Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 15

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nahe Verwandte, die ihn (der ohne Vermögen ist) zu enterben drohen,
Mächtige, die ihn in jedem Orte und Zustande verfolgen und kränken
können, ein |156.5| Landesfürst, der ihn mit dem Verlust der Freiheit,
ja des Lebens selbst bedroht. Um ihn aber, damit das Maß des Leidens
voll sei, auch den Schmerz fühlen zu lassen, den nur das sittlich gute
Herz recht inniglich fühlen kann, mag man seine mit äußerster Noth
und Dürftigkeit bedrohte Familie ihn um =Nachgiebigkeit anflehend=,
ihn selbst, obzwar rechtschaffen, |156.10| doch eben nicht von festen,
unempfindlichen Organen des Gefühls für Mitleid sowohl als eigener
Noth, in einem Augenblick, darin er wünscht den Tag nie erlebt zu
haben, der ihn einem so unaussprechlichen Schmerz aussetzte, dennoch
seinem Vorsatze der Redlichkeit, ohne zu wanken oder nur zu zweifeln,
treu bleibend vorstellen: so wird mein jugendlicher Zuhörer |156.15|
stufenweise von der bloßen Billigung zur Bewunderung, von da zum
Erstaunen, endlich bis zur größten Verehrung und einem lebhaften
Wunsche, selbst ein solcher Mann sein zu können (obzwar freilich
nicht in seinem Zustande), erhoben werden; und gleichwohl ist hier
die Tugend nur darum so viel werth, weil sie so viel kostet, nicht
weil sie etwas einbringt. |156.20| Die ganze Bewunderung und selbst
Bestrebung zur Ähnlichkeit mit diesem Charakter beruht hier gänzlich
auf der Reinigkeit des sittlichen #279# Grundsatzes, welche nur dadurch
recht in die Augen fallend vorgestellt werden kann, daß man alles,
was Menschen nur zur Glückseligkeit zählen mögen, von den Triebfedern
der Handlung wegnimmt. Also muß die |156.25| Sittlichkeit auf das
menschliche Herz desto mehr Kraft haben, je reiner sie dargestellt
wird. Woraus denn folgt, daß, wenn das Gesetz der Sitten und das Bild
der Heiligkeit und Tugend auf unsere Seele überall einigen Einfluß
ausüben soll, sie diesen nur so fern ausüben könne, als sie rein,
unvermengt von Absichten auf sein Wohlbefinden, als Triebfeder ans Herz
|156.30| gelegt wird, darum weil sie sich im Leiden am herrlichsten
zeigt. Dasjenige aber, dessen Wegräumung die Wirkung einer bewegenden
Kraft verstärkt, muß ein Hinderniß gewesen sein. Folglich ist alle
Beimischung der Triebfedern, die von eigener Glückseligkeit hergenommen
werden, ein Hinderniß, dem moralischen Gesetze Einfluß aufs menschliche
Herz zu verschaffen. |156.35| -- Ich behaupte ferner, daß selbst
in jener bewunderten Handlung, wenn der Bewegungsgrund, daraus sie
geschah, die Hochschätzung seiner Pflicht war, alsdann eben diese
Achtung fürs Gesetz, nicht etwa ein Anspruch auf die innere Meinung
von Großmuth und edler, verdienstlicher Denkungsart, gerade auf das
Gemüth des Zuschauers die größte Kraft habe, folglich Pflicht, nicht
Verdienst den nicht allein bestimmtesten, sondern, wenn sie im rechten
Lichte ihrer Unverletzlichkeit vorgestellt wird, |157.5| #280# auch den
eindringendsten Einfluß aufs Gemüth haben müsse.
In unsern Zeiten, wo man mehr mit schmelzenden, weichherzigen Gefühlen,
oder hochfliegenden, aufblähenden und das Herz eher welk als stark
machenden Anmaßungen über das Gemüth mehr auszurichten hofft, als
durch die der menschlichen Unvollkommenheit und dem Fortschritte
im |157.10| Guten angemeßnere trockne und ernsthafte Vorstellung der
Pflicht, ist die Hinweisung auf diese Methode nöthiger als jemals.
