meinen Brief lesen wird. In der kurzen Entfernung von der Tugend kann
sie die Verstellung noch nicht gelernt haben, zu deren Larven nur das
eingewurzelte Laster seine Zuflucht nimmt. Du wirst ihre ganze Seele
in ihrem Gesichte lesen. Laß dir ja keinen Zug entgehen, der etwa
eine Gleichgültigkeit gegen mich, eine Verschmähung ihres Vaters,
anzeigen könnte. Denn wenn du diese unglückliche Entdeckung machen
solltest und wenn sie mich nicht mehr liebt: so hoffe ich, daß ich
mich endlich werde überwinden können, sie ihrem Schicksale zu
überlassen. Ich hoffe es, Waitwell--Ach! wenn nur hier kein Herz
schlüge, das dieser Hoffnung widerspricht.
(Sie gehen beide auf verschiedenen Seiten ab.)

Zweiter Auftritt
Das Zimmer der Sara.

Miß Sara. Mellefont.
Mellefont. Ich habe unrecht getan, liebste Miß, daß ich Sie wegen des
vorigen Briefes in einer kleinen Unruhe ließ.
Sara. Nein doch, Mellefont; ich bin deswegen ganz und gar nicht
unruhig gewesen. Könnten Sie mich denn nicht lieben, wenn Sie gleich
noch Geheimnisse vor mir hätten?
Mellefont. Sie glauben also doch, daß es ein Geheimnis gewesen sei?
Sara. Aber keines, das mich angeht. Und das muß mir genug sein.
Mellefont. Sie sind allzu gefällig. Doch erlauben Sie mir, daß ich
Ihnen dieses Geheimnis gleichwohl entdecke. Es waren einige Zeilen
von einer Anverwandten, die meinen hiesigen Aufenthalt erfahren hat.
Sie geht auf ihrer Reise nach London hier durch und will mich sprechen.
Sie hat zugleich um die Ehre ersucht, Ihnen ihre Aufwartung machen
zu dürfen.
Sara. Es wird mir allezeit angenehm sein, Mellefont, die würdigen
Personen Ihrer Familie kennenzulernen. Aber überlegen Sie es selbst,
ob ich schon, ohne zu erröten, einer derselben unter die Augen sehen
darf.
Mellefont. Ohne zu erröten? Und worüber? Darüber, daß Sie mich
lieben? Es ist wahr, Miß, Sie hätten Ihre Liebe einem Edlern, einem
Reichern schenken können. Sie müssen sich schämen, daß Sie Ihr Herz
nur um ein Herz haben geben wollen und daß Sie bei diesem Tausche Ihr
Glück so weit aus den Augen gesetzt.
Sara. Sie werden es selbst wissen, wie falsch Sie meine Worte
erklären.
Mellefont. Erlauben Sie, Miß; wenn ich sie falsch erkläre, so können
sie gar keine Bedeutung haben.
Sara. Wie heißt Ihre Anverwandte?
Mellefont. Es ist--Lady Solmes. Sie werden den Namen von mir schon
gehört haben.
Sara. Ich kann mich nicht erinnern.
Mellefont. Darf ich bitten, daß Sie ihren Besuch annehmen wollen?
Sara. Bitten, Mellefont? Sie können mir es ja befehlen.
Mellefont. Was für ein Wort!--Nein, Miß, sie soll das Glück nicht
haben, Sie zu sehen. Sie wird es bedauern; aber sie muß es sich
gefallen lassen. Miß Sara hat ihre Ursachen, die ich, auch ohne sie
zu wissen, verehre.
Sara. Mein Gott! wie schnell sind Sie, Mellefont! Ich werde die
Lady erwarten und mich der Ehre ihres Besuchs, soviel möglich, würdig
zu erzeigen suchen. Sind Sie zufrieden?
Mellefont. Ach, Miß, lassen Sie mich meinen Ehrgeiz gestehen. Ich
möchte gern gegen die ganze Welt mit Ihnen prahlen. Und wenn ich auf
den Besitz einer solchen Person nicht eitel wäre, so würde ich mir
selbst vorwerfen, daß ich den Wert derselben nicht zu schätzen wüßte.
