Laokoon: Oder, Über die Grenzen der Malerei und Poesie - 09

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wohl möglich, daß man durch sie die Teile eines Körpers ebensowohl
aufeinanderfolgen lassen kann, als sie in der Natur nebeneinander
befindlich sind. Allein dieses ist eine Eigenschaft der Rede und
ihrer Zeichen überhaupt, nicht aber insoferne sie der Absicht der
Poesie am bequemsten sind. Der Poet will nicht bloß verständlich
werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich sein;
hiermit begnügt sich der Prosaist. Sondern er will die Ideen, die er
in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit
die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden
glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die
er dazu anwendet, seiner Worte, bewußt zu sein aufhören. Hierauf
lief oben die Erklärung des poetischen Gemäldes hinaus. Aber der
Dichter soll immer malen; und nun wollen wir sehen, inwieferne Körper
nach ihren Teilen nebeneinander sich zu dieser Malerei schicken.
Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume?
Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die
Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne
verrichten diese verschiedene Operationen mit einer so erstaunlichen
Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken, und
diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wann wir einen
Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den
Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen.
Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung
von einem Teile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns
die Verbindung dieser Teile auch noch so klar zu machen: wie viel
Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er
uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir
bei dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben.
Jedennoch sollen wir uns aus diesen Zügen ein Ganzes bilden; dem Auge
bleiben die betrachteten Teile beständig gegenwärtig; es kann sie
abermals und abermals überlaufen: für das Ohr hingegen sind die
vernommenen Teile verloren, wann sie nicht in dem Gedächtnisse
zurückbleiben. Und bleiben sie schon da zurück: welche Mühe, welche
Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so
lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf
einmal zu überdecken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu
gelangen!
Man versuche es an einem Beispiele, welches ein Meisterstück in
seiner Art heißen kann 1).
{1. S. des Herrn v. Hallers Alpen.}
Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enziane
Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,
Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,
Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn.
Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,
Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,
Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,
Strahlt von dem bunten Blitz von feuchtem Diamant.
Gerechtestes Gesetz! daß Kraft sich Zier vermähle,
In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.
Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem grauen Nebel,
Dem die Natur sein Blatt im Kreuze hingelegt;
Die holde Blume zeigt die zwei vergöldten Schnäbel,
Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt.
Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbet,
Auf einen hellen Bach den grünen Widerschein;
Der Blumen zarten Schnee, den matter Purpur färbet,
Schließt ein gestreifter Stern in weiße Strahlen ein.
Smaragd und Rosen blühn auch auf zertretner Heide,
Und Felsen decken sich mit einem Purpurkleide.

Es sind KrÄuter und Blumen, welche der gelehrte Dichter mit großer
Kunst und nach der Natur malet. Malt, aber ohne alle Täuschung malet.
Ich will nicht sagen, daß wer diese Kräuter und Blumen nie gesehen,
sich auch aus seinem Gemälde so gut als gar keine Vorstellung davon
machen kÖnne. Es mag sein, daß alle poetische Gemälde eine
vorläufige Bekanntschaft mit ihren Gegenständen erfordern. Ich will
auch nicht leugnen, daß demjenigen, dem eine solche Bekanntschaft
hier zustatten kömmt, der Dichter nicht von einigen Teilen eine
lebhaftere Idee erwecken könnte. Ich frage ihn nur, wie steht es um
den Begriff des Ganzen? Wenn auch dieser lebhafter sein soll, so
mÜssen keine einzelne Teile darin vorstechen, sondern das höhere
Licht muß auf alle gleich verteilet scheinen; unsere Einbildungskraft
muß alle gleich schnell überlaufen können, um sich das aus ihnen mit
eins zusammenzusetzen, was in der Natur mit eins gesehen wird. Ist
dieses hier der Fall? Und ist er es nicht, wie hat man sagen können,
"daß die ähnlichste Zeichnung eines Malers gegen diese poetische
Schilderung ganz matt und düster sein würde" 2)? Sie bleibet
unendlich unter dem, was Linien und Farben auf der Fläche ausdrücken
können, und der Kunstrichter, der ihr dieses übertriebene Lob
erteilet, muß sie aus einem ganz falschen Gesichtspunkte betrachtet
haben; er muß mehr auf die fremden Zieraten, die der Dichter darein
verwebet hat, auf die Erhöhung über das vegetative Leben, auf die
Entwickelung der innern Vollkommenheiten, welchen die äußere
Schönheit nur zur Schale dienet, als auf diese Schönheit selbst, und
auf den Grad der Lebhaftigkeit und Ähnlichkeit des Bildes, welches
uns der Maler, und welches uns der Dichter davon gewähren kann,
gesehen haben. Gleichwohl kömmt es hier lediglich nur auf das
letztere an, und wer da sagt, daß die bloßen Zeilen:
{2. Breitingers Kritische Dichtkunst T. II. S. 807.}
Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,
Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,
Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,
Strahlt von dem bunten Blitz von feuchtem Diamant--

