Marthe und ihre Uhr: Novelle

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Paetels
Taschenausgaben
23
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Im Sonnenschein
Drei Sommergeschichten
von
Theodor Storm

Dreizehnte Auflage


Verlag von Gebrüder Paetel
Berlin

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Druck von G. Kreysing in Leipzig
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Meiner Mutter
zum
W e i h n a c h t a b e n d 1854

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MARTHE UND IHRE UHR.

Während der letzten Jahre meines Schulbesuchs wohnte ich in einem
kleinen Bürgerhause der Stadt, worin aber von Vater, Mutter und vielen
Geschwistern nur eine alternde, unverheiratete Tochter zurückgeblieben
war. Die Eltern und zwei Brüder waren gestorben, die Schwestern bis auf
die jüngste, die einen Arzt am selbigen Ort geheiratet hatte, ihren
Männern in entfernte Gegenden gefolgt. So blieb denn Marthe allein in
ihrem elterlichen Hause, worin sie sich durch das Vermieten des früheren
Familienzimmers und mit Hilfe einer kleinen Rente spärlich durchs Leben
brachte. Doch kümmerte es sie wenig, daß sie nur Sonntags ihren
Mittagstisch decken konnte; denn ihre Ansprüche an das äußere Leben
waren fast keine; eine Folge der strengen und sparsamen Erziehung, die
der Vater sowohl aus Grundsatz, als auch in Rücksicht seiner
beschränkten bürgerlichen Verhältnisse allen seinen Kindern gegeben
hatte. Wenn aber Marthen in ihrer Jugend nur die gewöhnliche
Schulbildung zuteil geworden war, so hatte das Nachdenken ihrer späteren
einsamen Stunden, vereinigt mit einem behenden Verstande und dem
sittlichen Ernst ihres Charakters, sie doch zu der Zeit, in der ich sie
kennen lernte, auf eine für Frauen, namentlich des Bürgerstandes,
ungewöhnlich hohe Bildungsstufe gehoben. Freilich sprach sie nicht immer
grammatisch richtig, obgleich sie viel und mit Aufmerksamkeit las, am
liebsten geschichtlichen oder poetischen Inhalts; aber sie wußte sich
dafür meistens über das Gelesene ein richtiges Urteil zu bilden und, was
so Wenigen gelingt, selbständig das Gute vom Schlechten zu
unterscheiden. Mörikes »Maler Nolten«, der damals erschien, machte
großen Eindruck auf sie, so daß sie ihn immer wieder las; erst das
Ganze, dann diese oder jene Partie, wie sie ihr eben zusagte. Die
Gestalten des Dichters wurden für sie selbstbestimmende lebende Wesen,
deren Handlungen nicht mehr an die Notwendigkeit des dichterischen
Organismus gebunden waren; und sie konnte stundenlang darüber
nachsinnen, auf welche Weise das hereinbrechende Verhängnis von so
vielen geliebten Menschen dennoch hätte abgewandt werden können.
Die Langeweile drückte Marthen in ihrer Einsamkeit nicht, wohl aber
zuweilen ein Gefühl der Zwecklosigkeit ihres Lebens nach außen hin; sie
bedurfte jemandes, für den sie hätte arbeiten und sorgen können. Bei dem
Mangel näher Befreundeter kam dieser löbliche Trieb ihren jeweiligen
Mietern zugute, und auch ich habe manche Freundlichkeit und
Aufmerksamkeit von ihrer Hand erfahren. — An Blumen hatte sie eine
große Freude, und es schien mir ein Zeichen ihres anspruchslosen und
resignierten Sinnes, daß sie unter ihnen die weißen und von diesen
wieder die einfachen am liebsten hatte. Es war immer ihr erster Festtag
im Jahre, wenn ihr die Kinder der Schwester aus deren Garten die ersten
Schneeglöckchen und Märzblumen brachten; dann wurde ein kleines
Porzellankörbchen aus dem Schranke herabgenommen; und die Blumen zierten
unter ihrer sorgsamen Pflege wochenlang die kleine Kammer.
