Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 4

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herrlich aussah, daß ich nicht wußte, ob sie mich noch werde kennen
wollen.
Sie drehte sich ganz herum und sah mir in die Augen. Aber wie sie mir so
ins Auge sieht, mußte ich mich verwundern und schämen, denn es war gar
nicht die, für die ich sie angesprochen hatte, sondern es war die
Lisabeth, meine zweite Liebste, mit der ich lange gegangen war.
›Lisabeth!‹ rief ich also jetzt, und streckte ihr die Hand hin.
Sie sah mich an, das ging bis ins Herz, wie wenn Gott einen anschauen
würde, nicht streng und etwa hochmütig, sondern ganz ruhig und klar,
aber so geistig und überlegen, daß ich mir wie ein Hund vorkam. Und sie
wurde im Anschauen ernst und traurig, dann schüttelte sie den Kopf wie
auf eine vorlaute Frage, nahm auch meine Hand nicht an, sondern ging ins
Haus zurück und zog das Tor still hinter sich zu. Ich hörte noch das
Schloß einschnappen.
Da kehrte ich um und ging fort, und obschon ich vor Tränen und Leidwesen
kaum aus den Augen sah, war es doch merkwürdig, wie die Stadt sich
wieder verwandelt hatte. Es war jetzt nämlich jede Gasse und jedes Haus
und alles genau wie in früherer Zeit und das Unwesen ganz verschwunden.
Die Giebel waren nicht mehr so hoch und hatten die alten Farben, die
Leute waren es wirklich und schauten mich froh und verwundert an, wenn
sie mich wieder kannten, auch riefen manche mich mit meinem Namen an.
Aber ich konnte keine Antwort geben und auch nicht stehen bleiben.
Statt dessen lief ich mit aller Macht den wohlbekannten Weg über die
Brücke und vor die Stadt hinaus und sah alles nur aus nassen Augen vor
Herzweh. Ich wußte nicht warum, mir schien nur, es sei hier für mich
alles verloren und ich müsse in Schande fortlaufen.
Dann, wie ich vor der Stadt draußen unter den Pappeln war und ein wenig
anhalten mußte, fiel mir’s erst ein, daß ich daheim und vor unserem Haus
gewesen sei und an Vater und Mutter, Geschwister und Freunde und alles
mit keinem Gedanken gedacht habe. Es war eine Verwirrung, Kümmernis und
Scham in meinem Herzen wie noch niemals. Aber ich konnte nicht umkehren
und alles gutmachen, denn der Traum war aus, und ich wurde wach.«
* * * * *
Knulp sagte: »Ein jeder Mensch hat seine Seele, die kann er mit keiner
anderen vermischen. Zwei Menschen können zueinander gehen, sie können
miteinander reden und nah beieinander sein. Aber ihre Seelen sind wie
Blumen, jede an ihrem Ort angewurzelt, und keine kann zu der andern
kommen, sonst müßte sie ihre Wurzel verlassen, und das kann sie eben
nicht. Die Blumen schicken ihren Duft und ihren Samen aus, weil sie
gern zueinander möchten; aber daß ein Same an seine rechte Stelle kommt,
dazu kann die Blume nichts tun, das tut der Wind, und der kommt her und
geht hin, wie und wo er will.«
Und später: »Der Traum, den ich dir erzählt habe, hat vielleicht die
gleiche Bedeutung. Ich habe weder der Henriette mit Wissen unrecht getan
noch der Lisabeth. Aber durch das, daß ich beide einmal liebgehabt und
zu eigen habe nehmen wollen, sind sie für mich zu einer solchen
Traumgestalt geworden, die beiden ähnlich sieht und doch keine ist. Die
Gestalt gehört mir eigen, aber sie ist nichts Lebendiges mehr. So habe
ich auch oft über meine Eltern nachdenken müssen. Die meinen, ich sei
ihr Kind und ich sei wie sie. Aber wenn ich sie auch lieben muß, bin ich
doch ihnen ein fremder Mensch, den sie nicht verstehen können. Und das,
was die Hauptsache an mir und vielleicht gerade meine Seele ist, das
finden sie nebensächlich und schreiben es meiner Jugend oder Laune zu.