daß diese Zeilen, in Ansehung ihres Eindrucks, mit der Nachahmung
eines Huysum wetteifern kÖnnen, muß seine Empfindung nie befragt
haben, oder sie vorsetzlich verleugnen wollen. Sie mögen sich, wenn
man die Blume selbst in der Hand hat, sehr schön dagegen rezitieren
lassen; nur vor sich allein sagen sie wenig oder nichts. Ich höre in
jedem Worte den arbeitenden Dichter, aber das Ding selbst bin ich
weit entfernet zu sehen.
Nochmals also: ich spreche nicht der Rede Überhaupt das Vermögen ab,
ein körperliches Ganze nach seinen Teilen zu schildern; sie kann es,
weil ihre Zeichen, ob sie schon aufeinander folgen, dennoch
willkürliche Zeichen sind: sondern ich spreche es der Rede als dem
Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der
Körper das TÄuschende gebracht, worauf die Poesie vornehmlich gehet;
und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das
Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in
Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die
Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die
endliche Wiederzusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein
schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.
Überall, wo es daher auf das Täuschende nicht ankömmt, wo man nur mit
dem Verstande seiner Leser zu tun hat, und nur auf deutliche und
soviel möglich vollständige Begriffe gehet: können diese aus der
Poesie ausgeschlossene Schilderungen der Körper gar wohl Platz haben,
und nicht allein der Prosaist, sondern auch der dogmatische Dichter
(denn da wo er dogmatisieret, ist er kein Dichter), können sich ihrer
mit vielem Nutzen bedienen. So schildert z. E. Virgil in seinem
Gedichte vom Landbaue eine zur Zucht tüchtige Kuh:
--Optima torvae
Forma bovis, cui turpe caput, cui plurima cervix,
Et crurum tenus a mento palearia pendent.
Tum longo nullus lateri modus: omnia magna:
Pes etiam, et camuris hirtae sub cornibus aures.
Nec mihi displiceat maculis insignis et albo,
Aut juga detractans interdumque aspera cornu,
Et faciem tauro propior; quaeque ardua tota,
Et gradiens ima verrit vestigia cauda.

Oder ein schönes Füllen:
--Illi ardua cervix
Argutumque caput, brevis alvus, obesaque terga
Luxuriatque toris animosum pectus etc. 3)
{3. Georg. lib. III. v. 51 et 79.}

Denn wer sieht nicht, daß dem Dichter hier mehr an der
Auseinandersetzung der Teile, als an dem Ganzen gelegen gewesen? Er
will uns die Kennzeichen eines schÖnen FÜllens, einer tüchtigen Kuh
zuzÄhlen, um uns in den Stand zu setzen, nachdem wir deren mehrere
oder wenigere antreffen, von der Güte der einen oder des andern
urteilen zu können; ob sich aber alle diese Kennzeichen in ein
lebhaftes Bild leicht zusammenfassen lassen, oder nicht, das konnte
ihm sehr gleichgültig sein.
Außer diesem Gebrauche sind die ausführlichen Gemälde körperlicher
Gegenstände, ohne den oben erwähnten Homerischen Kunstgriff, das
Koexistierende derselben in ein wirkliches Sukzessives zu verwandeln,
jederzeit von den feinsten Richtern für ein frostiges Spielwerk
erkannt worden, zu welchem wenig oder gar kein Genie gehöret. Wenn
der poetische Stümper, sagt Horaz, nicht weiter kann, so fängt er an,
einen Hain, einen Altar, einen durch anmutige Fluren sich
schlängelnden Bach, einen rauschenden Strom, einen Regenbogen zu
malen:
--Lucus et ara Dianae,
Et properantis aquae per amoenos ambitus agros,
Aut flumen Rhenum, aut pluvius describitur arcus 4)
{4. De A. P. v. 16.}