Kindern Handlungen als edele, großmüthige, verdienstliche zum Muster
aufzustellen, in der Meinung, sie durch Einflößung eines Enthusiasmus
für dieselbe einzunehmen, ist vollends zweckwidrig. Denn da sie noch in
der Beobachtung |157.15| der gemeinsten Pflicht und selbst in der
richtigen Beurtheilung derselben so weit zurück sind, so heißt das
so viel, als sie bei Zeiten zu Phantasten zu machen. Aber auch bei
dem belehrtern und erfahrnern Theil der Menschen ist diese vermeinte
Triebfeder, wo nicht von nachtheiliger, wenigstens von keiner ächten
moralischen Wirkung aufs Herz, die man dadurch doch |157.20| hat
zuwegebringen wollen.
Alle =Gefühle=, vornehmlich die, so ungewohnte Anstrengung bewirken
sollen, müssen in dem Augenblicke, da sie in ihrer Heftigkeit sind, und
ehe sie verbrausen, ihre Wirkung thun, sonst thun sie nichts: indem das
Herz natürlicherweise zu seiner natürlichen, gemäßigten Lebensbewegung
|157.25| #281# zurückkehrt und sonach in die Mattigkeit verfällt, die
ihm vorher eigen war, weil zwar etwas, was es reizte, nichts aber, das
es stärkte, an dasselbe gebracht war. =Grundsätze= müssen auf Begriffe
errichtet werden, auf alle andere Grundlage können nur Anwandelungen
zu Stande kommen, die der Person keinen moralischen Werth, ja nicht
einmal eine Zuversicht |157.30| auf sich selbst verschaffen können,
ohne die das Bewußtsein seiner moralischen Gesinnung und eines solchen
Charakters, das höchste Gut im Menschen, gar nicht stattfinden kann.
Diese Begriffe nun, wenn sie subjectiv praktisch werden sollen, müssen
nicht bei den objectiven Gesetzen der Sittlichkeit stehen bleiben,
um sie zu bewundern und in Beziehung auf die |157.35| Menschheit
hochzuschätzen, sondern ihre Vorstellung in Relation auf den Menschen
und auf sein Individuum betrachten; da denn jenes Gesetz in einer
zwar höchst achtungswürdigen, aber nicht so gefälligen Gestalt
erscheint, als ob es zu dem Elemente gehöre, daran er natürlicher
Weise gewohnt ist, sondern wie es ihn nöthigt, dieses oft nicht ohne
Selbstverleugnung zu verlassen und sich in ein höheres zu begeben,
darin er sich mit unaufhörlicher Besorgniß des Rückfalls nur mit
Mühe erhalten kann. |158.5| Mit einem Worte, das moralische Gesetz
verlangt Befolgung aus Pflicht, nicht aus Vorliebe, die man gar nicht
voraussetzten kann und soll.
Laßt uns nun im Beispiele sehen, ob in der Vorstellung einer Handlung
#282# als edler und großmüthiger Handlung mehr subjectiv bewegende
Kraft einer Triebfeder liege, als wenn diese blos als Pflicht in
Verhältniß |158.10| auf das ernste moralische Gesetz vorgestellt wird.
Die Handlung, da jemand mit der größten Gefahr des Lebens Leute aus
dem Schiffbruche zu retten sucht, wenn er zuletzt dabei selbst sein
Leben einbüßt, wird zwar einerseits zur Pflicht, andererseits aber
und größtentheils auch für verdienstliche Handlung angerechnet, aber
unsere Hochschätzung derselben |158.15| wird gar sehr durch den Begriff
von =Pflicht gegen sich selbst=, welche hier etwas Abbruch zu leiden
scheint, geschwächt. Entscheidender ist die großmüthige Aufopferung
seines Lebens zur Erhaltung des Vaterlandes, und doch, ob es auch
so vollkommen Pflicht sei, sich von selbst und unbefohlen dieser
Absicht zu weihen, darüber bleibt einiger Scrupel übrig, |158.20| und
die Handlung hat nicht die ganze Kraft eines Musters und Antriebes
zur Nachahmung in sich. Ist es aber unerlaßliche Pflicht, deren
Übertretung das moralische Gesetz an sich und ohne Rücksicht auf
Menschenwohl verletzt und dessen Heiligkeit gleichsam mit Füßen tritt
(dergleichen Pflichten man Pflichten gegen Gott zu nennen pflegt, weil
wir uns in |158.25| ihm das Ideal der Heiligkeit in Substanz denken),
so widmen wir der Befolgung desselben mit Aufopferung alles dessen,
was für die innigste aller unserer Neigungen nur immer einen Werth
haben mag, die allervollkommenste #283# Hochachtung, und wir finden
unsere Seele durch ein solches Beispiel gestärkt und erhoben, wenn
