Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 6

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größerer, klügerer, bewunderter Freund gewesen.
Der nachbarliche Fliederbaum war alt und moosig dürr geworden, und das
Lattenhaus im andern Garten war zerfallen, und man mochte an seine
Stelle bauen, was man wollte, es wurde nie mehr so schön und beglückend
und richtig, wie alles einmal gewesen war.
Es begann zu dämmern und kühl zu werden, als Knulp den vergrasten
Gartenweg verließ. Vom neuen Kirchturm, der das Bild der Stadt
veränderte, rief eine neue Glocke laut herüber.
Er schlich durchs Tor der Rotgerberei in den Gerbergarten, es war
Feierabend und niemand zu sehen. Unhörbar schritt er über den weichen
Lohboden an den gähnenden Löchern vorüber, wo die Häute in der Lauge
lagen, und bis zum Mäuerchen, wo der Fluß schon dunkel an den moosig
grünen Steinen hintrieb. Da war der Ort, an dem er einmal eine
Abendstunde mit Franziska gesessen war, die bloßen Füße im Wasser
plätschernd.
Und wenn sie mich nicht vergebens hätte warten lassen, dachte Knulp,
dann wäre alles anders gekommen. Wenn auch die Lateinschule und das
Studieren versäumt war, ich hätte Kraft und Willen genug gehabt, um doch
etwas zu werden. Wie einfach und klar war das Leben! Damals hatte er
sich weggeworfen und von allem nichts mehr wissen wollen, und das Leben
war darauf eingegangen und hatte nichts von ihm verlangt. Er war
außerhalb gestanden, ein Bummler und Zaungast, beliebt in den guten
jungen Jahren und allein im Kranksein und Altern.
Es ergriff ihn eine große Müdigkeit, er setzte sich auf dem Mäuerchen
nieder, und der Fluß rauschte dunkel in seine Gedanken. Da wurde über
ihm ein Fenster hell, das mahnte ihn, es sei spät, und man dürfe ihn
hier nicht finden. Er schlüpfte lautlos aus dem Lohgarten und aus dem
Tor, knöpfte den Rock zu und dachte ans Schlafen. Er hatte Geld, der
Doktor hatte ihn beschenkt, und nach kurzem Besinnen verschwand er in
einer Herberge. Er hätte in den »Engel« oder »Schwanen« gehen können, wo
man ihn kannte und wo er Freunde gefunden hätte. Aber daran war ihm
jetzt nicht gelegen.
* * * * *
Vieles hatte sich im Städtchen verändert, was ihn früher bis ins
kleinste interessiert hätte, aber diesmal wollte er nichts sehen und
wissen, als was zur alten Zeit gehörte. Und als er nach kurzem Fragen
erfuhr, daß die Franziska nicht mehr lebe, da verblaßte alles, und ihm
schien, er sei einzig ihretwegen hergekommen. Nein, es hatte keinen
Sinn, hier in den Gassen und zwischen den Gärten herumzustrolchen und
sich von denen, die ihn kannten, halb mitleidige Späße zurufen zu
lassen. Und als er zufällig in dem engen Postgäßlein dem Oberamtsarzt
begegnete, fiel ihm plötzlich ein, man könnte ihn am Ende droben im
Krankenhaus vermissen und nach ihm fahnden. Alsbald kaufte er bei einem
Bäcker zwei Wecken, stopfte sie in seine Rocktaschen und stieg noch vor
Mittag zur Stadt hinaus eine steile Bergstraße hinan.
Da saß hoch oben am Waldrande, an der letzten großen Straßenbiegung, ein
staubiger Mann auf einem Steinhaufen und klopfte mit einem
langstieligen Hammer den graublauen Muschelkalk in Stücke.
Knulp sah ihn an, grüßte und blieb stehen.
»Grüß Gott,« sagte der Mann und klopfte weiter, ohne den Kopf zu heben.
»Ich meine, das Wetter bleibt nimmer lang,« probierte Knulp.