Der mÄnnliche Pope sahe auf die malerischen Versuche seiner
poetischen Kindheit mit großer Geringschätzung zurÜck. Er verlangte
ausdrücklich, daß wer den Namen eines Dichters nicht unwürdig führen
wolle, der Schilderungssucht so früh wie mÖglich entsagen müsse, und
erklärte ein bloß malendes Gedichte für ein Gastgebot auf lauter
Brühen 5). Von dem Herrn von Kleist kann ich versichern, daß er sich
auf seinen Frühling das wenigste einbildete. Hätte er länger gelebt,
so würde er ihm eine ganz andere Gestalt gegeben haben. Er dachte
darauf, einen Plan hinein zu legen, und sann auf Mittel, wie er die
Menge von Bildern, die er aus dem unendlichen Raume der verjüngten
Schöpfung, auf Geratewohl, bald hier bald da, gerissen zu haben
schien, in einer natürlichen Ordnung vor seinen Augen entstehen und
aufeinanderfolgen lassen wolle. Er würde zugleich das getan haben,
was Marmontel, ohne Zweifel mit auf Veranlassung seiner Eklogen,
mehrern deutschen Dichtern geraten hat; er würde aus einer mit
Empfindungen nur sparsam durchwebten Reihe von Bildern, eine mit
Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen gemacht
haben 6).
{5. Prologue to the satires. v. 340.
That not in Fancy's maze he wander'd long,
But stoop'd to truth, and moraliz'd his song.

Ibid. v. 148.
--who could take offence,
While pure description held the place of sense?

Die Anmerkung, welche Warburton Über die letzte Stelle macht, kann
für eine authentische ErklÄrung des Dichters selbst gelten. He uses
PURE equivocally, to signify either chaste or empty; and has given in
this line what he esteemed the true character of descriptive poetry,
as it is called. A composition, in his opinion, as absurd as a feast
made up of sauces. The use of a pictoresque imagination is to
brighten and adorn good sense; so that to employ it only in
description, is like children's delighting in a prism for the sake of
its gaudy colours; which when frugally managed, and artifully
disposed, rnight be made to represent and illustrate the noblest
objects in nature. Sowohl der Dichter als Kommentator scheinen zwar
die Sache mehr auf der moralischen als kunstmäßigen Seite betrachtet
zu haben. Doch desto besser, daß sie von der einen ebenso nichtig
als von der andern erscheinet.}
{6. Poétique française. T. II. p. 501. J'écrivais ces réflexions
avant que les essais des Allemands dans ce genre (l'eglogue) fussent
connus parmi nous. Ils ont exécuté ce que j'avais conçu; et s'ils
parviennent à donner plus au moral et moins au détail des peintures
physiques, ils excelleront dans ce genre, plus riche, plus vaste,
plus fécond, et infiniment plus naturel et plus moral que celui de la
galanterie champêtre.}

XVIII.