Ich gehe und bringe die Lady sogleich zu Ihnen. (Gehet ab.)
Sara (allein). Wenn es nur keine von den stolzen Weibern ist, die,
voll von ihrer Tugend, über alle Schwachheiten erhaben zu sein glauben.
Sie machen uns mit einem einzigen verächtlichen Blicke den Prozeß,
und ein zweideutiges Achselzucken ist das ganze Mitleiden, das wir
ihnen zu verdienen scheinen.

Dritter Auftritt
Waitwell. Sara.

Betty (zwischen der Szene). Nur hier herein, wenn Er selbst mit ihr
sprechen muß.
Sara (die sich umsieht). Wer muß selbst mit mir sprechen?--Wen seh
ich? Ist es möglich? Waitwell, dich?
Waitwell. Was für ein glücklicher Mann bin ich, daß ich endlich
unsere Miß Sara wiedersehe!
Sara. Gott! was bringst du? Ich hör es schon, ich hör es schon, du
bringst mir die Nachricht von dem Tode meines Vaters! Er ist hin, der
vortrefflichste Mann, der beste Vater! Er ist hin, und ich, ich bin
die Elende, die seinen Tod beschleuniget hat.
Waitwell. Ach! Miß--
Sara. Sage mir, geschwind sage mir, daß die letzten Augenblicke
seines Lebens ihm durch mein Andenken nicht schwerer wurden; daß er
mich vergessen hatte; daß er ebenso ruhig starb, als er sich sonst in
meinen Armen zu sterben versprach; daß er sich meiner auch nicht
einmal in seinem letzten Gebete erinnerte--
Waitwell. Hören Sie doch auf, sich mit so falschen Vorstellungen zu
plagen! Er lebt ja noch, Ihr Vater; er lebt ja noch, der
rechtschaffne Sir William.
Sara. Lebt er noch? Ist es wahr, lebt er noch? Oh! daß er noch
lange leben und glücklich leben möge! Oh! daß ihm Gott die Hälfte
meiner Jahre zulegen wolle! Die Hälfte?--Ich Undankbare, wenn ich ihm
nicht mit allen, soviel mir deren bestimmt sind, auch nur einige
Augenblicke zu erkaufen bereit bin! Aber nun sage mir wenigstens,
Waitwell, daß es ihm nicht hart fällt, ohne mich zu leben; daß es ihm
leicht geworden ist, eine Tochter aufzugeben, die ihre Tugend so
leicht aufgeben können; daß ihn meine Flucht erzürnet, aber nicht
gekränkt hat; daß er mich verwünschet, aber nicht bedauert.
Waitwell. Ach, Sir William ist noch immer der zärtliche Vater, so wie
sein Sarchen noch immer die zärtliche Tochter ist, die sie beide
gewesen sind.
Sara. Was sagst du? Du bist ein Bote des Unglücks, des
schrecklichsten Unglücks unter allen, die mir meine feindselige
Einbildung jemals vorgestellet hat! Er ist noch der zärtliche Vater?
So liebt er mich ja noch? So muß er mich ja beklagen? Nein, nein,
das tut er nicht; das kann er nicht tun! Siehst du denn nicht, wie
unendlich jeder Seufzer, den er um mich verlöre, meine Verbrechen
vergrößern würde? Müßte mir nicht die Gerechtigkeit des Himmels jede
seiner Tränen, die ich ihm auspreßte, so anrechnen, als ob ich bei
jeder derselben mein Laster und meinen Undank wiederholte? Ich
erstarre über diesen Gedanken. Tränen koste ich ihm? Tränen? Und es
sind andre Tränen als Tränen der Freude?--Widersprich mir doch,
Waitwell! Aufs höchste hat er einige leichte Regungen des Bluts für
mich gefühlet; einige von den geschwind überhin gehenden Regungen,
welche die kleinste Anstrengung der Vernunft besänftiget. Zu Tränen
hat er es nicht kommen lassen. Nicht wahr, Waitwell, zu Tränen hat er
es nicht kommen lassen?
