Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 2

Total number of words is 4532
Total number of unique words is 1497
41.7 of words are in the 2000 most common words
54.3 of words are in the 5000 most common words
60.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
»O, das tät’ ich auch am liebsten.«
»Ich glaub’s. Sie haben gewiß einen schönen.« Sie lachte wieder
zudringlich. »Vielleicht sogar mehr als einen?«
»Ei, das wäre nicht schön,« tadelte Knulp munter. »Ich kann Ihnen auch
ein Bild von ihr zeigen.«
Begierig trat sie heran, während er sein Wachstuchmäpplein aus der
Brusttasche zog und das Bildnis der Duse hervorsuchte. Interessiert
betrachtete sie das Blatt.
»Die ist sehr fein,« begann sie vorsichtig zu loben, »das ist ja fast
eine rechte Dame. Nur freilich, mager sieht sie aus. Ist sie denn auch
gesund?«
»Soviel ich weiß, jawohl. So, und jetzt wollen wir nach dem Alten sehen,
man hört ihn in der Stube.«
Er ging hinüber und begrüßte den Gerber. Die Wohnstube war gefegt und
sah mit dem hellen Getäfel, mit der Uhr, dem Spiegel und den
Photographien an der Wand freundlich und heimelig aus. So eine saubere
Stube, dachte Knulp, ist im Winter nicht übel, aber darum zu heiraten,
verlohnt doch nicht recht. Er hatte an dem Wohlgefallen, das die
Meisterin ihm zeigte, keine Freude.
Nachdem der Milchkaffee getrunken war, begleitete er den Meister Rothfuß
nach dem Hof und Schuppen und ließ sich die ganze Gerberei zeigen. Er
kannte fast alle Handwerke und stellte so sachverständige Fragen, daß
sein Freund ganz erstaunt war.
»Woher weißt du denn das alles?« fragte er lebhaft. »Man könnte meinen,
du seiest wirklich ein Gerbergesell oder einmal einer gewesen.«
»Man lernt allerlei, wenn man reist,« sagte Knulp gemessen. »Übrigens,
was die Weißgerberei angeht, da bist du selber mein Lehrmeister gewesen,
weißt du’s nimmer? Vor sechs oder sieben Jahren, wie wir zusammen
gewandert sind, hast du mir das alles erzählen müssen.«
»Und das weißt du alles noch?«
»Ein Stück davon, Rothfuß. Aber jetzt will ich dich nimmer stören.
Schade, ich hätte dir gern ein bißchen geholfen, aber es ist da unten so
feucht und stickig, und ich muß noch so viel husten. Also Servus, Alter,
ich geh ein wenig in die Stadt, solang es gerade nicht regnet.«
Als er das Haus verließ und langsam die Gerbergasse stadteinwärts
bummelte, den braunen Filzhut etwas nach hinten gerückt, trat Rothfuß in
die Tür und sah ihm nach, wie er leicht und genießerisch dahinging,
überall sauber gebürstet und den Regenpfützen sorglich ausweichend.
»Gut hat er’s eigentlich,« dachte der Meister mit einem kleinen
Neidgefühl. Und während er zu seinen Gruben ging, dachte er dem Freund
und Sonderling nach, der nichts vom Leben begehrte als das Zuschauen,
und er wußte nicht, sollte er das anspruchsvoll oder bescheiden heißen.
Einer, der arbeitete und sich vorwärts schaffte, hatte es ja in vielem
besser, aber er konnte nie so zarte hübsche Hände haben und so leicht
und schlank einhergehen. Nein, der Knulp hatte recht, wenn er so tat,
wie sein Wesen es brauchte und wie es ihm nicht viele nachtun konnten,
wenn er wie ein Kind alle Leute ansprach und für sich gewann, allen
Mädchen und Frauen hübsche Sachen sagte, und jeden Tag für einen Sonntag
nahm. Man mußte ihn laufen lassen, wie er war, und wenn es ihm schlecht
ging und er einen Unterschlupf brauchte, so war es ein Vergnügen und
eine Ehre, ihn aufzunehmen, und man mußte fast noch dankbar dafür sein,
denn er machte es froh und hell im Haus.