Und dennoch sollte selbst Homer in diese frostigen Ausmalungen
kÖrperlicher Gegenstände verfallen sein?-Ich will hoffen, daß es nur
sehr wenige Stellen sind, auf die man sich desfalls berufen kann; und
ich bin versichert, daß auch diese wenige Stellen von der Art sind,
daß sie die Regel, von der sie eine Ausnahme zu sein scheinen,
vielmehr bestätigen.
Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie
der Raum das Gebiete des Malers.
Zwei notwendig entfernte Zeitpunkte in ein und ebendasselbe Gemälde
bringen, so wie Fr. Mazzuoli den Raub der sabinischen Jungfrauen,
und derselben Aussöhnung ihrer Ehemänner mit ihren Anverwandten; oder
wie Tizian die ganze Geschichte des verlornen Sohnes, sein
liederliches Leben und sein Elend und seine Reue: heißt ein Eingriff
des Malers in das Gebiete des Dichters, den der gute Geschmack nie
billigen wird.
Mehrere Teile oder Dinge, die ich notwendig in der Natur auf einmal
übersehen muß, wenn sie ein Ganzes hervorbringen sollen, dem Leser
nach und nach zuzählen, um ihm dadurch ein Bild von dem Ganzen machen
zu wollen: heißt ein Eingriff des Dichters in das Gebiete des Malers,
wobei der Dichter viel Imagination ohne allen Nutzen verschwendet.
Doch, so wie zwei billige freundschaftliche Nachbarn zwar nicht
verstatten, daß sich einer in des andern innerstem Reiche
ungeziemende Freiheiten herausnehme, wohl aber auf den äußersten
Grenzen eine wechselseitige Nachsicht herrschen lassen, welche die
kleinen Eingriffe, die der eine in des andern Gerechtsame in der
Geschwindigkeit sich durch seine Umstände zu tun genötiget siehet,
friedlich von beiden Teilen kompensieret: so auch die Malerei und
Poesie.
Ich will in dieser Absicht nicht anführen, daß in großen historischen
Gemälden der einzige Augenblick fast immer um etwas erweitert ist,
und daß sich vielleicht kein einziges an Figuren sehr reiches Stück
findet, in welchem jede Figur vollkommen die Bewegung und Stellung
hat, die sie in dem Augenblicke der Haupthandlung haben sollte; die
eine hat eine etwas frühere, die andere eine etwas spätere. Es ist
dieses eine Freiheit, die der Meister durch gewisse Feinheiten in der
Anordnung rechtfertigen muß, durch die Verwendung oder Entfernung
seiner Personen, die ihnen an dem, was vorgehet, einen mehr oder
weniger augenblicklichen Anteil zu nehmen erlaubet. Ich will mich
bloß einer Anmerkung bedienen, welche Herr Mengs über die Draperie
des Raffaels macht 1). "Alle Falten", sagt er, "haben bei ihm ihre
Ursachen, es sei durch ihr eigen Gewichte, oder durch die Ziehung der
Glieder. Manchmal siehet man in ihnen, wie sie vorher gewesen;
Raffael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. Man siehet an
den Falten, ob ein Bein oder Arm vor dieser Regung vor oder hinten
gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder
gehet, oder ob es ausgestreckt gewesen, und sich krümmet." Es ist
unstreitig, daß der Künstler in diesem Falle zwei verschiedene
Augenblicke in einen einzigen zusammenbringt. Denn da dem Fuße,
welcher hinten gestanden und sich vorbewegt, der Teil des Gewands,
welcher auf ihm liegt, unmittelbar folget, das Gewand wäre denn von
sehr steifem Zeuge, der aber eben darum zur Malerei ganz unbequem ist:
so gibt es keinen Augenblick, in welchem das Gewand im geringsten
eine andere Falte machte, als es der itzige Stand des Gliedes
erfodert; sondern läßt man es eine andere Falte machen, so ist es der
vorige Augenblick des Gewandes und der itzige des Gliedes.
Demohngeachtet, wer wird es mit dem Artisten so genau nehmen, der
seinen Vorteil dabei findet, uns diese beiden Augenblicke zugleich zu
zeigen? Wer wird ihn nicht vielmehr rühmen, daß er den Verstand und
das Herz gehabt hat, einen solchen geringen Fehler zu begehen, um
eine größere Vollkommenheit des Ausdruckes zu erreichen?
{1. Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei.
S. 69.}
Gleiche Nachsicht verdienet der Dichter. Seine fortschreitende
Nachahmung erlaubet ihm eigentlich, auf einmal nur eine einzige Seite,
eine einzige Eigenschaft seiner körperlichen Gegenstände zu berühren.
Aber wenn die glückliche Einrichtung seiner Sprache ihm dieses mit
einem einzigen Worte zu tun verstattet; warum sollte er nicht auch
dann und wann ein zweites solches Wort hinzufügen dürfen? Warum
nicht auch, wann es die Mühe verlohnet, ein drittes? Oder wohl gar
ein viertes? Ich habe gesagt, dem Homer sei zum Exempel ein Schiff,
entweder nur das schwarze Schiff, oder das hohle Schiff, oder das
schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff. Zu
verstehen von seiner Manier überhaupt. Hier und da findet sich eine
Stelle, wo er das dritte malende Epitheton hinzusetzet: Kampula kukla,
calkea, oktaknhma 2), "runde, eherne, achtspeichigte Räder". Auch
das vierte: aspida pantose ishn, kalhn, calkeihn, exhlaton 3) "ein
überall glattes, schönes, ehernes, getriebenes Schild". Wer wird ihn
darum tadeln? Wer wird ihm diese kleine Üppigkeit nicht vielmehr
Dank wissen, wenn er empfindet, welche gute Wirkung sie an wenigen
schicklichen Stellen haben kann?
{2. Iliad. E. v. 722.}
{3. Iliad. M. v. 294.}
Des Dichters sowohl als des Malers eigentliche Rechtfertigung
hierüber will ich aber nicht aus dem vorangeschickten Gleichnisse von
zwei freundschaftlichen Nachbarn hergeleitet wissen. Ein bloßes
Gleichnis beweiset und rechtfertiget nichts. Sondern dieses muß sie
rechtfertigen: so wie dort bei dem Maler die zwei verschiednen
Augenblicke so nahe und unmittelbar aneinander grenzen, daß sie ohne
Anstoß für einen einzigen gelten können; so folgen auch hier bei dem
Dichter die mehrern Züge für die verschiednen Teile und Eigenschaften
im Raume in einer solchen gedrängten Kürze so schnell aufeinander,
daß wir sie alle auf einmal zu hören glauben.
Und hierin, sage ich, kömmt dem Homer seine vortreffliche Sprache
ungemein zustatten. Sie läßt ihm nicht allein alle mögliche Freiheit