Dabei haben sie mich gern und täten mir gern alles Liebe. Ein Vater kann
seinem Kind die Nase und die Augen und sogar den Verstand zum Erbe
mitgeben, aber nicht die Seele. Die ist in jedem Menschen neu.«
Ich hatte nichts dazu zu sagen, da ich diese Gedankenwege damals noch
nicht, wenigstens nicht aus eigenem Bedürfnis, gegangen war. Mir war bei
diesem Spintisieren eigentlich recht wohl zumute, da es mir nicht bis
ans Herz ging und ich deshalb vermutete, es werde auch für Knulp mehr
ein Spiel als ein Kampf sein. Außerdem war es friedsam schön, da zu
zweien im trockenen Gras zu liegen, auf die Nacht und den Schlaf zu
warten und die frühen Sterne zu betrachten.
Ich sagte: »Knulp, du bist ein Denker. Du hättest sollen Professor
werden.«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Viel eher könnt es sein, daß ich noch einmal zur Heilsarmee ginge,«
meinte er dann nachdenklich.
Das war mir zu viel. »Du,« sagte ich, »spiel mir doch nichts vor! Willst
du nicht auch noch ein Heiliger werden?«
»Doch, das will ich auch. Jeder Mensch ist heilig, wenn es ihm mit
seinen Gedanken und Taten wirklich Ernst ist. Wenn man etwas für recht
hält, muß man es tun. Und wenn ich es einmal für das richtige halte, daß
ich zur Heilsarmee gehe, dann werde ich’s hoffentlich auch tun.«
»Immer die Heilsarmee!«
»Jawohl. Ich will dir sagen, warum. Ich habe schon mit vielen Leuten
gesprochen und auch viele Reden halten hören. Ich habe Pfarrer und
Lehrer und Bürgermeister und Sozialdemokraten und Liberale reden hören;
aber es war keiner dabei, dem es ganz bis ins Herz hinein Ernst war und
dem ich zugetraut hätte, daß er im Notfall für seine Weisheit sich
selber geopfert hätte. Bei der Heilsarmee aber, mit allem Musikmachen
und Radau, hab ich schon drei-, viermal Leute gesehen und gehört, denen
ist es Ernst gewesen.«
»Woher weißt du das denn?«
»Das sieht man schon. Der eine zum Beispiel, der hat in einem Dorf eine
Rede gehalten, am Sonntag, im Freien bei einem Staub und einer Hitze,
daß er bald ganz heiser war. Kräftig hat er ohnedas nicht ausgesehen.
Wenn er kein Wort mehr herausbrachte, ließ er seine drei Kameraden einen
Vers singen und nahm derweil einen Schluck Wasser. Das halbe Dorf ist um
ihn herumgestanden, Kinder und Große, und haben ihn für Narren gehabt
und kritisiert. Hinten stand ein junger Knecht, der hatte eine Peitsche
und ließ von Zeit zu Zeit einen Mordsknaller los, um den Redner recht zu
ärgern, und dann lachten jedesmal alle. Aber der arme Kerl ist nicht bös
geworden, obwohl er gar nicht dumm war, sondern hat sich mit seinem
Stimmlein in dem Spektakel durchgefochten und hat gelächelt, wo ein
andrer geheult oder geflucht hätte. Weißt du, das tut einer nicht um
einen Hungerlohn und um des Vergnügens willen, sondern er muß eine große
Helligkeit und Gewißheit in sich haben.«
»Meinetwegen. Aber eins paßt nicht für alle. Und wer ein feiner und
empfindsamer Mensch ist wie du, der tut bei dem Spektakel nicht mit.«
»Vielleicht doch. Wenn er etwas weiß und hat, was noch viel besser ist
als die ganze Feinheit und Empfindsamkeit. Es paßt freilich nicht eins
für alle, aber die Wahrheit, die muß für alle passen.«
»Ach Wahrheit! Woher weiß man, ob gerade die mit ihrem Halleluja die
Wahrheit haben.«
»Das weiß man nicht, ganz richtig. Aber ich sage ja nur: Wenn ich einmal
finde, daß das die Wahrheit ist, dann will ich ihr auch folgen.«
»Ja wenn! Aber du findest ja jeden Tag eine Weisheit, und morgen läßt du
sie nimmer gelten.«
Er sah mich betroffen an.