Waitwell (indem er sich die Augen wischt). Nein, Miß, dazu hat er es
nicht kommen lassen.
Sara. Ach! dein Mund sagt nein; und deine eignen Tränen sagen ja.
Waitwell. Nehmen Sie diesen Brief, Miß; er ist von ihm selbst.
Sara. Von wem? von meinem Vater? an mich?
Waitwell. Ja, nehmen Sie ihn nur; Sie werden mehr daraus sehen können,
als ich zu sagen vermag. Er hätte einem andern als mir dieses
Geschäft auftragen sollen. Ich versprach mir Freude davon; aber Sie
verwandeln mir diese Freude in Betrübnis.
Sara. Gib nur, ehrlicher Waitwell!--Doch nein, ich will ihn nicht
eher nehmen, als bis du mir sagst, was ungefähr darin enthalten ist.
Waitwell. Was kann darin enthalten sein? Liebe und Vergebung.
Sara. Liebe? Vergebung?
Waitwell. Und vielleicht ein aufrichtiges Bedauern, daß er die Rechte
der väterlichen Gewalt gegen ein Kind brauchen wollen, für welches nur
die Vorrechte der väterlichen Huld sind.
Sara. So behalte nur deinen grausamen Brief!
Waitwell. Grausamen? fürchten Sie nichts; Sie erhalten völlige
Freiheit über Ihr Herz und Ihre Hand.
Sara. Und das ist es eben, was ich fürchte. Einen Vater, wie ihn, zu
betrüben: dazu habe ich noch den Mut gehabt. Allein ihn durch eben
diese Betrübnis, ihn durch seine Liebe, der ich entsagt, dahin
gebracht zu sehen, daß er sich alles gefallen läßt, wozu mich eine
unglückliche Leidenschaft verleitet: das, Waitwell, das würde ich
nicht ausstehen. Wenn sein Brief alles enthielte, was ein
aufgebrachter Vater in solchem Falle Heftiges und Hartes vorbringen
kann, so würde ich ihn zwar mit Schaudern lesen, aber ich würde ihn
doch lesen können. Ich würde gegen seinen Zorn noch einen Schatten
von Verteidigung aufzubringen wissen, um ihn durch diese Verteidigung,
wo möglich, noch zorniger zu machen. Meine Beruhigung wäre alsdann
diese, daß bei einem gewaltsamen Zorne kein wehmütiger Gram Raum haben
könne und daß sich jener endlich glücklich in eine bittere Verachtung
gegen mich verwandeln werde. Wen man aber verachtet, um den bekümmert
man sich nicht mehr. Mein Vater wäre wieder ruhig, und ich dürfte mir
nicht vorwerfen, ihn auf immer unglücklich gemacht zu haben.
Waitwell. Ach! Miß, Sie werden sich diesen Vorwurf noch weniger
machen dürfen, wenn Sie jetzt seine Liebe wieder ergreifen, die ja
alles vergessen will.
Sara. Du irrst dich, Waitwell. Sein sehnliches Verlangen nach mir
verführt ihn vielleicht, zu allem ja zu sagen. Kaum aber würde dieses
Verlangen ein wenig beruhiget sein, so würde er sich seiner Schwäche
wegen vor sich selbst schämen. Ein finsterer Unwille würde sich
seiner bemeistern, und er würde mich nie ansehen können, ohne mich
heimlich anzuklagen, wieviel ich ihm abzutrotzen mich unterstanden
habe. Ja, wenn es in meinem Vermögen stünde, ihm bei der äußersten
Gewalt, die er sich meinetwegen antut, das Bitterste zu ersparen; wenn
in dem Augenblicke, da er mir alles erlauben wollte, ich ihm alles
aufopfern könnte: so wäre es ganz etwas anders. Ich wollte den Brief
mit Vergnügen von deinen Händen nehmen, die Stärke der väterlichen
Liebe darin bewundern und, ohne sie zu mißbrauchen, mich als eine
reuende und gehorsame Tochter zu seinen Füßen werfen. Aber kann ich
das? Ich würde es tun müssen, was er mir erlaubte, ohne mich daran zu
kehren, wie teuer ihm diese Erlaubnis zu stehen komme. Und wenn ich
dann am vergnügtesten darüber sein wollte, würde es mir plötzlich
einfallen, daß er mein Vergnügen äußerlich nur zu teilen scheine und
in sich selbst vielleicht seufze; kurz, daß er mich mit Entsagung
seiner eignen Glückseligkeit glücklich gemacht habe--Und es auf diese
Art zu sein wünschen, trauest du mir das wohl zu, Waitwell?