Indessen schritt sein Gast neugierig und vergnügt durchs Städtchen,
pfiff einen Soldatenmarsch durch die Zähne und begann ohne Eile die Orte
und Menschen aufzusuchen, die er von früher her kannte. Zunächst wandte
er sich nach der steil ansteigenden Vorstadt, wo er einen armen
Flickschneider kannte, um den es schade war, daß er nichts als alte
Hosen zu stopfen und kaum jemals einen neuen Anzug zu machen bekam, denn
er konnte etwas und hatte einmal Hoffnungen gehabt und in guten
Werkstätten gearbeitet. Aber er hatte früh geheiratet und schon ein paar
Kinder, und die Frau hatte wenig Genie fürs Hauswesen.
Diesen Schneider Schlotterbeck suchte und fand Knulp im dritten
Stockwerk eines Hinterhauses in der Vorstadt. Die kleine Werkstätte hing
wie ein Vogelnest in den Lüften überm Bodenlosen, denn das Haus stand an
der Talseite, und wenn man durch die Fenster senkrecht hinabschaute,
hatte man nicht nur die drei Stockwerke unter sich, sondern unterm Hause
floh der Berg mit kümmerlichen steilen Gärten und Grashalden schwindelnd
abwärts, endigend in einem grauen Wirrwarr von Hinterhausvorsprüngen,
Hühnerhöfen, Ziegen- und Kaninchenställen, und die nächsten Hausdächer,
auf die man hinabsah, lagen jenseits dieses verwahrlosten Geländes schon
tief und klein im Tale drunten. Dafür war die Schneiderwerkstatt taghell
und luftig, und auf seinem breiten Tisch am Fenster hockte der fleißige
Schlotterbeck hell und hoch über der Welt wie der Wächter in einem
Leuchtturm.
»Servus, Schlotterbeck,« sagte Knulp im Eintreten, und der Meister, vom
Licht geblendet, spähte mit eingekniffenen Augen nach der Türe.
»Oha, der Knulp!« rief er aufleuchtend und streckte ihm die Hand
entgegen. »Auch wieder im Land? Und wo fehlt’s denn, daß du zu mir
herauf steigst?«
Knulp zog einen dreibeinigen Stuhl heran und setzte sich nieder.
»Gib eine Nadel her und ein bißchen Faden, aber braunen und vom
feinsten, ich will Musterung halten.«
Damit zog er Rock und Weste aus, suchte sich einen Zwirn heraus, fädelte
ein und überging mit wachsamen Augen seinen ganzen Anzug, der noch sehr
gut und fast neu aussah und an dem er jede blöde Stelle, jede lockere
Litze, jeden halbwegs losen Knopf alsbald mit fleißigen Fingern wieder
instand setzte.
»Und wie geht’s sonst?« fragte Schlotterbeck. »Die Jahreszeit ist nicht
zu loben. Aber schließlich, wenn man gesund ist und keine Familie hat –«
Knulp räusperte sich polemisch.
»Ja, ja,« sagte er lässig. »Der Herr läßt regnen über Gerechte und
Ungerechte, und nur die Schneider sitzen trocken. Hast du immer noch zu
klagen, Schlotterbeck?«
»Ach, Knulp, ich will nichts sagen. Du hörst ja die Kinder nebendran
schreien. Es sind jetzt fünf. Da sitzt man und schuftet bis in alle
Nacht hinein, und nirgends will’s reichen. Und du tust nichts als
spazierengehen!«
»Fehlgeschossen, alter Kunde. Vier oder fünf Wochen bin ich im Spital in
Neustadt gelegen, und da behalten sie keinen länger, als er’s bitter
nötig hat, und es bleibt auch keiner länger drin. Des Herrn Wege sind
wunderbar, Freund Schlotterbeck.«
»Ach laß diese Sprüche, du!«
»Bist du denn nimmer fromm, he? Ich will es gerade auch werden, und
darum bin ich zu dir gekommen. Wie steht’s damit, alter Stubenhocker?«
»Laß mich in Ruh’ mit der Frömmigkeit! Im Spital, sagst du? Da tust du
mir aber leid.«
»Ist nicht nötig, es ist vorbei. Und jetzt erzähl einmal: wie ist’s mit
dem Buch Sirach und mit der Offenbarung? Weißt du, im Spital hab ich
Zeit gehabt, und eine Bibel war auch da, da hab ich fast alles gelesen
und kann jetzt besser mitreden. Es ist ein kurioses Buch, die Bibel.«
»Da hast du recht. Kurios, und die Hälfte muß verlogen sein, weil keins
zum andern paßt. Du verstehst’s vielleicht besser, du bist ja einmal in
die Lateinschule gegangen.«
»Davon ist mir wenig geblieben.«
»Siehst du, Knulp –.« Der Schneider spuckte zum offenen Fenster in die
Tiefe hinunter und sah mit großen Augen und erbittertem Gesicht
hinterdrein. »Sieh, Knulp, es ist nichts mit der Frömmigkeit. Es ist
nichts damit, und ich pfeife drauf, sag ich dir. Ich pfeife drauf!«
Der Wanderer sah ihn nachdenklich an.