Da Marthe seit dem Tode ihrer Eltern wenig Menschen um sich sah und
namentlich die langen Winterabende fast immer allein zubrachte, so lieh
die regsame und gestaltende Phantasie, die ihr ganz besonders eigen war,
den Dingen um sie her eine Art von Leben und Bewußtsein. Sie borgte
Teilchen ihrer Seele aus an die alten Möbel ihrer Kammer, und die alten
Möbel erhielten so die Fähigkeit, sich mit ihr zu unterhalten; meistens
freilich war diese Unterhaltung eine stumme, aber sie war dafür desto
inniger und ohne Mißverständnis. Ihr Spinnrad, ihr braungeschnitzter
Lehnstuhl waren gar sonderbare Dinge, die oft die eigentümlichsten
Grillen hatten; vorzüglich war dies aber der Fall mit einer altmodischen
Stutzuhr, die ihr verstorbener Vater vor über fünfzig Jahren, auch
damals schon als ein uraltes Stück, auf dem Trödelmarkt zu Amsterdam
gekauft hatte. Das Ding sah freilich seltsam genug aus: zwei Meerweiber,
aus Blech geschnitten und dann übermalt, lehnten zu jeder Seite ihr
langhaariges Antlitz an das vergilbte Zifferblatt; die schuppigen
Fischleiber, die von einstiger Vergoldung zeugten, umschlossen dasselbe
nach unten zu; die Weiser schienen dem Schwanze eines Skorpions
nachgebildet zu sein. Vermutlich war das Räderwerk durch langen Gebrauch
verschlissen; denn der Perpendikelschlag war hart und ungleich, und die
Gewichte schossen zuweilen mehrere Zoll mit einemmal hinunter. — Diese
Uhr war die beredteste Gesellschaft ihrer Besitzerin; sie mischte sich
aber auch in alle ihre Gedanken. Wenn Marthe in ein Hinbrüten über ihre
Einsamkeit verfallen wollte, dann ging der Perpendikel tick, tack! tick,
tack! immer härter, immer eindringlicher; er ließ ihr keine Ruh, er
schlug immer mitten in ihre Gedanken hinein. Endlich mußte sie aufsehen;
— da schien die Sonne so warm in die Fensterscheiben, die Nelken auf
dem Fensterbrett dufteten so süß; draußen schossen die Schwalben singend
durch den Himmel. Sie mußte wieder fröhlich sein, die Welt um sie her
war gar zu freundlich.
Die Uhr hatte aber auch wirklich ihren eigenen Kopf; sie war alt
geworden und kehrte sich nicht mehr so gar viel an die neue Zeit; daher
schlug sie oft sechs, wenn sie zwölf schlagen sollte, und ein andermal,
um es wieder gut zu machen, wollte sie nicht aufhören zu schlagen, bis
Marthe das Schlaglot von der Kette nahm. Das Wunderlichste war, daß sie
zuweilen gar nicht dazu kommen konnte; dann schnurrte und schnurrte es
zwischen den Rädern, aber der Hammer wollte nicht ausholen; und das
geschah meistens mitten in der Nacht. Marthe wurde jedesmal wach; und
mochte es im klingendsten Winter und in der dunkelsten Nacht sein, sie
stand auf und ruhte nicht, bis sie die alte Uhr aus ihren Nöten erlöst
hatte. Dann ging sie wieder zu Bette und dachte sich allerlei, warum die
Uhr sie wohl geweckt habe, und fragte sich, ob sie in ihrem Tagewerk
auch etwas vergessen, ob sie es auch mit guten Gedanken beschlossen
habe.
Nun war es Weihnachten. Den Christabend, da ein übermäßiger Schneefall
mir den Weg zur Heimat versperrte, hatte ich in einer befreundeten,
kinderreichen Familie zugebracht; der Tannenbaum hatte gebrannt, die
Kinder waren jubelnd in die langverschlossene Weihnachtsstube gestürzt;
nachher hatten wir die unerläßlichen Karpfen gegessen und Bischof dazu
getrunken; nichts von der herkömmlichen Feierlichkeit war versäumt
worden. — Am andern Morgen trat ich zu Marthe in die Kammer, um ihr den
gebräuchlichen Glückwunsch zum Feste abzustatten. Sie saß mit
untergestütztem Arm am Tische; ihre Arbeit schien längst geruht zu
haben.