Waitwell. Gewiß, ich weiß nicht, was ich hierauf antworten soll.
Sara. Es ist nichts darauf zu antworten. Bringe deinen Brief also
nur wieder zurück. Wenn mein Vater durch mich unglücklich sein muß,
so will ich selbst auch unglücklich bleiben. Ganz allein ohne ihn
unglücklich zu sein, das ist es, was ich jetzt stündlich von dem
Himmel bitte; glücklich aber ohne ihn ganz allein zu sein, davon will
ich durchaus nichts wissen.
Waitwell (etwas beiseite). Ich glaube wahrhaftig, ich werde das gute
Kind hintergehen müssen, damit es den Brief doch nur lieset.
Sara. Was sprichst du da für dich?
Waitwell. Ich sage mir selbst, daß ich einen sehr ungeschickten
Einfall gehabt hätte, Sie, Miß, zur Lesung des Briefes desto
geschwinder zu vermögen.
Sara. Wieso?
Waitwell. Ich konnte so weit nicht denken. Sie überlegen freilich
alles genauer, als es unsereiner kann. Ich wollte Sie nicht
erschrecken; der Brief ist vielleicht nur allzu hart; und wenn ich
gesagt habe, daß nichts als Liebe und Vergebung darin enthalten sei,
so hätte ich sagen sollen, daß ich nichts als dieses darin enthalten
zu sein wünschte.
Sara. Ist das wahr?--Nun, so gib mir ihn her. Ich will ihn lesen.
Wenn man den Zorn eines Vaters unglücklicherweise verdient hat, so muß
man wenigstens gegen diesen väterlichen Zorn so viel Achtung haben,
daß er ihn nach allen Gefallen gegen uns auslassen kann. Ihn zu
vereiteln suchen, heißt Beleidigungen mit Geringschätzung häufen. Ich
werde ihn nach aller seiner Stärke empfinden. Du siehst, ich zittre
schon--Aber ich soll auch zittern; und ich will lieber zittern als
weinen.--(Sie erbricht den Brief.) Nun ist er erbrochen! Ich bebe--
Aber was seh ich? (Sie lieset.) "Einzige, geliebteste Tochter!"--Ha!
du alter Betrüger, ist das die Anrede eines zornigen Vaters? Geh,
weiter werde ich nicht lesen--
Waitwell. Ach, Miß, verzeihen Sie doch einem alten Knechte. Ja gewiß,
ich glaube, es ist in meinem Leben das erstemal, daß ich mit Vorsatz
betrogen habe. Wer einmal betrügt, Miß, und aus einer so guten
Absicht betrügt, der ist ja deswegen noch kein alter Betrüger. Das
geht mir nahe, Miß. Ich weiß wohl, die gute Absicht entschuldigt
nicht immer; aber was konnte ich denn tun? Einem so guten Vater
seinen Brief ungelesen wiederzubringen? Das kann ich nimmermehr.
Eher will ich gehen, soweit mich meine alten Beine tragen, und ihm nie
wieder vor die Augen kommen.
Sara. Wie? auch du willst ihn verlassen?