»So, so. Das ist aber viel gesagt, alter Kunde. Mir scheint, in der
Bibel stehen ganz gescheite Sachen.«
»Ja, und wenn du ein Stück weiterblätterst, dann steht immer irgendwo
das Gegenteil. Nein, ich bin fertig damit, aus und fertig.«
Knulp war aufgestanden und hatte nach einem Bügeleisen gegriffen.
»Du könntest mir ein paar Kohlen drein geben,« bat er den Meister.
»Zu was denn auch?«
»Ich will die Weste ein wenig bügeln, weißt du, und dem Hut wird es auch
gut tun, nach all dem Regen.«
»Immer nobel!« rief Schlotterbeck etwas ärgerlich. »Was brauchst du so
fein zu sein wie ein Graf, wenn du doch nur ein Hungerleider bist?«
Knulp lächelte ruhig. »Es sieht besser aus, und es macht mir eine
Freude, und wenn du’s nicht aus Frömmigkeit tun willst, so tust du’s
einfach aus Nettigkeit und einem alten Freund zuliebe, gelt?«
Der Schneider ging durch die Tür hinaus und kam bald mit dem heißen
Eisen wieder.
»So ist’s recht,« lobte Knulp, »danke schön!«
Er begann vorsichtig den Rand seines Filzhutes zu glätten, und da er
hierin nicht so geschickt war wie im Nähen, nahm ihm der Freund das
Eisen aus der Hand und tat die Arbeit selber.
»Das laß ich mir gefallen,« sagte Knulp dankbar. »Jetzt ist es wieder
ein Sonntagshut. Aber schau, Schneider, von der Bibel verlangst du zu
viel. Das, was wahr ist, und wie das Leben eigentlich eingerichtet ist,
das muß ein jeder sich selber ausdenken und kann es aus keinem Buch
lernen, das ist meine Meinung. Die Bibel ist alt, und früher hat man
mancherlei noch nicht gewußt, was man heute kennt und weiß; aber darum
steht doch viel Schönes und Braves drin, und auch ganz viel Wahres.
Stellenweise ist sie mir gerade wie ein schönes Bilderbuch vorgekommen,
weißt du. Wie das Mädchen da, die Ruth, übers Feld geht und die übrigen
Ähren sammelt, das ist fein, und man spürt den schönsten warmen Sommer
drin, oder wie der Heiland sich zu den kleinen Kindern setzt und denkt:
ihr seid mir doch viel lieber als die Alten mit ihrem Hochmut alle
zusammen! Ich finde, da hat er recht, und da könnte man schon von ihm
lernen.«
»Ja, das wohl,« gab Schlotterbeck zu und wollte ihn doch nicht Recht
haben lassen. »Aber einfacher ist es schon, wenn man das mit andrer
Leute Kindern tut, als wenn man selber fünfe hat und weiß nicht, wie sie
durchfüttern.«
Er war wieder ganz verdrossen und bitter, und Knulp konnte das nicht
ansehen. Er wünschte ihm, ehe er gehe, noch etwas Gutes zu sagen. Er
besann sich ein wenig. Dann beugte er sich zu dem Schneider, sah ihm mit
seinen hellen Augen nah und ernsthaft ins Gesicht und sagte leise: »Ja,
hast du sie denn nicht lieb, deine Kinder?«
Ganz erschrocken riß der Schneider die Augen auf. »Aber freilich, was
denkst du auch! Natürlich hab ich sie lieb, den Größten am meisten.«
Knulp nickte mit großem Ernst.
»Ich will jetzt gehen, Schlotterbeck, und ich sage dir schönen Dank. Die
Weste ist jetzt gerade das Doppelte wert. – Und dann, mit deinen Kindern
mußt du lieb und lustig sein, das ist schon halb gegessen und getrunken.
Paß auf, ich sage dir etwas, was niemand weiß und was du nicht weiter zu
erzählen brauchst.«
Der Meister sah ihm aufmerksam und überwunden in die klaren Augen, die
sehr ernst geworden waren. Knulp sprach jetzt so leise, daß der
Schneider Mühe hatte, ihn zu verstehen.