in Häufung und Zusammensetzung der Beiwörter, sondern sie hat auch
für diese gehäufte Beiwörter eine so glückliche Ordnung, daß der
nachteiligen Suspension ihrer Beziehung dadurch abgeholfen wird. An
einer oder mehreren dieser Bequemlichkeiten fehlt es den neuern
Sprachen durchgängig. Diejenigen, als die französische, welche z. E.
jenes Kampula kukla, calkea, oktaknhma umschreiben müssen: "die
runden Räder, welche von Erzt waren und acht Speichen hatten",
drücken den Sinn aus, aber vernichten das Gemälde. Gleichwohl ist
der Sinn hier nichts, und das Gemälde alles; und jener ohne dieses
macht den lebhaftesten Dichter zum langweiligsten Schwätzer. Ein
Schicksal, das den guten Homer unter der Feder der gewissenhaften
Frau Dacier oft betroffen hat. Unsere deutsche Sprache hingegen kann
zwar die Homerischen Beiwörter meistens in ebenso kurze
gleichgeltende Beiwörter verwandeln, aber die vorteilhafte Ordnung
derselben kann sie der griechischen nicht nachmachen. Wir sagen zwar
"die runden, ehernen, achtspeichigten"--aber Räder' schleppt hinten
nach. Wer empfindet nicht, daß drei verschiedne Prädikate, ehe wir
das Subjekt erfahren, nur ein sehr schwankes verwirrtes Bild machen
können? Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem ersten
Prädikate, und läßt die andern nachfolgen; er sagt: "runde Räder,
eherne, achtspeichigte". So wissen wir mit eins wovon er redet, und
werden, der natürlichen Ordnung des Denkens gemäß, erst mit dem Dinge,
und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt. Diesen Vorteil hat
unsere Sprache nicht. Oder soll ich sagen, sie hat ihn, und kann ihn
nur selten ohne Zweideutigkeit nutzen? Beides ist eins. Denn wenn
wir Beiwörter hintennach setzen wollen, so müssen sie im statu
absoluto stehen; wir müssen sagen: runde Räder, ehern und
achtspeichigt. Allein in diesem statu kommen unsere Adjektiva völlig
mit den Adverbiis überein, und müssen, wenn man sie als solche zu dem
nächsten Zeitworte, das von dem Dinge prädizieret wird, ziehet, nicht
selten einen ganz falschen, allezeit aber einen sehr schielenden Sinn
verursachen.
Doch ich halte mich bei Kleinigkeiten auf, und scheine das Schild
vergessen zu wollen, das Schild des Achilles; dieses berühmte Gemälde,
in dessen Rücksicht vornehmlich Homer vor alters als ein Lehrer der
Malerei 4) betrachtet wurde. Ein Schild, wird man sagen, ist doch
wohl ein einzelner körperlicher Gegenstand, dessen Beschreibung nach
seinen Teilen nebeneinander dem Dichter nicht vergönnet sein soll?
Und dieses Schild hat Homer, in mehr als hundert prächtigen Versen,
nach seiner Materie, nach seiner Form, nach allen Figuren, welche die
ungeheure Fläche desselben füllten, so umständlich, so genau
beschrieben, daß es neuern Künstlern nicht schwer gefallen, eine in
allen Stücken übereinstimmende Zeichnung darnach zu machen.
{4. Dionysius Halicarnass. in vita Homeri apud Th. Gale in Opusc.
Mythol. p. 401.}
Ich antworte auf diesen besondern Einwurf,--daß ich bereits darauf
geantwortet habe. Homer malet nämlich das Schild nicht als ein
fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat also
auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffes bedienet, das
Koexistierende seines Vorwurfs in ein Konsekutives zu verwandeln, und
dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers das lebendige
Gemälde einer Handlung zu machen. Wir sehen nicht das Schild,
sondern den göttlichen Meister, wie er das Schild verfertiget. Er
tritt mit Hammer und Zange vor seinen Amboß, und nachdem er die
Platten aus dem Gröbsten geschmiedet, schwellen die Bilder, die er zu
dessen Auszierung bestimmt, vor unsern Augen, eines nach dem andern,
unter seinen feinern Schlägen aus dem Erzte hervor. Eher verlieren
wir ihn nicht wieder aus dem Gesichte, bis alles fertig ist. Nun ist
es fertig, und wir erstaunen über das Werk, aber mit dem gläubigen
Erstaunen eines Augenzeugens, der es machen sehen.
Dieses läßt sich von dem Schilde des Aeneas beim Virgil nicht sagen.
Der römische Dichter empfand entweder die Feinheit seines Musters
hier nicht, oder die Dinge, die er auf sein Schild bringen wollte,
schienen ihm von der Art zu sein, daß sie die Ausführung vor unsern
Augen nicht wohl verstatteten. Es waren Prophezeiungen, von welchen
es freilich unschicklich gewesen wäre, wenn sie der Gott in unserer
Gegenwart ebenso deutlich geäußert hätte, als sie der Dichter hernach
ausleget. Prophezeiungen, als Prophezeiungen, verlangen eine
dunkelere Sprache, in welche die eigentlichen Namen der Personen aus
der Zukunft, die sie betreffen, nicht passen. Gleichwohl lag an
diesen wahrhaften Namen, allem Ansehen nach, dem Dichter und Hofmanne
hier das meiste 5). Wenn ihn aber dieses entschuldiget, so hebt es
darum nicht auch die üble Wirkung auf, welche seine Abweichung von
dem Homerischen Wege hat. Leser von einem feinern Geschmacke werden
mir recht geben. Die Anstalten, welche Vulkan zu seiner Arbeit macht,
sind bei dem Virgil ungefähr eben die, welche ihn Homer machen läßt.
Aber anstatt daß wir bei dem Homer nicht bloß die Anstalten zur
Arbeit, sondern auch die Arbeit selbst zu sehen bekommen, läßt Virgil,
nachdem er uns nur den geschäftigen Gott mit seinem Cyklopen
überhaupt gezeiget,
{5. Ich finde, daß Servius dem Virgil eine andere Entschuldigung
leihet. Denn auch Servius hat den Unterschied, der zwischen beiden
Schilden ist, bemerkt: Sane interest inter hunc er Homeri clipeum:
illic enim singula dum fiunt narrantur; hic vero perfecto opere
noscuntur: nam et hic arma prius accipit Aeneas, quam spectaret; ibi
postquam omnia narrata sunt, sic a Thetide deferuntur ad Achillem (ad
v. 625 lib. VIII. Aeneid.). Und warum dieses? Darum, meinet
Servius, weil auf dem Schilde des Aeneas nicht bloß die wenigen
Begebenheiten, die der Dichter anführet, sondern
--genus omne futurae
Stirpis ab Ascanio, pugnataque in ordine bella