Waitwell. Werde ich denn nicht müssen, wenn Sie den Brief nicht
lesen? Lesen Sie ihn doch immer. Lassen Sie doch immer den ersten
vorsätzlichen Betrug, den ich mir vorzuwerfen habe, nicht ohne gute
Wirkung bleiben. Sie werden ihn desto eher vergessen, und ich werde
mir ihn desto eher vergeben können. Ich bin ein gemeiner, einfältiger
Mann, der Ihnen Ihre Ursachen, warum Sie den Brief nicht lesen können
oder wollen, freilich so muß gelten lassen. Ob sie wahr sind, weiß
ich nicht; aber so recht natürlich scheinen sie mir wenigstens nicht.
Ich dächte nun so, Miß: ein Vater, dächte ich, ist doch immer ein
Vater; und ein Kind kann wohl einmal fehlen, es bleibt deswegen doch
ein gutes Kind. Wenn der Vater den Fehler verzeiht, so kann ja das
Kind sich wohl wieder so aufführen, daß er auch gar nicht mehr daran
denken darf. Und wer erinnert sich denn gern an etwas, wovon er
lieber wünscht, es wäre gar nicht geschehen? Es ist, Miß, als ob Sie
nur immer an Ihren Fehler dächten und glaubten, es wäre genug, wenn
Sie den in Ihrer Einbildung vergrößerten und sich selbst mit solchen
vergrößerten Vorstellungen marterten. Aber ich sollte meinen, Sie
müßten auch daran denken, wie Sie das, was geschehen ist,
wiedergutmachten. Und wie wollen Sie es denn wiedergutmachen, wenn
Sie sich selbst alle Gelegenheit dazu benehmen? Kann es Ihnen denn
sauer werden, den andern Schritt zu tun, wenn so ein lieber Vater
schon den ersten getan hat?
Sara. Was für Schwerter gehen aus deinem einfältigen Munde in mein
Herz!--Eben das kann ich nicht aushalten, daß er den ersten Schritt
tun muß. Und was willst du denn? Tut er denn nur den ersten Schritt?
Er muß sie alle tun: ich kann ihm keinen entgegentun. So weit ich
mich von ihm entfernet, so weit muß er sich zu mir herablassen. Wenn
er mir vergibt, so muß er mein ganzes Verbrechen vergeben und sich
noch dazu gefallen lassen, die Folgen desselben vor seinen Augen
fortdauern zu sehen. Ist das von einem Vater zu verlangen?
Waitwell. Ich weiß nicht, Miß, ob ich dieses so recht verstehe. Aber
mich deucht, Sie wollen sagen, er müsse Ihnen gar zu viel vergeben,
und weil ihm das nicht anders als sehr sauer werden könne, so machten
Sie sich ein Gewissen, seine Vergebung anzunehmen. Wenn Sie das
meinen, so sagen Sie mir doch, ist denn nicht das Vergeben für ein
gutes Herz ein Vergnügen? Ich bin in meinem Leben so glücklich nicht
gewesen, daß ich dieses Vergnügen oft empfunden hätte. Aber der
wenigen Male, die ich es empfunden habe, erinnere ich mich noch immer
gern. Ich fühlte so etwas Sanftes, so etwas Beruhigendes, so etwas
Himmlisches dabei, daß ich mich nicht entbrechen konnte, an die große,
unüberschwengliche Seligkeit Gottes zu denken, dessen ganze
Erhaltungen der elenden Menschen ein immerwährendes Vergeben ist. Ich
wünschte mir, alle Augenblicke verzeihen zu können, und schämte mich,
daß ich nur solche Kleinigkeiten zu verzeihen hatte. Recht
schmerzhafte Beleidigungen, recht tödliche Kränkungen zu vergeben,
sagt' ich zu mir selbst, muß eine Wollust sein, in der die ganze Seele
zerfließt--Und nun, Miß, wollen Sie denn so eine große Wollust Ihrem
Vater nicht gönnen?
Sara. Ach!--Rede weiter, Waitwell, rede weiter!