»Da hast du etwas Schlimmes gesagt.«
Ich wollte mich entschuldigen, doch wehrte er ab und blieb still. Bald
sagte er leise gut Nacht und legte sich ruhig hin, aber ich glaube
nicht, daß er schon schlief. Auch ich war noch zu lebhaft und lag noch
weit über eine Stunde lang mit aufgestützten Ellbogen da und schaute in
das nächtliche Land hinein.
* * * * *
Am Morgen sah ich gleich, daß Knulp heute seinen guten Tag habe. Ich
sagte ihm das, und er strahlte mich mit seinen kinderhaften Augen an und
sagte: »Richtig geraten. Und weißt du auch, wo es herkommt, wenn einer
so einen guten Tag hat?«
»Nein, woher?«
»Es kommt davon, daß man nachts gut geschlafen und recht viel Schönes
geträumt hat. Aber man darf es nimmer wissen. So geht mir’s heute. Ich
habe lauter Pracht und Lustbarkeit zusammengeträumt, aber alles
vergessen; ich weiß nur noch, daß es herrlich schön gewesen ist.«
Und noch eh wir das nächste Dorf erreicht und eine Morgenmilch im Leibe
hatten, sang er schon mit seiner warmen, leichten, mühelosen Stimme
drei, vier nagelneue Lieder in die nüchterne Frühe hinein.
Aufgeschrieben und abgedruckt würden diese Lieder vielleicht recht wenig
vorstellen. Aber wenn Knulp kein großer Dichter war, so war er doch ein
kleiner, und während er sie selber sang, sahen seine Liedchen den
schönsten anderen oft ähnlich wie hübsche Geschwister. Und einzelne
Stellen und Verse, die ich behalten habe, sind wahrhaft schön und mir
noch immer wert. Es ist nichts davon aufgeschrieben worden, und seine
Verse kamen, lebten und starben harmlos und verantwortungslos, wie die
Lüfte wehen, aber sie haben nicht nur mir und ihm, sondern vielen
anderen, Kindern und Alten, manche Viertelstunde schön und lieb gemacht.
Hell und sonntagsangetan
Wie ein Fräulein aus dem Tor,
Kommt sie rot und aber stolz
Überm Tannenwald hervor –
so sang er an jenem Tage von der Sonne, die in seinen Liedern fast immer
vorkam und gepriesen wurde. Und sonderbar, so wenig er im Gespräch das
Spekulieren lassen konnte, so unbefangen waren seine Verslein, die wie
saubere Kinder in hellen Sommerkleidern dahinsprangen. Oft waren sie
auch sinnlos drollig und dienten nur dazu, den vorhandenen Übermut
entströmen zu lassen.
Den damaligen Tag wurde ich ganz von seiner Laune angesteckt. Wir
begrüßten und neckten alle Leute, die uns begegneten, so daß hinter uns
her bald gelacht, bald geschimpft wurde, und der ganze Tag verging uns
wie eine Festlichkeit. Wir erzählten einander Streiche und Witze aus der
Schulzeit, hingen den vorübergehenden Bauern und oft auch ihren Rossen
und Ochsen Spitznamen an, aßen uns an einem verborgenen Gartenzaun an
gestohlenen Stachelbeeren satt und schonten unsere Kräfte und
Stiefelsohlen, indem wir beinahe jede Stunde eine Rast hielten.
Mir schien, seit meiner noch jungen Bekanntschaft mit Knulp hätte ich
ihn noch nie so fein und lieb und unterhaltsam gefunden, und ich freute
mich darauf, daß von heute an das eigentliche Zusammenleben und Wandern
und Lustigsein erst anheben sollte.
Der Mittag wurde schwül, und wir lagen mehr im Grase als wir
marschierten, und gegen den Abend hin zog sich Gewitterdunst und drange
Luft zusammen, so daß wir beschlossen, für die Nacht ein Dach zu suchen.
