Keltische Knochen/Gedelöcke: Erzählungen - 1

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Wilhelm Raabe
Bücherei
Erste Reihe
Band 9
Wilhelm Raabe
Bücherei
Erste Reihe:
Kleinere
Erzählungen
Neunter Band
Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm


Wilhelm Raabe
Keltische
Knochen
·
Gedelöcke

Erzählungen
Dritte Auflage
11.-16. Tausend
Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm
Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig


Keltische Knochen

Festgeregnet!...... Wem steigt nicht bei diesem Worte eine gespenstische
Erinnerung in der Seele auf? eine Erinnerung an eine Stunde -- zwei
Stunden -- einen Tag -- zwei, drei, vier -- acht Tage, wo er oder sie
ebenfalls festgeregnet war -- festgeregnet an einer Straßenecke, unter
einem Torwege, bei einem Freunde oder einer Freundin, in einer
Dorfkneipe, auf dem Brocken, dem Inselsberge, dem Rigi oder dem
Schafberge?
Es ist eine leidige Vorstellung -- festgeregnet! Grau, greinend und
griesgrämlich kriecht sie heran, streckt hundert fröstelnd-kalte,
feuchte Fangarme nach dem warmen Herzen aus und ist so schwer los zu
werden, wie alles andere Unbehagliche, Unbequeme, Ungelegene in der
Welt.
In Ischl spazierten die schönen Damen auf der Esplanade im glänzendsten
Sonnenschein, als wir ausfuhren, und sämtliche arme Hämorrhoidarier,
Drüsen- und Skrofelkranke hatten ihren Jammer in die freie Luft
getragen: auch die königlich-kaiserliche Familie fuhr spazieren.
In der Nähe von Laufen, im heiligen Bezirk der schönen, holdseligsten
Maria im Schatten zog die allerschönste, aber auch allereigensinnigste
Dame Natur den Nebelschleier über das Gesicht, und als wir auf dem See
schifften, wurde dieser Schleier und unsere Hoffnung auf einen schönen
Tag vollständig zu Wasser. Es scheint eben in den angenehmsten Gegenden
am liebsten zu regnen; aber vielleicht war auch der fromme Dichter,
welchen wir mit uns führten und welcher jedenfalls unter dem Zeichen des
Wassermannes geboren war, schuld daran.
Wir waren unserer drei, und trotz allem war der Dichter der Edelste von
uns; er hieß leider Krautworst und war aus Hannover, sagte natürlich
beides nicht gern, sondern stellte sich meistens als den Verfasser der
Lebensblüten vor und dar; sonst nannte er sich auch wohl, glänzenden
aber ebenfalls von der Prosa ihres Namens oder Geburtsortes erdrückten
Beispielen folgend, Roderich von der Leine. Er hatte uns in Linz im
Erzherzog Karl aufgegabelt, hielt krampfhaft wenigstens an mir fest,
schwärmte für Linz und ließ nicht selten geheimnisvolle Andeutungen
fallen, daß er daselbst etwas erlebt habe. Seine öftere
Geistesabwesenheit und Zerstreutheit gab Anlaß zur Vermutung, daß er
dieses Erlebte poetisch zu verwerten im Begriff sei; seine lyrischen
Wehen hatten oft etwas Beängstigendes für mich; affizierten jedoch den
dritten in unserm Bunde weniger. Dieser dritte war, ohne sich dafür zu
geben, ein Geheimnis, und ebenso verschlossen, wie der Poet offenherzig
und mitteilungswütig war. In die Fremdenbücher zeichnete er sich kurz
als Zuckriegel; ich hegte aber einigen Zweifel, ob dies wirklich sein
Name sei; bis er in Wien in den drei Raben höchst unmotivierterweise in
einen Streit geriet, der ihn und mich vor die königlich-kaiserliche
Polizei führte und ihn zwang, mit seinem Paß herauszurücken. Er hieß in
der Tat Zuckriegel, ohne sich dessen zu schämen, und war Prosektor an
einer kleinen norddeutschen Universität, hatte jedoch in seinem Äußern
sowohl, als in seinem Innern sehr viel vom Scharfrichter. Nur ein
schlechter Charakter, gleich dem seinigen, konnte es über sich gewinnen,
einen so guten Menschen wie den Dichter durch ein ewig wiederholtes
Auftischen des gehaßten Familiennamens Krautworst an allen Nervenenden
zu zupfeln und zu kitzeln.