»Sieh mich an! Du beneidest mich und denkst: der hat es leicht, keine
Familie und keine Sorgen! Aber es ist nichts damit. Ich habe ein Kind,
denk dir, einen kleinen Buben von zwei Jahren, und der ist von fremden
Leuten angenommen worden, weil man doch den Vater nicht kennt und weil
die Mutter im Kindbett gestorben ist. Du brauchst die Stadt nicht zu
wissen, wo er ist; aber ich weiß sie, und wenn ich dorthin komme, dann
schleiche ich mich um das Haus herum und steh am Zaun und warte, und
wenn ich Glück habe und sehe den kleinen Kerl, dann darf ich ihm keine
Hand und keinen Kuß geben und ihm höchstens im Vorbeigehen was
vorpfeifen. – Ja, so ist das, und jetzt adieu, und sei froh, daß du
Kinder hast!«
* * * * *
Knulp setzte seinen Gang durch die Stadt fort, er stand eine Weile
plaudernd am Werkstattfenster eines Drechslers und sah dem geschwinden
Spiel der lockigen Holzspäne zu, er begrüßte unterwegs auch den
Polizeidiener, der ihm gewogen war und ihn aus seiner Birkendose
schnupfen ließ. Überall erfuhr er Großes und Kleines aus dem Leben der
Familien und Gewerbe, er hörte vom frühen Tod der Stadtrechnersfrau und
vom ungeratenen Sohn des Bürgermeisters, er erzählte dafür neues von
anderen Orten und freute sich des schwachen, launigen Bandes, das ihn
als Bekannten und Freund und Mitwisser da und dort mit dem Leben der
Seßhaften und Ehrbaren verband. Es war Samstag, und er fragte in der
Toreinfahrt einer Brauerei die Küfergesellen, wo es heut abend und
morgen eine Tanzgelegenheit gebe.
Es gab mehrere, aber die schönste war die im Leuen von Gertelfingen, nur
eine halbe Stunde weit. Dahin beschloß er das junge Bärbele aus dem
Nachbarhause mitzunehmen.
Es war bald Mittagszeit, und als Knulp die Treppe im Rothfußschen Hause
erstieg, schlug ihm von der Küche her ein angenehm kräftiger Geruch
entgegen. Er blieb stehen und sog in knabenhafter Lust und Neugierde mit
spürenden Nüstern das Labsal ein. Aber so still er gekommen war, man
hatte ihn schon gehört. Die Meistersfrau tat die Küchentüre auf und
stand freundlich in der lichten Öffnung, vom Dampf der Speisen umwölkt.
»Grüß Gott, Herr Knulp,« sagte sie liebevoll, »das ist recht, daß Sie so
zeitig kommen. Nämlich wir kriegen heut Leberspatzen, wissen Sie, und
da hab ich mir gedacht, vielleicht könnte ich ein Stück Leber für Sie
extra braten, wenn Sie es so lieber haben. Was meinen Sie?«
Knulp strich sich den Bart und machte eine Kavaliersbewegung.
»Ja, warum soll denn ich was Besonderes haben, ich bin froh, wenn’s eine
Suppe gibt.«
»Ach was, wenn einer krank gewesen ist, gehört er ordentlich gepflegt,
wo soll sonst die Kraft herkommen? Aber vielleicht mögen Sie gar keine
Leber? Es gibt solche.«
Er lachte bescheiden.
»O, von denen bin ich nicht, ein Teller voll Leberspatzen, das ist ein
Sonntagsessen, und wenn ich’s mein Lebtag jeden Sonntag essen könnte,
wär ich schon zufrieden.«
»Bei uns soll Ihnen nichts fehlen. Zu was hat man kochen gelernt! Aber
sagen Sie’s jetzt nur, es ist ein Stück Leber übrig, ich hab’s Ihnen
aufgespart. Es täte Ihnen gut.«
Sie kam näher und lächelte ihm aufmunternd ins Gesicht. Er verstand gut,
wie sie es meinte, und ziemlich hübsch war das Weiblein auch, aber er
tat, als sehe er nichts. Er spielte mit seinem hübschen Filzhut, den
ihm der arme Schneider aufgebügelt hatte, und sah nebenaus.
»Danke, Frau Meisterin, danke schön für den guten Willen. Aber Spatzen
sind mir wirklich lieber. Ich werde schon genug verwöhnt bei Ihnen.«
Sie lächelte und drohte ihm mit dem Zeigefinger.
»Sie brauchen nicht so schüchtern zu tun, ich glaub’s Ihnen doch nicht.