»Und wie haben Sie denn gestern Ihren Weihnachtabend zugebracht?« fragte
ich.
Sie sah zu Boden und antwortete: »Zu Hause.«
»Zu Hause? Und nicht bei Ihren Schwesterkindern?«
»Ach,« sagte sie, »seit meine Mutter gestern vor zehn Jahren hier in
diesem Bette starb, bin ich am Weihnachtabend nicht ausgegangen. Meine
Schwester schickte gestern wohl zu mir, und als es dunkel wurde, dachte
ich wohl daran, einmal hinzugehen; aber — die alte Uhr war auch wieder
so drollig; es war akkurat, als wenn sie immer sagte: ›Tu es nicht, tu
es nicht! Was willst du da? Deine Weihnachtsfeier gehört ja nicht
dahin!‹«
Und so blieb sie denn zu Haus in dem kleinen Zimmer, wo sie als Kind
gespielt, wo sie später ihren Eltern die Augen zugedrückt hatte, und wo
die alte Uhr pickte ganz wie dazumalen. Aber jetzt, nachdem sie ihren
Willen bekommen und Marthe das schon hervorgezogene Festkleid wieder in
den Schrank verschlossen hatte, pickte sie so leise, ganz leise und
immer leiser, zuletzt unhörbar. — Marthe durfte sich ungestört der
Erinnerung aller Weihnachtabende ihres Lebens überlassen: Ihr Vater saß
wieder in dem braungeschnitzten Lehnstuhl; er trug das feine
Sammetkäppchen und den schwarzen Sonntagsrock; auch blickten seine
ernsten Augen heute so freundlich; denn es war Weihnachtabend,
Weihnachtabend vor — ach, vor sehr, sehr vielen Jahren! Ein
Weihnachtbaum zwar brannte nicht auf dem Tisch — das war ja nur für
reiche Leute —; aber statt dessen zwei hohe dicke Lichter; und davon
wurde das kleine Zimmer so hell, daß die Kinder ordentlich die Hand vor
die Augen halten mußten, als sie aus der dunklen Vordiele hineintreten
durften. Dann gingen sie an den Tisch, aber nach der Weise des Hauses
ohne Hast und laute Freudenäußerung, und betrachteten, was ihnen das
Christkind einbeschert hatte. Das waren nun freilich keine teuern
Spielsachen, auch nicht einmal wohlfeile, sondern lauter nützliche und
notwendige Dinge, ein Kleid, ein Paar Schuhe, eine Rechentafel, ein
Gesangbuch und dergleichen mehr; aber die Kinder waren gleichwohl
glücklich mit ihrer Rechentafel und ihrem neuen Gesangbuch, und sie
gingen eins ums andre, dem Vater die Hand zu küssen, der währenddessen
zufrieden lächelnd in seinem Lehnstuhl geblieben war. Die Mutter mit
ihrem milden, freundlichen Gesicht unter dem enganliegenden Scheiteltuch
band ihnen die neue Schürze vor und malte ihnen Zahlen und Buchstaben
zum Nachschreiben auf die neue Tafel. Doch sie hatte nicht gar lange
Zeit, sie mußte in die Küche und Apfelkuchen backen, denn das war für
die Kinder eine Hauptbescherung am Weihnachtabend; die mußten notwendig
gebacken werden. Da schlug der Vater das neue Gesangbuch auf und stimmte
mit seiner klaren Stimme an: Frohlockt, lobsinget Gott; die Kinder aber,
die alle Melodien kannten, stimmten ein: der Heiland ist gekommen; und
so sangen sie den Gesang zu Ende, indem sie alle um des Vaters Lehnstuhl
herumstanden. Nur in den Pausen hörte man in der Küche das Hantieren der
Mutter und das Prasseln der Apfelkuchen. — —
Tick, tack! ging es wieder; tick, tack! immer härter und eindringlicher,