wir an demselben uns überzeugen |158.30| können, daß die menschliche
Natur zu einer so großen Erhebung über alles, was Natur nur immer an
Triebfedern zum Gegentheil aufbringen mag, fähig sei. =Juvenal= stellt
ein solches Beispiel in einer Steigerung vor, die den Leser die Kraft
der Triebfeder, die im reinen Gesetze der Pflicht als Pflicht steckt,
lebhaft empfinden läßt: |158.35|
_Esto bonus miles, tutor bonus, arbiter idem
Integer; ambiguae si quando citabere testis
Incertaeque rei, Phalaris licet imperet, ut sis
Falsus, et admoto dictet periuria tauro,
Summum crede nefas animam praeferre pudori
Et proper vitam vivendi perdere causas._
Wenn wir irgend etwas Schmeichelhaftes vom Verdienstlichen in |159.5|
unsere Handlung bringen können, dann ist die Triebfeder schon mit
Eigenliebe etwas vermischt, hat also einige Beihülfe von der Seite der
Sinnlichkeit. Aber der Heiligkeit der Pflicht allein alles nachsetzen
und sich bewußt werden, daß man es =könne=, weil unsere eigene Vernunft
dieses als ihr Gebot anerkennt und sagt, daß man es thun =solle=, das
heißt sich |159.10| gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich
erheben, und ist in demselben Bewußtsein des Gesetzes auch als
Triebfeder eines =die Sinnlichkeit beherrschenden= Vermögens
unzertrennlich, wenn gleich nicht immer #284# mit Effect verbunden,
der aber doch auch durch die öftere Beschäftigung mit derselben und
die anfangs kleinern Versuche ihres Gebrauchs Hoffnung |159.15| zu
seiner Bewirkung giebt, um in uns nach und nach das größte, aber reine
moralische Interesse daran hervorzubringen.
Die Methode nimmt also folgenden Gang. =Zuerst= ist es nur darum zu
thun, die Beurtheilung nach moralischen Gesetzen zu einer natürlichen,
alle unsere eigene sowohl als die Beobachtung fremder freier Handlungen
|159.20| begleitenden Beschäftigung und gleichsam zur Gewohnheit zu
machen und sie zu schärfen, indem man vorerst frägt, ob die Handlung
objectiv =dem moralischen Gesetze=, und welchem, =gemäß sei=; wobei
man denn die Aufmerksamkeit auf dasjenige Gesetz, welches blos einen
=Grund= zur Verbindlichkeit an die Hand giebt, von dem unterscheidet,
welches in der That |159.25| =verbindend= ist (_leges obligandi a
legibus obligantibus_), (wie z. B. das Gesetz desjenigen, was das
=Bedürfniß= der Menschen, im Gegensatze dessen, was das =Recht=
derselben von mir fordert, wovon das Letztere wesentliche, das
Erstere aber nur außerwesentliche Pflichten vorschreibt) und so
verschiedene Pflichten, die in einer Handlung zusammenkommen, |159.30|
unterscheiden lehrt. Der andere Punkt, worauf die Aufmerksamkeit
gerichtet werden muß, ist die Frage: ob die Handlung auch (subjectiv)
=um des moralischen Gesetzes willen= geschehen, und also sie nicht
allein #285# sittliche Richtigkeit als That, sondern auch sittlichen
Werth als Gesinnung, ihrer Maxime nach, habe. Nun ist kein Zweifel, daß
diese Übung und |159.35| das Bewußtsein einer daraus entspringenden
Cultur unserer blos über das Praktische urtheilenden Vernunft ein
gewisses Interesse selbst am Gesetze derselben, mithin an sittlich
guten Handlungen nach und nach hervorbringen müsse. Denn wir gewinnen
endlich das lieb, dessen Betrachtung uns den erweiterten Gebrauch
unserer Erkenntnißkräfte empfinden läßt, welchen vornehmlich dasjenige
befördert, worin wir moralische Richtigkeit antreffen: weil sich die
Vernunft in einer solchen Ordnung |160.5| der Dinge mit ihrem Vermögen,
_a priori_ nach Principien zu bestimmen, was geschehen soll, allein
gut finden kann. Gewinnt doch ein Naturbeobachter Gegenstände, die
seinen Sinnen anfangs anstößig sind, endlich lieb, wenn er die große
Zweckmäßigkeit ihrer Organisation daran entdeckt und so seine Vernunft
an ihrer Betrachtung weidet, und Leibniz brachte ein |160.10| Insect,
welches er durchs Mikroskop sorgfältig betrachtet hatte, schonend
wiederum auf sein Blatt zurück, weil er sich durch seinen Anblick
belehrt gefunden und von ihm gleichsam eine Wohltat genossen hatte.