Also Spatzen! und ordentlich Zwiebel dran, gelt?«
»Da kann ich nicht nein sagen.«
Sie lief besorgt zu ihrem Herde zurück, und er setzte sich in die Stube,
wo schon gedeckt war. Er las im gestrigen Wochenblatt, bis der Meister
sich einfand und die Suppe aufgetragen wurde. Man aß, und nach Tische
wurde zu dreien eine Viertelstunde mit Karten gespielt, wobei Knulp
seine Wirtin durch einige neue, verwegene und zierliche
Kartenkunststücke in Erstaunen setzte. Er verstand auch mit
spielerischer Nachlässigkeit die Karten zu mischen und blitzschnell zu
ordnen, er warf sein Blatt mit Eleganz auf den Tisch und ließ zuweilen
den Daumen über die Kartenränder laufen. Der Meister sah mit Bewunderung
und Nachsicht zu, wie ein Arbeiter und Bürger brotlose Künste sich
gefallen läßt. Die Meisterin aber beobachtete mit kennerhafter Teilnahme
diese Anzeichen einer weltmännischen Lebenskunst. Ihr Blick ruhte
aufmerksam auf seinen langen, zarten, von keiner schweren Arbeit
entstellten Händen.
Durch die kleinen Fensterscheiben floß ein dünner, unsicherer
Sonnenschein in die Stube, über den Tisch und die Karten, spielte
launisch und kraftlos am Fußboden mit den schwachen Schlagschatten und
zitterte kreiselnd an der blau getünchten Stubendecke. Knulp nahm dies
alles mit blinzelnden Augen wahr: das Spiel der Februarsonne, den
stillen Frieden des Hauses, das ernsthaft arbeitsame Handwerkergesicht
seines Freundes und die verschleierten Blicke der hübschen Frau. Es
gefiel ihm nicht, das war kein Ziel und Glück für ihn. Wäre ich gesund,
dachte er, und wäre es Sommerszeit, ich bliebe keine Stunde länger hier.
»Ich will ein wenig der Sonne nachgehen,« sagte er, als Rothfuß die
Karten zusammenstrich und auf die Uhr sah. Er ging mit dem Meister die
Treppe hinunter, ließ ihn im Trockenschuppen bei seinen Fellen und
verlor sich in den öden schmalen Grasgarten, der, von Lohgruben
unterbrochen, bis an das Flüßchen hinabreichte. Dort hatte der Gerber
einen kleinen Brettersteg gebaut, an dem er seine Häute schwemmen
konnte. Auf den Steg setzte sich Knulp, ließ die Sohlen knapp über dem
still und rasch fließenden Wasser hängen, blickte belustigt den
schnellen, dunklen Fischen nach, die unter ihm weg ihren Lauf hatten,
und fing dann an, die Gegend neugierig zu studieren, denn er suchte eine
Gelegenheit, mit der kleinen Dienstmagd von drüben zu sprechen.
Die Gärten stießen aneinander, durch einen schlecht erhaltenen
Lattenzaun getrennt, und unten am Wasser, wo die Zaunpfähle längst
vermodert und verschwunden waren, konnte man ungehindert vom einen
Grundstück auf das andere hinübergehen. Der Nachbarsgarten schien mit
mehr Sorgfalt gepflegt zu werden als der wüste Grasplatz des
Weißgerbers. Man sah dort vier Reihen von Beeten liegen, vergrast und
eingesunken, wie sie nach dem Winter sind, Ackerlattich und
überwinterter Spinat wuchs spärlich in zwei Rabatten, Rosenbäumchen
standen zur Erde gebogen mit eingegrabenen Kronen. Weiterhin standen,
das Haus verbergend, ein paar hübsche Fichtenbäume.
Bis zu ihnen drang Knulp geräuschlos vor, nachdem er den fremden Garten
betrachtet hatte, und sah nun zwischen den Bäumen hindurch das Haus
liegen, die Küche nach hinten, und er hatte noch nicht lange gewartet,
da sah er in der Küche auch das Mädchen mit aufgekrempelten Ärmeln
wirtschaften. Die Hausfrau war dabei und hatte viel zu befehlen und zu
lehren, wie es bei Weibern ist, die keine gelernte Magd bezahlen mögen
und ihre jährlich wechselnden Lehrmädchen nachher, wenn sie aus dem
Hause sind, nicht genug zu preisen wissen. Ihre Unterweisung und Klage
geschah jedoch in einem Ton, der ohne Bosheit war, und die Kleine schien
bereits daran gewöhnt, denn sie tat unbeirrt und mit glatter Miene ihre
Arbeit.