Marthe fuhr empor; da war es fast dunkel um sie her, draußen auf dem
Schnee nur lag trüber Mondschein. Außer dem Pendelschlag der Uhr war es
totenstill im Hause. Keine Kinder sangen in der kleinen Stube, kein
Feuer prasselte in der Küche. Sie war ja ganz allein zurückgeblieben;
die andern waren alle, alle fort. — Aber was wollte die alte Uhr denn
wieder? — Ja, da warnte es auf elf — und ein andrer Weihnachtabend
tauchte in Marthens Erinnerung auf, ach! ein ganz andrer; viele, viele
Jahre später. Der Vater und die Brüder waren tot, die Schwestern
verheiratet; die Mutter, die nun mit Marthen allein geblieben war, hatte
schon längst des Vaters Platz im braunen Lehnstuhl eingenommen und
ihrer Tochter die kleinen Wirtschaftssorgen übertragen; denn sie
kränkelte seit des Vaters Tode, ihr mildes Antlitz wurde immer blässer,
und ihre freundlichen Augen blickten immer matter; endlich mußte sie
auch den Tag über im Bette bleiben. Das war schon über drei Wochen, und
nun war es Weihnachtabend. Marthe saß an ihrem Bett und horchte auf den
Atem der Schlummernden; es war totenstill in der Kammer, nur die Uhr
pickte. Da warnte es auf elf, die Mutter schlug die Augen auf und
verlangte zu trinken. »Marthe,« sagte sie, »wenn es erst Frühling wird,
und ich wieder zu Kräften gekommen bin, dann wollen wir deine Schwester
Hanne besuchen; ich habe ihre Kinder eben im Traume gesehen; — du hast
hier gar zu wenig Vergnügen.« — Die Mutter hatte ganz vergessen, daß
Schwester Hannes Kinder im Spätherbst gestorben waren; Marthe erinnerte
sie auch nicht daran, sie nickte schweigend mit dem Kopf und faßte ihre
abgefallenen Hände. Die Uhr schlug elf. —
Auch jetzt schlug sie elf, aber leise, wie aus weiter, weiter Ferne. —
Da hörte Marthe einen tiefen Atemzug; sie dachte, die Mutter wolle
wieder schlafen. So blieb sie sitzen, lautlos, regungslos, die Hand der
Mutter noch immer in der ihren; am Ende verfiel sie in einen
schlummerähnlichen Zustand. Es mochte so eine Stunde vergangen sein; da
schlug die Uhr zwölf! — Das Licht war ausgebrannt, der Mond schien hell
ins Fenster; aus den Kissen sah das bleiche Gesicht der Mutter. Marthe
hielt eine kalte Hand in der ihrigen. Sie ließ diese kalte Hand nicht
los, sie saß die ganze Nacht bei der toten Mutter. —
So saß sie jetzt bei ihren Erinnerungen in derselben Kammer, und die
alte Uhr pickte bald laut, bald leise; sie wußte von allem, sie hatte
alles mit erlebt, sie erinnerte Marthe an alles, an ihre Leiden, an ihre
kleinen Freuden. —
Ob es noch so gesellig in Marthens einsamer Kammer ist? Ich weiß es
nicht; es sind viele Jahre her, seit ich in ihrem Hause wohnte, und jene
kleine Stadt liegt weit von meiner Heimat. — Was Menschen, die das
Leben lieben, nicht auszusprechen wagen, pflegte sie laut und ohne Scheu
zu äußern: Ich bin niemals krank gewesen; ich werde gewiß sehr alt
werden. — Ist ihr Glaube ein richtiger gewesen und sollten diese
Blätter den Weg in ihre Kammer finden, so möge sie sich beim Lesen auch
meiner erinnern. Die alte Uhr wird helfen; sie weiß ja von allem
Bescheid.
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