Knulp wurde nun allmählich stiller und ein wenig müde, doch merkte ich
es kaum, denn er lachte noch immer herzlich mit und stimmte oft in
meinen Gesang ein, und ich selber ward noch ausgelassener und fühlte ein
Freudenfeuer um das andere in mir angehen. Vielleicht war es bei Knulp
umgekehrt, daß in ihm die festlichen Lichter schon zu verglimmen
begannen. Mir ist es damals immer so gegangen, daß ich an frohen Tagen
gegen die Nacht hin immer lebhafter wurde und kein Ende finden konnte,
ja, oft trieb ich mich nach einer Lustbarkeit nachts noch ganze Stunden
allein herum, wenn die andern längst ermüdet waren und schliefen.
Dieses abendliche Freudenfieber befiel mich auch damals, und ich freute
mich, als wir talwärts gegen ein stattliches Dorf kamen, auf eine
lustige Nacht. Vorerst bestimmten wir eine abseits stehende, leicht
zugängliche Scheuer zu unserer Nachtherberge, dann zogen wir in das Dorf
ein und in einen schönen Wirtsgarten, denn ich hatte meinen Freund für
heute als meinen Gast geladen und dachte einen Eierkuchen und ein paar
Flaschen Bier zu spendieren, weil es doch ein Freudentag war.
Knulp hatte die Einladung auch willig angenommen. Doch als wir unter
einem schönen Platanenbaum an unsrem Gartentisch Platz nahmen, sagte er
halb verlegen: »Du, wir wollen aber keine Trinkerei anfangen, gelt? Eine
Flasche Bier trink ich gern, das tut gut und ist mir ein Vergnügen, aber
mehr mag ich kaum vertragen.«
Ich ließ es gut sein und dachte: Wir werden schon zu so viel oder wenig
kommen, als uns Freude macht. Wir aßen den heißen Eierkuchen und ein
kräftig frisches, braunes Roggenbrot dazu, und allerdings ließ ich mir
bald eine zweite Flasche Bier bringen, während Knulp seine erste noch
halbvoll hatte. Mir war, da ich wieder üppig und herrschaftlich an einem
guten Tische saß, herzlich wohl zumut, und ich dachte das heute abend
noch eine Weile zu genießen.
Als Knulp mit seinem Bier zu Ende war, nahm er trotz meiner Bitten keine
zweite an und schlug mir vor, jetzt noch ein wenig durchs Dorf zu
schlendern und dann zeitig schlafen zu gehen. Das war nun gar nicht
meine Absicht, doch mochte ich nicht geradezu widersprechen. Und da
meine Flasche noch nicht leer war, hatte ich auch nichts dagegen, daß er
einstweilen vorausging, wir würden uns nachher schon wieder treffen.
Er ging denn auch. Ich sah ihm nach, wie er mit seinem bequemen,
genießenden Feierabendschritt, eine Sternblume hinterm Ohr, die paar
Treppen hinab auf die breite Gasse und langsam dorfeinwärts bummelte.
Und wenn es mir auch leid tat, daß er nicht noch eine Flasche mit mir
leeren wollte, dachte ich im Nachschauen doch froh und zärtlich: Du
lieber Kerl!
Inzwischen nahm die Schwüle, trotzdem die Sonne schon verschwunden war,
noch immer zu. Ich hatte das gern, bei solchem Wetter in Ruhe bei einem
frischen Abendtrunk zu sitzen, und richtete mich an meinem Tische noch
auf einiges Bleiben ein. Da ich beinahe der einzige Gast war, fand die
Kellnerin reichlich Zeit, mit mir ein Gespräch zu pflegen. Ich ließ mir
von ihr auch noch zwei Zigarren bringen, von denen ich eine anfänglich
für Knulp bestimmte, doch rauchte ich sie nachher in der Vergeßlichkeit
selber noch.
Einmal, etwa nach einer Stunde, kam Knulp wieder und wollte mich
abholen. Ich war jedoch seßhaft geworden, und da er müde war und Schlaf
hatte, wurden wir einig, daß er an unsere Schlafstätte gehen und sich
hinlegen sollte. So ging er denn. Die Kellnerin aber fing sofort an,
mich nach ihm auszufragen, denn er stach allen Mädchen in die Augen. Ich
hatte nichts dagegen, er war ja mein Freund und sie nicht mein Schatz,
und ich pries ihn sogar noch mächtig, denn mir war wohl und ich meinte
es mit jedermann gut.