Der Eindringling stand an einen Stamm gelehnt mit vorgestrecktem Kopf,
neugierig und wachsam wie ein Jäger, und lauschte mit vergnügter Geduld
als ein Mann, dessen Zeit wohlfeil ist und der gelernt hat, als
Zuschauer und Zuhörer am Leben teilzunehmen. Er freute sich am Anblick
des Mädchens, wenn es durchs Fenster sichtbar wurde, und er schloß aus
der Mundart der Hausfrau, daß sie keine geborene Lächstetterin, sondern
ein paar Stunden weiter oben im Tale daheim sei. Ruhig horchte er und
kaute auf einem duftenden Tannenzweig eine halbe Stunde und eine ganze
Stunde lang, bis die Frau verschwand und es still in der Küche wurde.
Er wartete noch eine kleine Weile, dann trat er behutsam vor und klopfte
mit einem dürren Zweig ans Küchenfenster. Die Magd achtete nicht darauf,
er mußte noch zweimal klopfen. Da kam sie ans halboffene Fenster, tat es
vollends auf und schaute heraus.
»Ja, was tut denn Ihr da?« rief sie halblaut. »Jetzt wär ich fast
erschrocken.«
»Vor mir doch nicht!« meinte Knulp und lächelte. »Ich wollte bloß einmal
Grüßgott sagen und sehen, wie’s geht. Und weil nämlich heut Samstag ist,
möchte ich fragen, ob Ihr morgen nachmittag etwa frei habet, zu einem
kleinen Spaziergang.«
Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf, und da machte er ein so trostlos
betrübtes Gesicht, daß es ihr ganz leid tat.
»Nein,« sagte sie freundlich, »morgen hab ich nicht frei, nur vormittags
für die Kirche.«
»So, so,« brummte Knulp. »Ja, dann könntet Ihr aber gewiß heut abend
mitkommen.«
»Heut abend? Ja, frei hätte ich schon, aber da will ich einen Brief
schreiben, an meine Leute daheim.«
»O, den schreibt Ihr dann eben eine Stunde später, er geht heut nacht
doch nimmer fort. Sehet Ihr, ich hab mich schon so gefreut, bis ich
wieder ein bißchen mit Euch reden kann, und heut abend, wenn’s nicht
gerade Katzen hagelt, hätten wir so schön spazieren gehen können. Gelt,
seiet lieb, Ihr werdet doch vor mir keine Angst haben!«
»Angst hab ich gar keine, einmal vor Euch nicht. Aber es geht halt
nicht. Wenn man sieht, daß ich mit einem Mannsbild spazieren geh –«
»Aber Bärbele, es kennt Euch ja hier kein Mensch. Und es ist doch
wahrhaftig keine Sünde und geht niemand was an. Ihr seid doch kein
Schulmädchen mehr, gelt? Also vergesset es nicht, ich bin um acht Uhr
bei der Turnhalle drunten, da wo die Schranken für den Viehmarkt sind.
Oder soll ich früher kommen? Ich kann es schon richten.«
»Nein, nein, nicht früher. Überhaupt – Ihr müsset gar nicht kommen, es
geht nicht, und ich darf nicht ––«
Wieder zeigte er das knabenhaft betrübte Gesicht.
»Ja, wenn Ihr halt gar nicht möget!« sagte er traurig. »Ich habe
gedacht, Ihr seid hier fremd und allein und habet manchmal das Heimweh,
und ich auch, und da hätten wir einander ein bißchen erzählen können,
von Achthausen hätt ich gern noch mehr gehört, weil ich doch einmal
dort war. Ja nun, zwingen kann ich Euch nicht, und Ihr müsset mir’s auch
nicht übelnehmen.«
»Ach was übelnehmen! Aber wenn ich doch nicht kann.«
»Ihr habt ja frei heut abend, Bärbele. Ihr möget bloß nicht. Aber
vielleicht überlegt Ihr’s Euch noch. Ich muß jetzt gehen, und heut abend
bin ich an der Turnhalle und warte, und wenn niemand kommt, dann geh ich
allein spazieren und denk an Euch und daß Ihr jetzt nach Achthausen
schreibet. Also adieu, und nichts für ungut!«
Er nickte kurz und war weg, ehe sie noch etwas sagen konnte. Sie sah ihn
hinter den Bäumen verschwinden und machte ein ratloses Gesicht. Dann
kehrte sie zur Arbeit zurück, und plötzlich begann sie – die Frau war
ausgegangen – laut und schön dazu zu singen.