»Kann schon sein,« brummte der Steinklopfer und sah einen Augenblick
empor, vom Mittagslicht auf der hellen Straße geblendet. »Wo wollet Ihr
hinaus?«
»Nach Rom zum Papst,« sagte Knulp. »Ist’s wohl noch weit?«
»Heut kommet Ihr nimmer hin. Wenn Ihr überall stehen bleiben müsset und
die Leute in der Arbeit stören, dann erlaufet Ihr’s in keinem Jahr.«
»So, meinet Ihr? Na, eilig hab ich’s nicht, Gott sei Dank. Ihr seid ein
fleißiger Mann, Herr Andres Schaible.«
Der Steinklopfer hielt die Hand über die Augen und musterte den
Wanderer.
»Ihr kennt mich also,« sagte er bedächtig, »und ich kenn Euch auch, will
mir scheinen. Bloß auf den Namen muß ich noch kommen.«
»Da müsset Ihr den alten Krabbenwirt fragen, wo wir Anno neunzig
allemal unseren Sitz gehabt haben. Aber er wird nimmer leben.«
»Schon lang nimmer. Aber jetzt tagt mir’s, alter Kunde. Du bist der
Knulp. Setz dich ein bißchen her, und grüß Gott auch!«
Knulp setzte sich, er war zu rasch gestiegen und atmete mit Beschwerden;
er sah erst jetzt, wie schön in der Tiefe das Städtchen lag, blaublanker
Fluß, rotbraunes Dächergewimmel und kleine grüne Bauminseln dazwischen.
»Du hast es nett hier droben,« sagte er aufatmend.
»Es geht so, ich kann nicht klagen. Und du? Früher ist’s leichter den
Berg rauf gegangen, gelt? Du schnaufst ja heillos, Knulp. Hast wieder
einmal die Heimat besucht?«
»Jawohl, Schaible, es wird das letztemal sein.«
»Und warum denn?«
»Weil halt die Lunge kaputt ist. Weißt du nix dagegen?«
»Daheim geblieben wenn du wärst, mein Lieber, und hättest brav
geschafft, und hättest Weib und Kinder und jeden Abend dein Bett, dann
wär’s vielleicht anders mit dir. Na, darüber weißt du meine Meinung von
früher her. Da kann man jetzt nichts machen. Ist’s denn so schlimm?«
»Ach, ich weiß nicht. – Oder doch, ich weiß schon. Es geht halt den
Berg hinunter, und jeden Tag ein bißchen schneller. Da ist’s dann wieder
ganz gut, wenn man für sich allein ist und niemand zur Last fällt.«
»Wie man’s nimmt; das ist deine Sache. Es tut mir aber leid.«
»Ist nicht nötig. Gestorben muß einmal sein, es kommt sogar an die
Steinklopfer. Ja, alter Kunde, da sitzen jetzt wir zwei und können uns
beide nicht viel einbilden. Du hast ja auch einmal andere Gedanken im
Kopf gehabt. Hast du nicht damals zur Eisenbahn gewollt?«
»Ach, das sind alte Geschichten.«
»Und deine Kinder sind gesund?«
»Ich weiß nichts andres. Der Jakob verdient jetzt schon.«
»So? Ha, die Zeit vergeht. Ich will, glaub ich, jetzt auch ein wenig
weiter.«
»Es pressiert nicht so. Wenn man sich so lang nimmer gesehen hat! Sag,
Knulp, kann ich dir mit etwas helfen? Viel hab ich nicht bei mir, es
wird eine halbe Mark sein.«
»Die kannst du selber brauchen, Alterle. Nein, danke schön.«
Er wollte noch etwas sagen, aber es wurde ihm elend ums Herz, und er
schwieg, und der Steinklopfer gab ihm aus seiner Mostflasche zu trinken.
Sie blickten eine Weile auf die Stadt hinunter, ein Sonnenspiegel im
Mühlkanal blitzte kräftig herauf, über die Steinbrücke fuhr langsam ein
Lastwagen, und unterm Wehr schwamm lässig ein weißes Gänsegeschwader.
»Jetzt hab ich ausgeruht und muß weiter,« fing Knulp wieder an.
Der Steinklopfer saß in Gedanken und schüttelte den Kopf.