Zuckriegels Reisezweck war, die Knochen des unbekannten Volkes am
Rudolfsturm über Hallstadt zu besuchen und womöglich einen Schädel und
einige sonst überflüssige Gebeine für seine osteologische Sammlung zu
stehlen oder, wie er sich euphemistisch auszudrücken beliebte, an sich
zu nehmen.
Er liebte es, irgend etwas an sich zu nehmen, wie zum Beispiel den
besten Platz im Wagen, die besten Stücke an der Wirtstafel, sämtliche
Zeitungen nach Tisch, und so weiter. Auf der Fahrt über den Hallstädter
See hatte er im »Einbaum« die Bank dicht hinter dem breiten Rücken und
den Röcken des lieblichen Schiffermädchens eingenommen und saß sehr
geschützt gegen den Regen, welchen der Wind uns ins Gesicht trieb.
Unser Kleeblatt hatte in Ischl trotz dem prächtigen Sommerwetter arg
gelitten: der fromme Dichter an den reizenden Toiletten der Damen;
Zuckriegel an sich selber und an einem amerikanischen Reverend nebst
Familie, welche, nur durch eine dünne Wand von ihm getrennt, ihn durch
nächtliche unendliche Gebete und näselnden Lobgesang sehr erbost hatten;
ich hatte mich durch die Inschrift am Kurhause: ^In sale et in sole
omnia consistunt^ verleiten lassen, das entsetzliche salzige Gesöff und
seine Wirkung auf meine gottlob gute Konstitution zu versuchen, und
hatte mich nicht vergeblich in die Gefahr begeben.
Die Inschrift an der Hygiea:
»Man nennt als größtes Glück auf Erden
Gesund zu sein --
Ich sage nein!
Ein größres ist, gesund zu werden«
gab mir nur einen mittelmäßigen Trost; das »Gesundwerden« nach diesem
höllischen Schoppen war längst nicht so angenehm als der behagliche
Zustand vor meinem fürwitzigen Anlecken an den Becher der Hekate. Wir
mieteten den Einspänner, setzten Roderich von der Leine neben den
Kutscher auf den Bock, fuhren, wie gesagt, an der holdseligen Jungfrau
Maria im Schatten und -- Regen vorüber und durch Goisern und Sankt
Agatha zur Gosaumühle, wo wir feucht abstiegen, und wo Zuckriegel sich
in einen Wortwechsel mit dem Kutscher verwickelte, in welchen wir beiden
andern uns nicht einmischten, weil wir dem Rosselenker recht geben
mußten, und dieser sich selber zu helfen wußte.
Wir mieteten den Einbaum, das heißt einen Kahn mit einer dicken Jungfrau
und einem Jungen, und wurden von jener Schifferin, welche der Dichter
der Lebensblüten »sich poetischer gedacht« hatte, über den See gerudert,
und ich für mein armes Teil bedauerte in diesem Augenblick nicht mehr,
daß der Tag dunkel war, denn er paßte zu der Gegend. Wären meine beiden
Begleiter, der Junge und das Schiffermädchen, nicht gewesen, so würde
höchstwahrscheinlich der Schatten Virgils aus den schwarzen Wassern
emporgestiegen sein, um sich mir als Führer auf dem fernern Wege gegen
die gebräuchliche Taxe anzubieten.
Ja, das Wasser des Sees war schwarz; schwarz waren die steilrechten
Felsen, die sich im schwarzen Gewölk verloren; es konnte niemand von uns
drei Touristen wissen, ob nicht hinter dem düstern Nebelvorhang die
erweiterte Hölle mit _allen_ seit dem vierzehnten September
Dreizehnhunderteinundzwanzig hinzugekommenen großen und kleinen
Missetätern ihren Anfang nehme und in Roderich von der Leine ihren neuen
Schilderer erwarte. Der Name des Menschen, Krautworst, konnte dabei
nicht hinderlich sein; denn ^Dante^ bedeutet in deutscher Zunge auch
nichts weiter als »Hirschleder«; aber Krautworst selber war hinderlich,
denn die wunderlich ergreifende Szenerie machte nicht den geringsten
Eindruck auf ihn; ihn fror, er sprach vom Wechseln der Strümpfe, von
rheumatischem Zahnschmerz und jammerte nach einer Tasse Tee.