abgebildet waren. Wie wÄre es also mÖglich gewesen, daß mit eben der
Geschwindigkeit, in welcher Vulkan das Schild arbeiten mußte, der
Dichter die ganze lange Reihe von Nachkommen hätte namhaft machen,
und alle von ihnen nach der Ordnung gefÜhrte Kriege hätte erwähnen
können? Dieses ist der Verstand der etwas dunkeln Worte des Servius:
Opportune ergo Virgilius, quia non videtur simul et narrationis
celeritas potuisse connecti, et opus tam velociter expediri, ut ad
verbum posset occurrere. Da Virgil nur etwas weniges von dem non
enarrabili texto Clipei beibringen konnte, so konnte er es nicht
während der Arbeit des Vulkanus selbst tun; sondern er mußte es
versparen, bis alles fertig war. Ich wünschte für den Virgil sehr,
dieses Raisonnement des Servius wäre ganz ohne Grund; meine
Entschuldigung würde ihm weit rühmlicher sein. Denn wer hieß ihm,
die ganze römische Geschichte auf ein Schild bringen? Mit wenig
Gemälden machte Homer sein Schild zu einem Inbegriffe von allem, was
in der Welt vorgehet. Scheinet es nicht, als ob Virgil, da er den
Griechen nicht in den Vorwürfen und in der Ausführung der Gemälde
übertreffen können, ihn wenigstens in der Anzahl derselben
übertreffen wollen? Und was wäre kindischer gewesen?}
Ingentem clipeum informant--
--Alii ventosis follibus auras
Accipiunt, redduntque: alii stridentia tingunt
Aera lacu. Gemit impositis incudibus antrum.
Illi inter sese multa vi brachia tollunt
In numerum, versantque tenaci forcipe massam 6).