»Hör, du, du hättest mehr werden können als so ein armer Teufel von
Pennbruder,« sagte er langsam. »Es ist doch sündenschad um dich. Weißt
du, Knulp, ich bin gewiß kein Stündeler, aber ich glaube halt doch, was
in der Bibel steht. Du mußt auch daran denken. Du wirst dich
verantworten müssen, es wird nicht so leicht gehn. Du hast Gaben gehabt,
bessere als ein anderer, und es ist doch nichts aus dir geworden. Du
darfst mir’s nicht zürnen, wenn ich das sage.«
Jetzt lächelte Knulp, und ein Schimmer von der alten harmlosen
Schelmerei stand in seinen Augen. Er klopfte seinem Kameraden freundlich
auf den Arm und stand auf.
»Wir werden ja sehen, Schaible. Der liebe Gott fragt mich vielleicht
gar nicht: Warum bist du nicht Amtsrichter geworden? Vielleicht sagt er
auch bloß: Bist wieder da, du Kindskopf? und gibt mir droben eine
leichte Arbeit, Kinderhüten oder so.«
Andres Schaible zuckte die Achseln unter dem blau und weiß gewürfelten
Hemde.
»Mit dir kann man nicht im Ernst reden. Du meinst, wenn der Knulp kommt,
da wird der Herrgott nichts als Späße machen.«
»Ach nein. Aber es könnte doch sein, nicht?«
»Red nicht so!«
»Ja, dann will ich dem lieben Gott sagen, er solle halt einmal den
Schaible fragen, der kenne mich gut. Was sagst du ihm dann?«
»Nee, mich braucht der Herrgott gewiß nicht dazu. Aber ich täte sagen:
Der Knulp hat sein Leben lang nichts als Kindereien getrieben, aber ich
glaube, er ist halt doch ein guter und anständiger Kerl gewesen.«
Sie gaben sich die Hände, und dabei steckte der Steinklopfer ihm ein
kleines Geldstück zu, das er verstohlen aus seiner Hosentasche gegraben
hatte. Und Knulp nahm es an und wehrte sich nimmer, um dem anderen nicht
seine Freude zu verderben.
Er warf noch einen Blick in das alte heimatliche Tal, nickte noch
einmal zu Andres Schaible zurück, dann begann er zu husten und machte
schnellere Schritte, und war alsbald um die obere Waldecke verschwunden.
* * * * *
Vierzehn Tage später, nachdem es auf nebelkalte Tage noch sonnige mit
späten Glockenblumen und kühlreifen Brombeeren gegeben hatte, brach
plötzlich der Winter herein. Es gab strengen Frost und darauf am dritten
Tage bei milderer Luft einen schweren, hastigen Schneefall.
Knulp war diese ganze Zeit unterwegs gewesen, auf zielloser Streife
immer im Umkreis der Heimat, und noch zweimal hatte er aus nächster
Nähe, im Walde verborgen, den Steinklopfer Schaible gesehen und
beobachtet, ohne ihn nochmals anzurufen. Er hatte zu viel zu denken
gehabt und war auf allen den langen, mühsamen, nutzlosen Wegen immer
tiefer in das Gewirre seines verfehlten Lebens geraten wie in zähe
Dornranken, ohne den Sinn und Trost dazu zu finden. Dann war die
Krankheit von neuem über ihn gekommen, und wenig fehlte, so wäre er
eines Tages trotz allem doch noch in Gerbersau erschienen und hätte am
Krankenhaus angeklopft. Aber als er nach tagelangem Alleinsein wieder
die Stadt unten liegen sah, da klang ihm alles fremd und feindlich
entgegen, und es ward ihm klar, daß er nimmer dorthin gehöre. Zuweilen
kaufte er in einem Dorf ein Stück Brot, auch gab es noch Haselnüsse
genug. Die Nächte brachte er in den Blockhütten der Waldarbeiter oder
zwischen Strohbündeln auf dem Felde zu.
Jetzt kam er im dichten Schneetreiben vom Wolfsberg herüber gegen die
Talmühle gegangen, verfallen und todesmüde und dennoch immerzu auf den
Beinen, als müsse er den kleinen Rest seiner Tage noch mächtig ausnützen
und laufen, laufen, allen Waldrändern und Schneisen nach. So krank und
müde er war, seine Augen und seine Nüstern hatten die alte Beweglichkeit
behalten; äugend und schnuppernd wie ein feinfühliger Jagdhund stellte
er auch jetzt noch, da es keine Ziele mehr für ihn gab, jede
Bodensenkung, jeden Windhauch, jede Tierspur fest. Sein Wille war nicht
dabei, und seine Beine gingen von selber.