Knulp hörte es wohl. Er saß wieder auf dem Gerbersteg und machte kleine
Kugeln aus einem Stückchen Brot, das er bei Tische zu sich gesteckt
hatte. Die Brotkugeln ließ er sachte ins Wasser fallen, eine nach der
andern, und schaute nachdenklich zu, wie sie untersanken, ein wenig von
der Strömung abgetrieben, und wie sie unten auf dem dunklen Grunde von
den stillen gespenstischen Fischen aufgeschnappt wurden.
* * * * *
»So,« sagte der Gerbermeister beim Nachtessen, »jetzt ist’s Samstag
abend, und du weißt gar nicht, wie schön das ist, wenn man es die ganze
Woche streng gehabt hat.«
»O, ich kann’s mir schon denken,« lächelte Knulp, und die Meisterin
lächelte mit und sah ihm schalkhaft ins Gesicht.
»Heut abend,« fuhr Rothfuß im festlichen Tone fort, »heut abend trinken
wir einen guten Krug Bier miteinander, meine Alte holt ihn gleich, gelt?
Und morgen, wenn es gut Wetter gibt, machen wir alle drei einen Ausflug.
Was meinst du, alter Freund?«
Knulp schlug ihn kräftig auf die Schulter.
»Man hat es gut bei dir, das muß ich sagen, und auf den Ausflug freu ich
mich schon. Hingegen heut abend habe ich eine Besorgung, es ist ein
Freund von mir hier, den muß ich treffen, er hat in der oberen Schmiede
gearbeitet und reist morgen fort. – Ja, es tut mir leid, aber morgen
sind wir ja den ganzen Tag beieinander, sonst hätt ich mich auch gar
nicht darauf eingelassen.«
»Du wirst doch nicht jetzt in der Nacht herumlaufen wollen, wo du noch
halb krank bist.«
»Ach was, zu arg darf man sich auch nicht verwöhnen. Ich komme nicht
spät heim. Wo tust du den Schlüssel hin, daß ich dann herein kann?«
»Du bist ein Eigensinn, Knulp. Also dann geh halt, und den Schlüssel
findest du hinterm Kellerladen. Du weißt doch, wo?«
»Jawohl. Dann geh ich jetzt. Leget Euch nur zeitig ins Bett! Gut Nacht.
Gut Nacht, Frau Meisterin.«
Er ging, und als er schon unten beim Haustor war, kam ihm hastig die
Meistersfrau nachgelaufen. Sie brachte einen Regenschirm, den mußte
Knulp mitnehmen, er mochte wollen oder nicht.
»Sie müssen auch Sorge zu sich haben, Knulp,« sagte sie. »Und jetzt will
ich Ihnen zeigen, wo Sie nachher den Schlüssel finden.«
Sie nahm ihn in der Dunkelheit bei der Hand und führte ihn um die
Hausecke und machte vor einem Fensterchen halt, das mit Holzläden
verschlossen war.
»Hinter den Laden legen wir den Schlüssel,« berichtete sie aufgeregt und
flüsternd und streichelte Knulps Hand. »Sie müssen dann bloß durch den
Ausschnitt langen, er liegt auf dem Simsen.«
»Ja, danke schön,« sagte Knulp verlegen und zog seine Hand zurück.
»Soll ich Ihnen ein Bier aufheben, bis Sie wiederkommen?« fing sie
wieder an und drückte sich leise gegen ihn.
»Nein, danke, ich trinke selten eins. Gut Nacht, Frau Rothfuß, und danke
schön.«
»Pressiert’s denn so?« flüsterte sie zärtlich und kniff ihn in den Arm.
Ihr Gesicht stand dicht vor dem seinen, und in einer verlegenen Stille,
da er sie nicht mit Gewalt zurückstoßen mochte, strich er mit der Hand
über ihr Haar.
»Aber jetzt muß ich weiter,« rief er plötzlich überlaut und trat zurück.
Sie lächelte ihn mit halb geöffnetem Munde an, er konnte im Dunkeln ihre
Zähne schimmern sehen. Und sie rief ganz leise: »Ich warte dann, bis du
heimkommst. Du bist ein Lieber.«
Nun ging er rasch davon in die finstere Gasse hinein, den Schirm unterm
Arme, und begann bei der nächsten Ecke, um der törichten Beklommenheit
Herr zu werden, zu pfeifen. Es war das Lied:
Du meinst’, ich werd’ dich nehmen,
Hab’s aber nicht im Sinn,
Ich muß mich deiner schämen,
Wenn ich in G’sellschaft bin.