Es fing zu donnern und leis im Platanenbaum zu winden an, als ich
endlich spät aufbrach. Ich zahlte, schenkte dem Mädchen einen Zehner und
machte mich ohne Eile auf den Weg. Im Gehen spürte ich wohl, daß ich
eine Flasche zu viel getrunken hatte, denn ich hatte die letzte Zeit
ganz ohne starkes Getränk gelebt. Doch machte mich das nur vergnügt,
denn ich konnte schon etwas vertragen, und ich sang noch den ganzen Weg
vor mich hin, bis ich unser Quartier wiederfand. Da stieg ich leise
hinein und fand richtig den Knulp im Schlaf liegen. Ich sah ihn an, wie
er hemdärmlig auf seiner ausgebreiteten braunen Jacke lag und
gleichmäßig atmete. Seine Stirn und der bloße Hals und die eine Hand,
die er von sich weggestreckt hielt, gaben in dem trüben Halbdunkel einen
bleichen Schein.
Dann legte ich mich in den Kleidern nieder, doch machte die Erregung und
der eingenommene Kopf mich immer wieder wach, und es wurde draußen schon
Zwielicht, als ich endlich fest und tief und dumpf einschlief. Es war
ein fester, doch kein guter Schlaf, ich war schwer und matt geworden und
hatte undeutliche, plagende Träume.
Am Morgen erwachte ich erst spät, es war schon voller Tag, und das helle
Licht tat mir in den Augen weh. Mein Kopf war leer und trüb und die
Glieder müde. Ich gähnte lange, rieb mir die Augen und streckte die
Arme, daß die Gelenke knackten. Aber trotz der Müdigkeit hatte ich noch
einen Rest und Nachklang von der gestrigen Laune in mir und dachte den
kleinen Jammer am nächsten klaren Brunnen von mir zu spülen.
Es kam jedoch anders. Als ich mich umsah, war Knulp nicht vorhanden.
Ich rief und pfiff nach ihm und war im Anfang noch ganz arglos. Als
jedoch Rufen, Pfeifen und Suchen vergeblich blieb, kam mir plötzlich die
Erkenntnis, daß er mich verlassen habe. Ja, er war fort, heimlich
fortgegangen, er hatte nicht länger bei mir bleiben mögen. Vielleicht
weil ihm mein gestriges Trinken zuwider war, vielleicht weil er sich
heute seiner eigenen gestrigen Ausgelassenheit schämte, vielleicht nur
aus einer Laune, vielleicht aus Zweifel an meiner Gesellschaft oder aus
einem plötzlich erwachten Bedürfnis nach Einsamkeit. Aber wahrscheinlich
war doch mein Trinken daran schuld.
Die Freude wich von mir, Scham und Trauer erfüllten mich ganz. Wo war
jetzt mein Freund? Ich hatte, seinen Reden zum Trotz, gemeint, seine
Seele ein wenig zu verstehen und teil an ihm zu haben. Nun war er fort,
ich stand allein und enttäuscht, mußte mich mehr als ihn anklagen und
hatte nun die Einsamkeit, in welcher nach Knulps Ansicht jeder lebt und
an die ich nie ganz hatte glauben mögen, selber zu kosten. Sie war
bitter, nicht nur an jenem ersten Tag, und sie ist inzwischen wohl
manches Mal lichter geworden, aber völlig will sie mich seither nimmer
verlassen.


Das Ende

Es war ein heller Tag im Oktober; die leichte, durchsonnte Luft wurde
von launigen kurzen Windzügen bewegt, aus Feldern und Gärten zog in
dünnen, zögernden Bändern der hellblaue Rauch von Herbstfeuern und
erfüllte die lichte Landschaft mit einem scharfsüßen Geruch von
verbranntem Kraut und Grünholz. In den Dorfgärten blühten sattfarbige
Buschastern, späte bläßliche Rosen und Georginen, und an den Zäunen
brannte noch hier und dort eine feurige Kapuzinerblüte aus dem schon
matt und weißlich schimmernden Gekräut.
Auf der Landstraße nach Bulach fuhr langsam der Einspänner des Doktors
Machold. Der Weg ging sachte bergan, links abgemähte Äcker und
Kartoffelfelder, in denen noch geerntet wurde, rechts junger enger
Fichtenwald halb erstickt, eine braune Wand von dichtgedrängten Stangen
und dürren Zweigen, der Boden gleichfarbig trockenbraun voll dick
gelagerter welker Nadeln. Geradeaus führte die Straße einfach in den
zartblauen Herbsthimmel hinein, als habe da oben die Welt ein Ende.