In seinen Gedanken aber stand er jetzt wieder, wie seit einigen Tagen
fast immerzu, vor dem lieben Gott und sprach unaufhörlich mit ihm.
Furcht hatte er keine; er wußte, daß Gott uns nichts tun kann. Aber sie
sprachen miteinander, Gott und Knulp, über die Zwecklosigkeit seines
Lebens, und wie das hätte anders eingerichtet werden können, und warum
dies und jenes so und nicht anders habe gehen müssen.
»Damals ist es gewesen,« beharrte Knulp immer wieder, »damals, wie ich
vierzehn Jahre alt war und die Franziska mich im Stich gelassen hat. Da
hätte noch alles aus mir werden können. Und dann ist irgend etwas in mir
kaputt gegangen oder verpfuscht worden, und von da an habe ich eben
nichts mehr getaugt. – Ach was, der Fehler ist einfach der gewesen, daß
du mich nicht mit vierzehn Jahren hast sterben lassen! Dann wäre mein
Leben so schön und vollkommen gewesen wie ein reifer Apfel.«
Der liebe Gott aber lächelte immerzu, und manchmal verschwand sein
Gesicht ganz in dem Schneetreiben.
»Na, Knulp,« sagte er ermahnend, »denk einmal an deine
Jungeburschenzeit, und an den Sommer im Odenwald, und an die
Lächstettener Zeiten! Hast du da nicht getanzt wie ein Reh, und hast das
schöne Leben in allen Gelenken zucken gefühlt? Hast du nicht singen
können und Harmonika spielen, daß den Mädchen die Augen übergelaufen
sind? Weißt du noch die Sonntage in Bauerswil? Und deinen ersten Schatz,
die Henriette? Ja, ist denn das alles nichts gewesen?«
Knulp mußte nachdenken, und wie ferne Bergfeuer strahlten ihm die
Freuden seiner Jugend dunkelschön herüber und dufteten schwer und süß
wie Honig und Wein, und klangen tieftönig wie Tauwind in der
Vorfrühlingsnacht. Herrgott, es war schön gewesen, schön die Lust und
schön die Trauer, und es wäre jammerschade um jeden Tag gewesen, der
gefehlt hätte!
»Ach ja, es war schön,« gab er zu, und war doch voll Weinerlichkeit und
Widerspruch wie ein müdes Kind. »Es war ja wunderschön damals. Freilich,
Schuld und Traurigkeit ist auch schon dabei gewesen. Aber es ist wahr,
es sind gute Jahre gewesen, und vielleicht haben nicht viele solche
Becher ausgetrunken und solche Tänze angeführt und solche Liebesnächte
gefeiert, wie ich dazumal. Aber dann, dann hätte es aus sein sollen!
Schon dort war ein Stachel im Glück, ich weiß noch wohl, und dann sind
niemals mehr so gute Zeiten gekommen. Nein, niemals mehr.«
Der liebe Gott war weit im Schneegewehe verschwunden. Nun, da Knulp ein
wenig stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen und ein paar kleine
Blutflecke in den Schnee zu spucken, nun war Gott unversehens wieder da
und gab Antwort.
»Sag einmal, Knulp, bist du nicht ein wenig undankbar? Ich muß lachen,
wie vergeßlich du geworden bist! Wir haben uns an die Zeit erinnert, wo
du der Tanzbodenkönig warst, und an deine Henriette, und du hast zugeben
müssen: es war gut und schön, es hat wohlgetan und einen Sinn gehabt.
Und wenn du so an die Henriette denkst, mein Lieber, mit was für
Gefühlen willst du dann gar an Lisabeth denken? He? Ja, hast du denn die
ganz vergessen können?«
Und wieder stand wie ein fernes Gebirge ein Stück Vergangenheit vor
Knulps Augen, und wenn es nicht ganz so froh und lustig aussah wie das
vorige, so glänzte es dafür viel heimlicher und inniger, wie Frauen
lächeln zwischen Tränen, und es standen Tage und Stunden aus ihren
Gräbern auf, an die er lange nimmer gedacht hatte. Und mitten inne stand
Lisabeth, mit schönen, traurigen Augen, den kleinen Buben auf dem Arm.