Zuckriegel war schon ein anderer Mann: die Nähe der keltischen oder
sonstigen Gebeine und der Sitz hinter dem walfischhaften Rücken unseres
weiblichen Charons stimmten ihn milde; er glich in diesem Augenblicke
weniger einem Scharfrichter als einem vazierenden Metzger; ob sein Sitz
ihn auch erotisch stimmte, kann ich nicht bestimmt behaupten,
stellenweise schien es so.
Nach einer Fahrt von zwei Stunden gewannen wir die Überzeugung, daß
hinter dem Nebel- und Regenvorhang nicht ^l'inferno^ seinen Anfang nehme
und seinen Eingang habe; sondern daß daselbst Hallstadt liege oder
vielmehr klebe, und daß die Taxe für die Fahrt nicht unbillig zu nennen
sei. Der Einbaum schoß beim Seeauer ans Land; und wie erotisch
Zuckriegel durch unsere solide Schifferin gestimmt sein mochte, er
fühlte sich keineswegs dadurch gehindert, beim Zahlen mit ihr in
Konflikt zu geraten.
Von einem weiblichen Kellner geleitet, stiefelten wir durch den
triefenden Garten selber triefend in das gastliche Haus, und Roderich
bestellte zähneklappernd eine Tasse heißester Kraftbrühe. Hinter ihm
rauschte der See, jedoch ohne ihn als Opfer haben zu wollen; im
Gegenteil schien er herzlich froh, ihn losgeworden zu sein. Ich trank
Kaffee, Zuckriegel aber entschloß sich zu einem starken Grog, dessen
Bereitung er dann in der Küche selbst überwachte, da er diesen
abgelegenen Erdenwinkel nicht mit Unrecht der richtigen Mischung dieses
angenehmen Getränkes nicht gewachsen glaubte. Seinen Anzug wechselte er
nicht; _er_ blieb, wie er war, und fing nur in der Atmosphäre der
geheizten Gaststube an, leise zu dampfen. Der Poet erschien nach einer
Pause, während welcher man ihn nicht vermißte, wie ausgewechselt. In
blendendem Weiß vom Kopf bis zu den Füßen war er von Ischl ausgefahren,
jetzt stellte er sich von den Füßen bis zum Kopfe karriert dar, und wenn
es seine Absicht war, in Hallstadt Aufsehen zu machen, so war dieses
Kostüm wahrlich geeignet, ihn seinen Zweck erreichen zu lassen; auf
einem nach der Kirchturmspitze ausgespannten Seile würde es das
Natürlichste von der Welt gewesen sein. Sämtliche in der Gaststube
anwesende Augen sprangen fast aus ihren Höhlungen, und die Kellnerin
sprang mit einem recht unzivilisierten Aufkreisch in die Küche, worauf
einen Moment später ein seltsames Gedränge von plattgedrückten Nasen an
den Scheiben des dunklen Schiebfensters neben dem Ofen zu sehen war. Der
Poet konnte mit dem Eindruck, welchen er hervorbrachte, zufrieden sein.
Er war es auch, und setzte die Gaststube zum zweiten Male dadurch in
Verwunderung, daß er seine Kraftbrühe wie jeder andere, gewöhnliche,
nicht karrierte Mensch trank; jedermann schien das Gegenteil erwartet zu
haben.