den Vorhang auf einmal niederfallen, und versetzt uns in eine ganz
andere Szene, von da er uns allmÄhlich in das Tal bringt, in welchem
die Venus mit den indes fertig gewordenen Waffen bei dem Aeneas
anlangt. Sie lehnet sie an den Stamm einer Eiche, und nachdem sie
der Held genug begaffet, und bestaunet, und betastet, und versuchet,
hebt sich die Beschreibung, oder das Gemälde des Schildes an, welches
durch das ewige: Hier ist, und Da ist, Nahe dabei stehet, und Nicht
weit davon siehet man--so kalt und langweilig wird, daß alle der
poetische Schmuck, den ihm ein Virgil geben konnte, nÖtig war, um es
uns nicht unerträglich finden zu lassen. Da dieses Gemälde
hiernächst nicht Aeneas macht, als welcher sich an den bloßen Figuren
ergötzet, und von der Bedeutung derselben nichts weiß,
--rerumque ignarus imagine gaudet;
auch nicht Venus, ob sie schon von den kÜnftigen Schicksalen ihrer
lieben Enkel vermutlich ebensoviel wissen mußte, als der gutwillige
Ehemann; sondern da es aus dem eigenen Munde des Dichters kÖmmt: so
bleibet die Handlung offenbar wÄhrend demselben stehen. Keine
einzige von seinen Personen nimmt daran teil; es hat auch auf das
Folgende nicht den geringsten Einfluß, ob auf dem Schilde dieses,
oder etwas anders, vorgestellet ist; der witzige Hofmann leuchtet
überall durch, der mit allerlei schmeichelhaften Anspielungen seine
Materie aufstutzet, aber nicht das große Genie, das sich auf die
eigene innere Stärke seines Werks verläßt, und alle äußere Mittel,
interessant zu werden, verachtet. Das Schild des Aeneas ist folglich
ein wahres Einschiebsel, einzig und allein bestimmt, dem
Nationalstolze der Römer zu schmeicheln; ein fremdes Bächlein, das
der Dichter in seinen Strom leitet, um ihn etwas reger zu machen.
Das Schild des Achilles hingegen ist Zuwachs des eigenen fruchtbaren
Bodens; denn ein Schild mußte gemacht werden, und da das Notwendige
aus der Hand der Gottheit nie ohne Anmut kömmt, so mußte das Schild
auch Verzierungen haben. Aber die Kunst war, diese Verzierungen als
bloße Verzierungen zu behandeln, sie in den Stoff einzuweben, um sie
uns nur bei Gelegenheit des Stoffes zu zeigen; und dieses ließ sich
allein in der Manier des Homers tun. Homer läßt den Vulkan Zieraten
künsteln, weil und indem er ein Schild machen soll, das seiner würdig
ist. Virgil hingegen scheinet ihn das Schild wegen der Zieraten
machen zu lassen, da er die Zieraten für wichtig genug hält, um sie
besonders zu beschreiben, nachdem das Schild lange fertig ist.
{6. Aeneid. lib. VIII. 447-454.}

XIX.

Die Einwürfe, welche der ältere Scaliger, Perrault, Terrasson und
andere gegen das Schild des Homers machen, sind bekannt. Ebenso
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