»Was für ein schlechter Kerl bin ich gewesen!« fing er wieder zu klagen
an. »Nein, seit die Lisabeth tot ist, hätte ich auch nimmer leben
dürfen.«
Aber Gott ließ ihn nicht weiterreden. Er sah ihn durchdringend aus den
hellen Augen an und fuhr fort: »Hör auf, Knulp! Du hast der Lisabeth
sehr weh getan, das ist nicht anders, aber du weißt wohl, sie hat doch
mehr Zartes und Schönes von dir empfangen als Böses, und sie hat dir
nicht einen Augenblick gezürnt. Siehst du denn immer noch nicht, du
Kindskopf, was der Sinn von dem allen war? Siehst du nicht, daß du
deswegen ein Leichtfuß und ein Vagabund sein mußtest, damit du überall
ein Stück Kindertorheit und Kinderlachen hintragen konntest? Damit
überall die Menschen dich ein wenig lieben und dich ein wenig hänseln
und dir ein wenig dankbar sein mußten?«
»Es ist am Ende wahr,« gab Knulp nach einigem Schweigen halblaut zu.
»Aber das ist alles früher gewesen, da war ich noch jung! Warum hab ich
aus dem allem nichts gelernt und bin kein rechter Mensch geworden? Es
wäre noch Zeit gewesen.«
Es gab eine Pause im Schneefall. Knulp rastete wieder einen Augenblick
und wollte den dicken Schnee von Hut und Kleidern schütteln. Aber er kam
nicht dazu, er war zerstreut und müde, und Gott stand jetzt nahe vor
ihm, seine lichten Augen waren weit offen und strahlten wie die Sonne.
»Nun sei einmal zufrieden,« mahnte Gott, »was soll das Klagen nützen?
Kannst du wirklich nicht sehen, daß alles gut und richtig zugegangen ist
und daß nichts hätte anders sein dürfen? Ja, möchtest du denn jetzt ein
Herr oder ein Handwerksmeister sein und Frau und Kinder haben und am
Abend das Wochenblatt lesen? Würdest du nicht sofort wieder davonlaufen
und im Wald bei den Füchsen schlafen und Vogelfallen stellen und
Eidechsen zähmen?«
Wieder fing Knulp zu gehen an, er schwankte vor Müdigkeit und spürte
doch nichts davon. Es war ihm viel wohler zumute geworden, und er nickte
dankbar zu allem, was Gott ihm sagte.
»Sieh,« sprach Gott, »ich habe dich nicht anders brauchen können, als
wie du bist, und ich habe dir den Stachel der Heimatlosigkeit und
Wanderschaft mitgeben müssen, sonst wärest du irgendwo sitzen geblieben
und hättest mir mein Spiel verdorben. In meinem Namen bist du gewandert
und hast den seßhaften Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach
Freiheit mitbringen müssen. In meinem Namen hast du Dummheiten gemacht
und dich verspotten lassen; ich selber bin in dir verspottet und bin in
dir geliebt worden. Du bist ja mein Kind und mein Bruder und ein Stück
von mir, und du hast nichts gekostet und nichts gelitten, was ich nicht
mit dir erlebt habe.«
»Ja,« sagte Knulp und nickte schwer mit dem Kopf. »Ja, es ist so, ich
habe es eigentlich immer gewußt.«
Er lag ruhend im Schnee, und seine müden Glieder waren ganz leicht
geworden, und seine entzündeten Augen lächelten.
Und als er sie schloß, um ein wenig zu schlafen, hörte er noch immer
Gottes Stimme reden und sah noch immer in seine hellen Augen.
»Also ist nichts mehr zu klagen?« fragte Gottes Stimme.
»Nichts mehr,« nickte Knulp und lachte schüchtern.
»Und alles ist gut? Alles ist, wie es sein soll?«
»Ja,« nickte er, »es ist alles, wie es sein soll.«
Gottes Stimme wurde leiser und tönte bald wie die seiner Mutter, bald
wie Henriettes Stimme, bald wie die gute, sanfte Stimme der Lisabeth.