Der Himmel zeigte jetzt, daß er es gut mit uns gemeint habe; wenn er
während der Fahrt nur leise auf uns herabtröpfelte, so tat er jetzt, da
er uns unter Dach und Fach wußte, seinen Gefühlen keinen Zwang mehr an
und zog seine Reserveschleusen. Es war zwei Uhr, und es regnete
entsetzlich; der Wirt freute sich unseres Daseins in seinem
Etablissement, und ein Autochthone tröstete uns aus einem fernen Winkel,
daß wir nicht die ersten seien, die bei solchem Wetter in Hallstadt
anlangten, und daß wir wahrscheinlich auch nicht die letzten sein
würden, die bei ebensolchem Wetter es wieder verließen. Den Faust kannte
der Eingeborene nicht und verwunderte sich deshalb zum drittenmal über
den karrierten Dichter, welcher hohläugig und mit hohler Stimme
rezitierte:
»Jammer! Jammer! von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als ein
Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank, daß nicht das erste genug
tat für die Schuld aller übrigen!«
Frech setzte der Prosektor das Geschäft fort und fragte mit den Worten
Mephistos:
»Warum machst du Gemeinschaft mit uns, wenn du sie nicht durchführen
kannst?... drangen wir uns dir auf oder du dich uns? Fahren Sie fort,
Herr Krautworst und sehen Sie nicht so mürrisch aus! ich habe Sie doch
nicht _kontrekarriert_?«
Herr Krautworst fuhr nicht fort, er ärgerte sich sehr über das Zitat
Zuckriegels, konnte jedoch nichts dagegen machen und besann sich erst
fünf Minuten später, als der Prosektor dem Wirt das Küchenbulletin
abverlangte, auf den empörten Ausdruck Fausts: »Fletsche deine
gefräßigen Zähne mir nicht so entgegen! mir ekelt's!«
Es war zu spät, auch dieses Zitat noch anzubringen; -- und wir speisten
zu Mittag und es gelang mir, einen mit Messer und Gabel bewaffneten
Frieden zwischen dem Manne der Wissenschaft und dem Manne der Poesie
herzustellen. Als aber nach Tisch der Prosektor bemerkte:
»Wahrhaftig, es regnet wahrhaft musenalmanachartig; das ist ein Wetter
für einen Dichter, Herr Krautworst! wenn es mir nur nicht meine Knochen
fortschwemmt!« da schob der Poet den Stuhl zurück, griff nach dem
Regenschirm, hing das Plaid über die Schultern und schritt mit einem
vernichtenden Blick auf den Spötter aus der Tür. Es war, als ob
Prometheus dem Geier mit titanenhafter Verachtung den Rücken zeige. »Um
Gottes willen, halten Sie ihn fest!« rief mir Zuckriegel zu. »Jetzt habe
ich ihn in die rechte Stimmung versetzt; in einer halben Stunde ist er
mit seinen gereimten Linzer Erlebnissen wieder da. Geben Sie Achtung, ob
er sich nicht rächt; halten Sie ihn, bringen Sie ihn zurück, ich will
Abbitte tun.«
»Sie lobe ich mir als Reisegefährten,« sprach ich und ging dem guten
Roderich nach. ^Solus cum solo^ war der Prosektor bei solchem Wetter
doch nicht zu ertragen, die Last war zu schwer für die Schultern eines
einzelnen Menschen. Von der Tür aus sah ich noch, wie er sich so
gleichmütig als lang auf drei Stühlen ausstreckte und seine
Reiselektüre, einen Band von Avé-Lallemants Geschichte des deutschen
Gaunertums, durch deren Studium er sich mit Eifer auf sein großes
Unternehmen vorbereitete, hervorzog; -- durch einen dunkeln niedern Gang
gelangte ich ins Freie, oder das, was man in Hallstadt das Freie nennen
kann, und traf am Ausgang auf den Hospes, den ich fragte, was man bei
solchem Regen »am Hallstädter See sehen« könne?
»Hallstadt!« sagte der Wirt, und er hatte recht, dreifach recht;
Hallstadt ist bei jedem Wetter eine Merkwürdigkeit. Nirgends in der Welt
vielleicht gibt es so viel Treppen auf so engem Raume als hier. Der
Flecken macht den Eindruck, als sei er von einer Riesenhand, tüchtig
durcheinander gerüttelt und geschüttelt, an den lotrecht aus dem
schwarzen See aufsteigenden Felsen geworfen und kleben geblieben. Zwei
Monate im Jahre soll ihn die Sonne nicht erreichen, und ich glaube es
gern. Wo die Dächer aufhören, fangen die Straßen an; in keiner Stadt der
Erde muß es so gefährlich sein, sich einen Rausch zu trinken, wie hier.