Die Luft ging lau, und zuweilen traten Sterne am schwarzen Himmel
heraus. In einem Wirtshaus lärmte junges Volk, dem Sonntag entgegen, und
im Pfauen sah er hinter den Fenstern der neuen Kegelbahn eine
bürgerliche Herrengesellschaft in Hemdärmeln beieinander stehen,
Kegelkugeln in den Händen wägend und Zigarren im Munde.
Bei der Turnhalle machte Knulp halt und schaute sich um. In den kahlen
Kastanienbäumen sang schwach der feuchte Wind, der Fluß strömte unhörbar
in tiefer Schwärze und spiegelte ein paar erleuchtete Fenster wider. Die
milde Nacht tat dem Landstreicher in allen Fibern wohl, er atmete
spürend und ahnte Frühling, Wärme, trockene Straßen und Wanderschaft.
Sein unerschöpfliches Gedächtnis überschaute die Stadt, das Flußtal und
die ganze Gegend, er wußte überall Bescheid, er kannte Straßen und
Fußwege, Dörfer, Weiler, Höfe, befreundete Nachtherbergen. Scharf dachte
er nach und stellte den Plan für seine nächste Wanderung auf, da hier in
Lächstetten seines Bleibens doch nimmer sein konnte. Er wollte nur, wenn
es ihm die Frau nicht zu schwer machte, dem Freunde zulieb noch über
diesen Sonntag bleiben.
Vielleicht, dachte er, hätte er dem Gerber einen Wink geben sollen,
seiner Meisterin wegen. Aber er liebte es nicht, seine Hände in anderer
Leute Sorgen zu stecken, und er hatte kein Bedürfnis, die Menschen
besser oder klüger machen zu helfen. Es tat ihm leid, daß es so gegangen
war, und seine Gedanken an die ehemalige Ochsenkellnerin waren
keineswegs freundlich; aber er dachte auch mit einem gewissen Spott an
des Gerbers würdige Reden über Hausstand und Eheglück. Er kannte das, es
war meistens nichts damit, wenn einer mit seinem Glück oder mit seiner
Tugend sich rühmte und groß tat, mit des Flickschneiders Frömmigkeit war
es einst ebenso gewesen. Man konnte den Leuten in ihrer Dummheit
zusehen, man konnte über sie lachen oder Mitleid mit ihnen haben, aber
man mußte sie ihre Wege gehen lassen.
Mit einem gedankenvollen Seufzer tat er diese Sorgen beiseite. Er lehnte
sich in die Höhlung einer alten Kastanie, der Brücke gegenüber, und
dachte weiter seiner Wanderschaft nach. Er wäre gerne quer über den
Schwarzwald gegangen, aber da oben war es jetzt kalt, und vermutlich lag
noch viel Schnee, man verdarb sich die Stiefel, und die
Schlafgelegenheiten waren weit auseinander. Nein, damit war es nichts,
er mußte den Tälern nachgehen und sich an die Städtchen halten. Die
Hirschenmühle, vier Stunden weiter unten am Fluß, war der erste sichere
Rastort, dort würde man ihn bei schlechtem Wetter ein, zwei Tage
behalten.
You have read 1 text from German literature.
Next - Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 3
  • Parts
  • Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 1
    Total number of words is 4408
    Total number of unique words is 1498
    41.6 of words are in the 2000 most common words
    54.5 of words are in the 5000 most common words
    60.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 2
    Total number of words is 4532
    Total number of unique words is 1497
    41.7 of words are in the 2000 most common words
    54.3 of words are in the 5000 most common words
    60.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 3
    Total number of words is 4664
    Total number of unique words is 1367
    44.6 of words are in the 2000 most common words
    58.9 of words are in the 5000 most common words
    64.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 4
    Total number of words is 4620
    Total number of unique words is 1458
    45.0 of words are in the 2000 most common words
    58.3 of words are in the 5000 most common words
    63.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 5
    Total number of words is 4561
    Total number of unique words is 1477
    41.9 of words are in the 2000 most common words
    55.4 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Knulp: Drei Geschichten aus dem Leben Knulps - 6
    Total number of words is 3384
    Total number of unique words is 1221
    46.6 of words are in the 2000 most common words
    57.7 of words are in the 5000 most common words
    61.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.