»Dann bist du daheim,« sagte die Stimme. »Dann bist du daheim und
bleibst bei mir.«
Als Knulp die Augen nochmals auftat, schien die Sonne und blendete so
sehr, daß er schnell die Lider senken mußte. Er spürte den Schnee schwer
auf seinen Händen liegen und wollte ihn abschütteln, aber der Wille zum
Schlaf war schon stärker als jeder andere Wille in ihm geworden.

_Ende_


Werke von Hermann Hesse

Peter Camenzind
Roman. 72. Auflage. Geh. 3 Mark, geb. 4 Mark 50 Pfg.
Hesse gibt die Geschichte eines Bauernbubens, eines harten, muskeligen
Kerls, der aber den versonnenen Träumerkopf des Hermann Hesse auf den
Schultern hat. Und da ist schon die Tragik – so einer findet sich im
Leben nicht zurecht. Draußen nicht, aber drinnen wohl. Wahrhaftige
Firnenreinheit ist über den letzten Kapiteln im Gebirge, da sich alles
klärt und versöhnt.
(Freistatt, München)

Aus Indien
Aufzeichnungen von einer indischen Reise
6. Auflage. Geh. 3 Mark, geb. 4 Mark 50 Pfennig
Hesse hat Indien ganz auf seine Art erlebt, mit jener selben großen,
verinnerlichten Gelassenheit, mit der er in seinen Romanen und Novellen
Menschen und Landschaften seiner süddeutschen Heimat erlebt. Wohin er
uns auch führt, es ist ein berückender Genuß, ihm zu folgen. Alles
Fremde, Exotische führt den Dichter schließlich zu sich selbst zurück.
Damit pflückt er noch einmal eine nach Farbe und Duft exotische Blüte,
und doch ist der Baum, an dem sie gewachsen, ein völlig heimischer; eine
in die feinsten seelischen Gründe tauchende Erzählkunst, wie sie Hesse
mit unsern besten deutschen Meistern verbindet.
(Königsberg. Allgemeine Zeitung)

Umwege
Erzählungen. 10. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark
Hermann Hesse bringt immer Freude, bringt immer Gewinn. Diese höchste
Kunst in der stillsten Schlichtheit seines Wortgefüges, diese innig
beteiligte Herzlichkeit seiner Menschenschilderung, diese ruhig
abwartende Ironie der Darstellung menschlicher Schwächen und Schwänke
sind unvergleichlich. Wie Gottfried Keller in seinen »Seldwylern«, so
hat Hesse in seinen Gerbersauern seine sicherste Meisterschaft erreicht,
seine ganz persönliche Domäne gefunden.
(Berliner Tageblatt)

Roßhalde
Roman. 20. Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark 50 Pfg.
Das Buch beschreibt ein unwiederholbares, bis in die tiefsten und
dunkelsten Gemütsquellen hinein individualisiertes Einzelschicksal.
Zwischen Mann und Frau in einer Künstlerehe ist eine Fremdheit in die
Höhe gewachsen, grundlos, mit der Unüberwindlichkeit alles Elementaren.
Es liegt wie eine dumpfe Last über beiden, die sie nicht heben können,
weil ihr Kind es ihnen unmöglich macht, auseinanderzugehen. Nie hat
Hermann Hesse künstlerisch etwas so Starkes gestaltet, wie die seelische
Spannung dieses Gebundenseins, den schmerzhaften Bann der zwiefachen
Einsamkeit dessen, der zum engsten Zusammenleben mit einem einst nahen
und nun willenlos feindlich fernen Menschen verdammt ist. »Roßhalde« ist
eines der menschlich tiefsten und wahrsten Bücher, die geschrieben sind.
(Die Hilfe)

Diesseits
Erzählungen. 20. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark
Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen,
schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit
weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden
Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses
neuen Novellenband »Diesseits« lesen.
(Neue Zürcher Zeitung)

Nachbarn
Erzählungen. 12. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark
Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf
Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch
zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen
schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese
Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, und
die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei
Dank, daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.
(Württemberger Zeitung, Stuttgart)
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