Man schwindelt, wenn man empor-, und man schwindelt, wenn man
hinuntergeht; -- man fühlt sich selbst ohne Rausch keineswegs sicher auf
seinen Füßen, und das Entzücken, mit welchem man zwischen zwei grauen
Hauswänden, oder durch sonst eine Lücke in dem Mauer- und Felsenwerk auf
den Spiegel des Sees und die Steierschen Alpen am jenseitigen Ufer
sieht, ist stets von einer gewissen Beklemmung, einer nahen Cousine des
Alpdrückens, begleitet. Die Häuser haben in Hallstadt das Recht,
betrunken zu sein; die Vorsehung wacht über sie und behütet sie an den
unmöglichsten Orten vor Schaden; wenn aber, was ebengenannte Vorsehung
jedenfalls verhüten wird, einmal eins von diesen Häusern einfallen
sollte, so wird es unzweifelhaft seine sämtlichen Genossen mit sich in
den Abgrund reißen, und das ganze Nest wird zusammenfallen wie ein
Kartenhaus, jedoch mit mehr Gepolter. Sehr richtig bemerkt Baedecker,
daß in Hallstadt weder Pferd noch Wagen zu finden ist, und es kann einen
nur wundern, daß der große Tourist hiesigen Orts danach gesucht hat. Ich
erblickte nicht einmal einen Esel; als ich aber, vom Hospes auf den
Mühlbach des Ortes aufmerksam gemacht, von zarter Hand zurechtgewiesen,
an das romantische Wasser gelangte, stand Roderich von der Leine mit der
Brieftasche in der Hand und dem Silberstift an den melodischen Lippen in
einem dunklen Torbogen neben dem Gesprüh und Geplätscher, umgeben von
einem achtungsvollen, aber erstaunten Kreis älterer und jüngerer
Hallstädter von beiden Geschlechtern. Da ich weder ihm noch mir die
Stimmung verderben wollte, so verschob ich die Besichtigung dieses
berühmten Mühlbaches auf eine andere Stunde und ließ den Dichter für
jetzt im unbestrittenen Besitz des Wasserlaufes; -- man soll weder Diana
noch den Poeten im Bade stören, so verlockend die Gelegenheit dazu sein
mag.
Scheu wich ich zurück und geriet auf Umwegen zu der neuerbauten Kirche
der Protestanten, die ihren Zweck erfüllte und deren Entstehung nach
langem Kampfe mich sehr befriedigen mußte, welche ich jedoch, da sie
verschlossen war, links liegen ließ, um mich zu der katholischen Kirche
zu wenden.
Die katholischen Kirchen sind immer geöffnet, und den Weg zu ihnen
findet man auch, wenn man ihn recht sucht, wozu Roderich von der Leine,
oder wie ich ihn hier nennen darf, Krautworst aus Hannover, merkwürdige
Belege aus seinem Erfahrungskreise liefern konnte.
Treppen, Treppen, Treppen! Hinauf, hinunter, hinauf! Feuchte, mit
üppigen, sehr gesunden Mauerpflanzen bedeckte Mauern, tröpfelndes
überhängendes Gebüsch aller Art -- ein Kirchhof mit prächtigem,
beperltem Grün, alten und neuen Denksteinen, Kreuzen, verregneten
natürlichen und künstlichen Blumen, Goldflittern und Bändern, ein
Kirchhof mit Aussicht über eine niedere Mauer, ein Kirchhof mit einer
Aussicht über den wunderbarsten See auf das »Tote Gebirge«! -- ich
freute mich, daß ich kein Gedicht zu machen brauchte und keinen Ruf
aufrecht zu erhalten hatte, wie der Verfasser der Lebensblüten; sondern
nach einem trunkenen Blick auf all die keusch vom Regen verschleierte
Schönheit ruhig meinen Regenschirm und meine ästhetischen Fühlhörner
einziehen konnte, um auch das Innere des trefflichen alten Kirchleins zu
besichtigen. In welchem Jahre und von welchem Künstler der Altarschrein
geschnitzt ist, weiß ich nicht, und es geht mich auch gar nichts an, und
das alte Weib, welches davor kniete, ging's ebenfalls nichts an. Ich
setzte mich in einen dämmerigen Kirchstuhl und hörte dem Murmeln der
Alten und dem Klingen der Tropfen draußen vor den Spitzbogenfenstern und
dem Rauschen des Regens in den Bäumen zu und duldete es ohne
Widerstreben, daß Zuckriegel und Krautworst in meiner Seele allmählich
immer mehr zu mythischen Personen wurden, und ich selber ein Ding ohne
Bedeutung für das reale Leben, die Geschäftswelt und die Schreibstube.