Der Doktor hielt die Zügel lose in den Händen und ließ das alte
Pferdchen gehen, wie es wollte. Er kam von einer sterbenden Frau, der
nicht mehr zu helfen war und die doch zäh ums Leben gekämpft hatte bis
zur letzten Stunde. Nun war er müde und genoß die stille Fahrt durch den
freundlichen Tag; seine Gedanken waren eingeschlafen und folgten leicht
betäubt und willenlos den Zurufen, die aus dem Geruch der Feldfeuerchen
aufstiegen, angenehme, verschwommene Erinnerungen an Herbstferientage
der Schülerzeit und weiter zurück in klangvolle, gestaltlose
Kindheitsdämmerung. Denn er war auf dem Lande aufgewachsen, und seine
Sinne folgten erfahren und willig allen ländlichen Zeichen der
Jahreszeiten und ihrer Geschäfte.
Er war nahe am Einschlafen, da weckte ihn das Stehenbleiben des Wagens.
Eine Wasserrinne lief quer über die Straße, darin fanden die Vorderräder
einen Halt, und das Roß blieb dankbar stehen, senkte den Kopf und genoß
wartend die Rast.
Machold ermunterte sich über dem plötzlichen Verstummen der Räder, nahm
die Zügel zusammen, sah lächelnd nach verdämmerten Minuten Wald und
Himmel wie zuvor in sonniger Klarheit stehen und trieb den Gaul mit
vertraulichem Zungenschnalzen zum Weitersteigen an. Darauf setzte er
sich aufrecht, er liebte es nicht am Tage zu schlummern, und steckte
sich eine Zigarre an. Die Fahrt ging im langsamen Schritt weiter, zwei
Weiber grüßten vom Felde, in Schattenhüten hinter einer langen Front von
gefüllten Kartoffelsäcken hervor.
Die Höhe war jetzt nahe, und das Pferdchen hob den Kopf, ermuntert und
voll Erwartung, nächstens den langen Sattel des heimatlichen Hügels
hinabzutraben. Da erschien im nahen lichten Horizont von drüben her ein
Mensch, ein Wanderer, stand einen Augenblick vom Blau umlodert frei und
hoch, stieg nieder und wurde grau und klein. Er kam näher, ein magerer
Mann mit kleinem Bart in schlechten Kleidern, sichtlich auf der
Landstraße daheim, er ging müde und mühevoll, aber er zog den Hut mit
stiller Artigkeit und sagte: Grüß Gott.
»Grüß Gott,« sagte der Doktor Machold und sah dem Fremden nach, der
schon vorüber war, und plötzlich hielt er den Gaul an, wandte sich
stehend über das knarrende Lederdach zurück und rief: »Heda, Sie! Kommen
Sie einmal her!«
Der staubige Wanderer blieb stehen und sah zurück. Er lächelte schwach
herüber, wandte sich wieder ab und schien weitergehen zu wollen, dann
besann er sich dennoch und kehrte gehorsam um.
Jetzt stand er neben dem niederen Wagen und hatte den Hut in der Hand.
»Wohinaus, wenn man fragen darf?« rief Machold.
»Der Straße nach, gegen Berchtoldsegg.«
»Kennen wir einander nicht? Ich kann bloß nicht auf den Namen kommen.
Sie wissen doch, wer ich bin?«
»Sie sind der Doktor Machold, will mir scheinen.«
»Na also? Und Sie? Wie heißen Sie?«
»Der Herr Doktor wird mich schon kennen. Wir sind einmal nebeneinander
beim Präzeptor Plocher gesessen, Herr Doktor, und Sie haben damals die
lateinischen Präparationen von mir abgeschrieben.«
Machold war schnell ausgestiegen und sah dem Mann in die Augen. Dann
klopfte er ihm auflachend auf die Schulter.