Waitwell. Ich weiß wohl, es gibt eine Art von Leuten, die nichts
ungerner als Vergebung annehmen, und zwar, weil sie keine zu erzeigen
gelernt haben. Es sind stolze, unbiegsame Leute, die durchaus nicht
gestehen wollen, daß sie unrecht getan. Aber von der Art, Miß, sind
Sie nicht. Sie haben das liebreichste und zärtlichste Herz, das die
beste Ihres Geschlechts nur haben kann. Ihren Fehler bekennen Sie
auch. Woran liegt es denn nun also noch?--Doch verzeihen Sie mir nur,
Miß, ich bin ein alter Plauderer und hätte es gleich merken sollen,
daß Ihr Weigern nur eine rühmliche Besorgnis, nur eine tugendhafte
Schüchternheit sei. Leute, die eine große Wohltat gleich ohne
Bedenken annehmen können, sind der Wohltat selten würdig. Die sie am
meisten verdienen, haben auch immer das meiste Mißtrauen gegen sich
selbst. Doch muß das Mißtrauen nicht über sein Ziel getrieben werden.

Sara. Lieber alter Vater, ich glaube, du hast mich überredet.
Waitwell. Ach Gott! wenn ich so glücklich gewesen bin, so muß mir
ein guter Geist haben reden helfen. Aber nein, Miß, meine Reden haben
dabei nichts getan, als daß sie Ihnen Zeit gelassen, selbst
nachzudenken und sich von einer so fröhlichen Bestürzung zu erholen.--
Nicht wahr, nun werden Sie den Brief lesen? Oh! lesen Sie ihn doch
gleich!
Sara. Ich will es tun, Waitwell.--Welche Bisse, welche Schmerzen
werde ich fühlen!
Waitwell. Schmerzen, Miß, aber angenehme Schmerzen.
Sara. Sei still! (Sie fängt an, für sich zu lesen.)
Waitwell (beiseite). Oh! wenn er sie selbst sehen sollte!
Sara (nachdem sie einige Augenblicke gelesen). Ach, Waitwell, was für
ein Vater! Er nennt meine Flucht eine Abwesenheit. Wieviel
sträflicher wird sie durch dieses gelinde Wort! (Sie lieset weiter
und unterbricht sich wieder.) Höre doch! er schmeichelt sich, ich
würde ihn noch lieben. Er schmeichelt sich! (Lieset und unterbricht
sich.) Er bittet mich--Er bittet mich? Ein Vater seine Tochter?
seine strafbare Tochter? Und was bittet er mich denn?--(Lieset für
sich.) Er bittet mich, seine übereilte Strenge zu vergessen und ihn
mit meiner Entfernung nicht länger zu strafen. Übereilte Strenge!--Zu
strafen!--(Lieset wieder und unterbricht sich.) Noch mehr! Nun dankt
er mir gar, und dankt mir, daß ich ihm Gelegenheit gegeben, den ganzen
Umfang der väterlichen Liebe kennenzulernen. Unselige Gelegenheit!
Wenn er doch nur auch sagte, daß sie ihm zugleich den ganzen Umfang
des kindlichen Ungehorsams habe kennenlernen! (Sie lieset wieder.)
Nein, er sagt es nicht! Er gedenkt meines Verbrechens nicht mit einem
Buchstaben. (Sie fährt weiter fort, für sich zu lesen.) Er will
kommen und seine Kinder selbst zurückholen. Seine Kinder, Waitwell!
Das geht über alles!--Hab ich auch recht gelesen? (Sie lieset wieder
für sich.)--Ich möchte vergehen! Er sagt, derjenige verdiene nur
allzuwohl sein Sohn zu sein, ohne welchen er keine Tochter haben könne.
--Oh! hätte er sie nie gehabt, diese unglückliche Tochter!--Geh,
Waitwell, laß mich allein! Er verlangt eine Antwort, und ich will sie
sogleich machen. Frag in einer Stunde wieder nach. Ich danke dir
unterdessen für deine Mühe. Du bist ein rechtschaffner Mann. Es sind
wenig Diener die Freunde ihrer Herren!
Waitwell. Beschämen Sie mich nicht, Miß. Wenn alle Herren Sir
Williams wären, so müßten die Diener Unmenschen sein, wenn sie nicht
ihr Leben für sie lassen wollten. (Geht ab.)

Vierter Auftritt

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