Ich entschwand mir selber in dieser märchenhaften Minute, verwahre mich
übrigens ernstlich gegen jeden Gedanken an Einschlafen; ganz genau und
ohne jedes schreckhafte Auffahren wußte ich, was es bedeuten sollte, als
die Alte nach beendigtem Gebet auf mich zu humpelte und mir die offene,
knöcherne Pfote unter die Nase hielt. Ich habe es nicht geträumt, daß
sie Dominika Schönrammer hieß und ihr Sohn Seppel Schönrammer, und daß
sie mir zur Begründung ihres Anspruchs an mein gutes Herz und meinen
Geldbeutel die ängstliche und tränenvolle Mitteilung machte, wie
genannter Seppel augenblicklich nicht daheim, sondern drüben -- hinter
den Bergen, -- drunten -- in Italien sei, um dem Kaiser das Land zu
verteidigen.
Nun wußte ich auf einmal wieder, daß wir Achtzehnhundertneunundfünfzig
schrieben, und daß ich nur deshalb Wien verlassen und mich in die Berge
geflüchtet hatte, um den Jammer wenigstens stundenlang von der Seele
loszuwerden. Dies liederliche Wien! bei allem Elend konnte es einem doch
noch Spaß machen durch die Art, wie es sich unter den sich häufenden
Kalamitäten zu trösten suchte. Während das junge kräftige Kind Italia
seine Windeln sprengte und der alten grämlichen Wartefrau Austria das
Saugfläschchen an die Nase warf, studierte Wien, bekanntlich nicht die
sittlichste Stadt der Welt, die statistisch-moralischen Tabellen
Frankreichs, zog Trost aus der Auflockerung aller sittlichen Bande in
der gallischen Nation, und erwartete sein Heil von der Abnahme der
Bevölkerung, welche unausbleiblich die Folge solcher greulichen
Verderbnis war. Was für einen Orden jener kluge Mann erhalten hat, der
zuerst dem denkenden Österreichertum dieses treffliche und einleuchtende
Theorem in die Hände gespielt hat, kann ich leider nicht sagen. Verdient
hat er einen.
Aber Seppel? Seppel Schönrammer?! Können wir uns diesen Joseph
Schönrammer entgehen lassen? Ein Kirchhof mit der Aussicht auf den
Hallstädter See, eine arme, alte Mutter unter dem weinenden Himmel --
eine bleiche, liebliche, ländliche Braut, welche die Stufen der Kirche
emporsteigt, um der Jungfrau Maria eine geweihte Kerze zu bringen und
der alten Mutter für das Leben des Sohnes bitten zu helfen, -- -- drei
Seiten Manuskript, welche, die pekuniären Vorteile ganz beiseite
gelassen, die Aktien unseres schriftstellerischen Verdienstes in jeder
milden Frauenbrust hochsteigen lassen würden, -- -- o Roderich von der
Leine, o Rodrigo, Rodrigo!
Es ist traurig, nicht nur für die Damen, sondern auch für mich: eine
novellistische Rührung kann an dieser Stelle nicht statuiert werden.