»Stimmt!« sagte er. »Dann bist du also der berühmte Knulp, und wir sind
Schulkameraden. So laß dir doch die Hand schütteln, alter Kerl! Wir
haben uns sicher zehn Jahre nimmer gesehen. Immer noch auf der
Wanderschaft?«
»Immer noch. Man bleibt gern beim Gewohnten, wenn man älter wird.«
»Da hast du recht. Und wohin geht die Reise? Wieder einmal der Heimat
zu?«
»Richtig geraten. Ich will nach Gerbersau, ich habe eine Kleinigkeit
dort zu tun.«
»So, so. Lebt denn noch jemand von deinen Leuten?«
»Niemand mehr.«
»Gerade jugendlich schaust du nimmer aus, Knulp. Wir sind doch erst
Vierziger, wir zwei. Und daß du so einfach an mir vorbei hast laufen
wollen, ist nicht recht von dir. – Weißt du, mir scheint, du könntest
vielleicht einen Doktor brauchen.«
»Ach was. Mir fehlt weiter nichts, und was mir fehlt, das kann doch kein
Doktor kurieren.«
»Das wird sich ja zeigen. Jetzt steig einmal ein und komm mit mir, dann
können wir besser reden.«
Knulp trat ein wenig zurück und setzte den Hut wieder auf. Mit
verlegenem Gesicht wehrte er sich, als der Doktor ihm in den Wagen
helfen wollte.
»Ach, wegen dessen, das wäre nicht nötig. Das Rößlein rennt dir nicht
fort, solang wir dastehen.
Indessen faßte ihn ein Anfall von Husten, und der Arzt, der schon
Bescheid wußte, packte ihn kurzerhand und setzte ihn in das Gefährt.
»So,« sagte er im Weiterfahren, »gleich sind wir droben, und dann geht’s
Trab, in einer halben Stunde sind wir daheim. Du brauchst keine
Unterhaltung zu machen, mit deinem Husten, wir können dann daheim weiter
reden. –– Was? –– Nein, das hilft dir jetzt nichts mehr, kranke Leute
gehören ins Bett und nicht auf die Landstraße. Weißt du, damals im
Latein hast du mir oft genug geholfen, jetzt bin ich einmal an der
Reihe.«
Sie fuhren über den Höhenrücken und mit pfeifender Bremse den langen
Sattel hinab; gegenüber sah man schon die Dächer von Bulach über den
Obstbäumen. Machold hielt die Zügel kurz und paßte auf den Weg, und
Knulp ergab sich müde in halbem Behagen dem Genuß des Fahrens und der
gewaltsamen Gastfreundschaft. Morgen, dachte er, oder spätestens
übermorgen walze ich weiter nach Gerbersau, wenn die Knochen noch
zusammenhalten. Er war kein Springinsfeld mehr, der die Tage und Jahre
verschwendete. Er war ein kranker, alter Mann, der keinen Wunsch mehr
hatte, als vor dem Ende noch einmal die Heimat zu sehen.
In Bulach nahm ihn sein Freund zuerst in die Wohnstube und gab ihm Milch
zu trinken und Brot mit Schinken zu essen. Dabei plauderten sie und
fanden langsam die Vertrautheit wieder. Dann erst nahm ihn der Arzt ins
Verhör, das der Kranke gutmütig und etwas spöttisch über sich ergehen
ließ.
»Weißt du eigentlich, was dir fehlt?« fragte Machold am Ende seiner
Untersuchung. Er sagte es leicht und ohne Wichtigkeit, und Knulp war ihm
dafür dankbar.
»Ja, ich weiß schon, Machold. Es ist die Auszehrung, und ich weiß auch,
daß es nimmer lang gehen kann.«
»Na, wer weiß! Aber dann mußt du also auch einsehen, daß du in ein Bett
und in eine Pflege gehörst. Einstweilen kannst du ja hier bei mir
bleiben, ich sorge inzwischen für einen Platz im nächsten Spital. Es
spukt bei dir, mein Lieber, und du mußt dich zusammennehmen, daß du’s
noch einmal durchhaust.«
Knulp zog seinen Rock wieder an. Er wandte sein hageres und graues
Gesicht mit einem Ausdruck von Schelmerei dem Doktor zu und sagte
gutmütig: »Du machst dir viele Mühe, Machold. Also meinetwegen. Aber von
mir darfst du nimmer viel erwarten.«
»Wir werden ja sehen. Jetzt setzest du dich in die Sonne, so lang sie
noch in den Garten scheint. Die Lina macht dir das Gastbett zurecht. Wir
müssen dir auf die Finger sehen, Knülplein. Daß so ein Mensch, der sein
ganzes Leben in der Sonne und Luft zugebracht hat, sich dabei
ausgerechnet die Lungen kaputt macht, ist eigentlich nicht in der
Ordnung.«
Damit ging er weg.
Die Haushälterin Lina war nicht erfreut und wehrte sich dagegen, so
einen Landstreicher ins Gastzimmer zu lassen. Aber der Doktor schnitt
ihr das Wort ab.
»Lassen Sie gut sein, Lina. Der Mann hat nimmer lang zu leben, er muß es
bei uns noch ein bißchen gut haben. Sauber ist er übrigens immer
gewesen, und eh er zu Bett geht, stecken wir ihn ins Bad. Tun Sie ihm
eins von meinen Nachthemden heraus und vielleicht meine
Winterpantoffeln. Und vergessen Sie nicht: Der Mann ist ein Freund von
mir.«
* * * * *
Knulp hatte elf Stunden geschlafen und den nebligen Morgen im Bett
verdämmert, wo er sich erst allmählich darauf besinnen konnte, bei wem
er sei. Als die Sonne herausgekommen war, hatte Machold ihm das
Aufstehen erlaubt, und nun saßen sie beide nach Tisch bei einem Glas
Rotwein auf der sonnigen Altane. Knulp war vom guten Essen und von
seinem halben Glas Wein munter und gesprächig geworden, und der Doktor
hatte sich für eine Stunde frei gemacht, um noch einmal mit dem
seltsamen Schulkameraden zu plaudern und vielleicht etwas über dieses
nicht gewöhnliche Menschenleben zu erfahren.
»Du bist also zufrieden mit dem Leben, das du gehabt hast?« sagte er
lächelnd. »Dann ist ja alles gut. Sonst hätte ich aber doch gesagt, es
ist eigentlich schad um so einen Kerl wie dich. Du hättest ja kein
Pfarrer oder Lehrer zu werden brauchen, vielleicht aber wäre ein
Naturforscher oder auch etwa ein Dichter aus dir geworden. Ich weiß
nicht, ob du deine Gaben benutzt und weiter gebildet hast, aber du hast
sie für dich allein verbraucht. Oder nicht?«
Knulp stützte das Kinn mit dem dünnen Bärtchen in die hohle Hand und sah
auf die roten Lichter, die hinterm Weinglas auf dem besonnten Tischtuch
spielten.
»Es stimmt nicht ganz,« sagte er langsam. »Die Gaben, wie du es nennst,
damit ist es nicht so weit her. Ich kann ein bißchen kunstpfeifen, auch
Handorgel spielen und manchmal Verslein machen, früher bin ich auch ein
guter Läufer gewesen und habe nicht schlecht getanzt. Das ist alles. Und
daran habe ich ja nicht allein Freude gehabt, es waren meistens
Kameraden dabei, oder junge Mädel oder Kinder, die haben ihren Spaß
daran gehabt und sind mir manchmal dafür dankbar gewesen. Wir wollen es
gut sein lassen und damit zufrieden sein.«
»Ja,« sagte der Doktor, »das wollen wir. Aber eins muß ich dich noch
fragen. Du bist damals bis in die fünfte Klasse mit mir in die
Lateinschule gegangen, ich weiß es noch genau, und bist ein guter
Schüler gewesen, wenn auch kein Musterbub. Und dann auf einmal warst du
weg, und es hieß, du gehest jetzt in die Volksschule, und da waren wir
auseinander, ich durfte ja als Lateiner nicht mit einem Freund sein, der
in die Volksschule ging. Wie ist nun das zugegangen? Später, wenn ich
von dir hörte, habe ich immer gedacht: Wenn er damals bei uns in der
Schule geblieben wäre, hätte alles anders kommen müssen. Also, wie war’s
damit? War es dir verleidet, oder hat dein Alter das Schulgeld nimmer
zahlen mögen, oder was sonst?«
Der Kranke nahm sein Glas in die braune, magere Hand, doch trank er
nicht, er blickte nur durch den Wein gegen das grüne Gartenlicht und
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