Seppel schien den schmelzenden Gefühlen der Liebe bis dato gänzlich
fremd geblieben zu sein; auf _diesem_ »unberührten Klavier« war der
»erste einweihende Silberton« noch nicht erklungen. Seppel Schönrammer
ließ keine in Angst und Schmerz vergehende Braut hinter sich zurück;
aber sakrisch geflucht hat er, als er mit Knappsack, Kuhfuß und
Feldkessel ausziehen mußte, um das zu schützen, was andere
zusammengeheiratet hatten. Böse Ahnungen in betreff des Feldkessels
bewegten seine sonst sehr ahnungslose Brust; ach, sie erfüllten sich,
der Blechtopf sollte leer bleiben wie Seppels Herz und Schädel und nur
durch hohles Geklapper auf dem Tornister seine Unentbehrlichkeit zur
Kriegsausrüstung des tapfren österreichischen ^miles impeditus^ auf dem
Marsche wie in der Feldschlacht dartun.
Wenn ich nun auch nicht hoffen darf, durch diese Episode meines
Hallstädter Aufenthalts meine Leser und Leserinnen zu rühren, so rührte
mich selber doch die Erzählung der Alten tief, und ich schenkte ihr
einen von jenen Guldenzetteln, welche die Regierung, wenn auch nicht
über den Bedarf, so doch über die Verabredung hatte drucken lassen.
Mit den besten Wünschen für einander und den Joseph in der Lombardei
nahmen wir Abschied; nach einem letzten Blick über die Mauer des
Kirchhofs verließ ich ihn und stieg wieder abwärts dem Seeauer zu,
getrieben von dem Bedürfnis, mich zu erkundigen, wie Zuckriegel während
meiner Abwesenheit seines Daseins Last ertragen habe. Es regnete
selbstverständlich ruhig weiter.
Mein trefflicher Ortssinn, der mir nirgend so sehr zu statten kam wie in
Hallstadt am Hallstädter See, führte mich ohne viele Umwege zum
Wirtshaus zurück, und durch die bereits erwähnte Hinterpforte und den
dunkeln Gang gelangte ich wohlbehalten zur Tür der Gaststube. Aber
lauschend stand ich still; -- Zuckriegel hatte drinnen die höchsten
Register seiner Stimme gezogen, und eine andere Stimme sang die
Antistrophe mit ihm zu gleicher Zeit, was von ausgezeichnet
unharmonischer Wirkung war. Das Küchenpersonal drängte sich
verschüchtert-exaltiert auf dem Gange; ich aber, der ich bereits wußte,
daß unser Reisegenosse sehr gern und sehr leicht in einen Wortwechsel
geriet, öffnete die Stubentür und trat ein. Starr, zweifelnd blieb ich
auf der Schwelle stehen und sperrte den Mund auf, ohne die Türe zu
schließen.
Ich habe im Wiener Prater einen Tausendkünstler gesehen, der ein
lebendiges Kaninchen an den Hinterbeinen packte, es in der Mitte
durchriß und dem erstaunten und begeisterten Publiko nunmehr in jeder
Hand ein lustig zappelndes Tierchen präsentierte. Ein ganz ähnliches
Experiment schien mit dem Prosektor Zuckriegel vorgenommen worden zu
sein; -- er war zum zweitenmal in der Gaststube beim Seeauer vorhanden
und -- zankte sich bereits aufs heftigste mit seinem Doppelgänger. Das
Buch vom deutschen Gaunertum war verächtlich zu Boden geworfen, ebenso
zwei von den Stühlen, auf welchen der nicht nur große, sondern auch
lange Mann seine Mittagsruhe gehalten hatte. Mit ihren Brieftafeln in
den Händen gestikulierten beide streitende, hagerne, lederfarbene, grau
in grau kolorierte Gesellen aufeinander ein und suchten sich gegenseitig
zu überschreien. Der Fremde dampfte, wie Zuckriegel gedampft hatte, --
ein Beweis, daß er vor noch nicht langer Zeit eingetroffen sein konnte.
»Um Gottes Willen, Herr Prosektor! meine Herren! meine Herren!« rief ich
beschwörend, zwischen die beiden erhitzten Kämpfer springend. »Mäßigen
Sie sich doch, Herr Zuckriegel! Was gibt es denn? was ist denn
vorgefallen?«
»Und ich sage Ihnen, Sie irren sich durchgängig!« schrie Zuckriegel.
»Ich widerlege Ihre Aufstellung Punkt für Punkt; -- -- wollen Sie mich
endlich ruhig anhören?«
»Nein!« krächzte sein ihm so ähnliches Gegenpart. »Weshalb sollte ich
Sie ruhig anhören, da Sie mich nicht aussprechen lassen wollen? Beharren
Sie nur auf Ihrer Meinung; -- -- ich werde gegen Sie schreiben; ich
werde der Welt Ihre Hypothesen vorlegen und in der rechten Beleuchtung
zeigen.«
Zuckriegel schoß auf und nieder, wie der Kerl mit dem langen Halse im
Puppenkasten. Sein Hals entwickelte eine grauenerregende Dehnbarkeit; er
mußte jedenfalls aus einem elastischeren Stoffe als Gummielastikum
bestehen. »Schreiben Sie, schmieren Sie! Ich werde Sie niederschreiben,
ich werde Sie platt schreiben wie eine Bettwanze. Ich werde Ihren
krassen Ignorantismus vor der Welt ausklopfen, daß die Motten
herausfliegen sollen; ich werde --«
Ich faßte den empörten Reisegenossen um den Hals und schob ihn zurück;
ich schob auch den nachrückenden grauen Fremdling zurück und hielt die
beiden Streithähne mit meinem triefenden Regenschirm auseinander.
»Herr Prosektor,« sagte ich, »ich bitte jetzt höflichst, mir diesen
Herrn vorzustellen -- Herr Prosektor, ich bitte Sie, sich zu beruhigen
-- mein Herr, lassen Sie mich den Neutralen spielen, lassen Sie mich den
Friedenskongreß eröffnen --«
»Ich bin Professor Steinbüchse aus Berlin,« sprach der Fremdling.
»Professor der Altertumskunde Steinbüchse, auf einer wissenschaftlichen
Reise zu den neuentdeckten Leichenfeldern am Hallstädter See im
Salzkammergut begriffen.«
»Ah!« sagte ich, aber Zuckriegel schrie:
»Er behauptet, es seien keltische Knochen; jedes Kind sieht --«
»Ein Kind sieht hier germanisches Gebein,« schrie Steinbüchse, »aber
jeder unver--«
»Halt, halt, halt, meine Herren!« schrie auch ich jetzt mit aller Kraft
meiner Lungen. »Keinen neuen Friedensbruch! keine unnötigen
Anzüglichkeiten! keine gelehrten Redeblumen! Bitte, Herr Professor,
kommen Sie soeben von diesen fraglichen Knochen zurück?«
»Ich bin auf der Reise dorthin begriffen.«
»Also haben Sie eben diese Knochen noch gar nicht gesehen?«
»Nur durch das Medium der öffentlichen Blätter.«
»Und Sie sind auch noch gar nicht oben am Rudolfsturm gewesen, Herr
Zuckriegel?«
»Bei diesem Wetter? Müßte doch ein Narr sein! Die Knochen schwimmen
nicht fort, und ich kann warten. Lag ruhig auf dem Rücken und las den
Avé-Lallemant, als ich überfallen wurde von diesem -- -- --«
Der Rest der Rede ging in einem undeutlichen Gemurmel verloren, ich
glaube etwas von »böotischem Hochstapler« vernommen zu haben; heiser wie
ein vermittelnder neutraler Gesandter auf einer Friedenskonferenz rief
ich:
»Reichen Sie sich die Hände, meine hochverehrten Herren. Ohne Umstände
-- seien Sie Brüder, wie Sie Kollegen sind. Die Wissenschaft schreitet
am besten durch das heitere Bündnis aller Kräfte fort. Lassen Sie uns
friedfertig zusammen zu Abend essen und morgen früh frisch, fromm, froh
emporsteigen zu diesen geheimnisvollen Gebeinen, und den Streit an Ort
und Stelle zum Austrag bringen.«
Durch mehrere verhängnisvolle Augenblicke sahen sich die beiden
Gelehrten grimmig an; dann aber zeigte Steinbüchse, daß er noch nicht
ganz dem Prosektor ähnlich sei; er erklärte sich bereit, Frieden und den
Mund zu halten bis morgen früh; setzte jedoch hinzu, daß er morgen früh
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