Aber diese Beschäftigung der Urtheilskraft, welche uns unsere eigene
Erkenntnißkräfte fühlen läßt, ist noch nicht das Interesse an den
Handlungen |160.15| #286# und ihrer Moralität selbst. Sie macht blos,
daß man sich gerne mit einer solchen Beurtheilung unterhält, und giebt
der Tugend oder der Denkungsart nach moralischen Gesetzen eine Form der
Schönheit, die bewundert, darum aber noch nicht gesucht wird (_laudatur
et alget_); wie alles, dessen Betrachtung subjectiv ein Bewußtsein
der Harmonie unserer |160.20| Vorstellungskräfte bewirkt, und wobei
wir unser ganzes Erkenntnißvermögen (Verstand und Einbildungskraft)
gestärkt fühlen, ein Wohlgefallen hervorbringt, das sich auch andern
mittheilen läßt, wobei gleichwohl die Existenz des Objects uns
gleichgültig bleibt, indem es nur als die Veranlassung angesehen wird,
der über die Thierheit erhabenen Anlage der |160.25| Talente in uns
inne zu werden. Nun tritt aber die =zweite= Übung ihr Geschäft an,
nämlich in der lebendigen Darstellung der moralischen Gesinnung an
Beispielen die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen, vorerst
nur als negativer Vollkommenheit desselben, so fern in einer Handlung
aus Pflicht gar keine Triebfedern der Neigungen als Bestimmungsgründe
|160.30| auf ihn einfließen; wodurch der Lehrling doch auf das
Bewußtsein seiner =Freiheit= aufmerksam erhalten wird, und, obgleich
diese Entsagung eine anfängliche Empfindung von Schmerz erregt, dennoch
dadurch, daß sie jenen Lehrling dem Zwange selbst wahrer Bedürfnisse
entzieht, ihm zugleich eine Befreiung von der mannigfaltigen
Unzufriedenheit, |160.35| darin ihn alle diese Bedürfnisse verflechten,
angekündigt und das Gemüth #287# für die Empfindung der Zufriedenheit
aus anderen Quellen empfänglich gemacht wird. Das Herz wird doch von
einer Last, die es jederzeit ingeheim drückt, befreit und erleichtert,
wenn an reinen moralischen Entschließungen, davon Beispiele vorgelegt
werden, dem Menschen ein inneres, ihm selbst sonst nicht einmal recht
bekanntes Vermögen, =die innere Freiheit=, aufgedeckt wird, sich
von der ungestümen Zudringlichkeit der |161.5| Neigungen dermaßen
loszumachen, daß gar keine, selbst die beliebteste nicht, auf eine
Entschließung, zu der wir uns jetzt unserer Vernunft bedienen sollen,
Einfluß habe. In einem Falle, wo =ich nur allein= weiß, daß das Unrecht
auf meiner Seite sei, und, obgleich das freie Geständniß desselben
und die Anerbietung zur Genugthuung an der Eitelkeit, dem |161.10|
Eigennutze, selbst dem sonst nicht unrechtmäßigen Widerwillen gegen
den, dessen Recht von mir geschmälert ist, so großen Widerspruch
findet, dennoch mich über alle diese Bedenklichkeiten wegsetzen
kann, ist doch ein Bewußtsein einer Unabhängigkeit von Neigungen und
von Glücksumständen und der Möglichkeit sich selbst genug zu sein
enthalten, welche mir überall |161.15| auch in anderer Absicht heilsam
ist. Und nun findet das Gesetz der Pflicht durch den positiven Werth,
den uns die Befolgung desselben empfinden läßt, leichteren Eingang
durch die =Achtung für uns selbst= im Bewußtsein unserer Freiheit.
Auf diese, wenn sie wohl gegründet ist, #288# wenn der Mensch nichts
stärker scheuet, als sich in der inneren Selbstprüfung |161.20| in
seinen eigenen Augen geringschätzig und verwerflich zu finden, kann nun
jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden: weil dieses der beste,
ja der einzige Wächter ist, das Eindringen unedler und verderbender
Antriebe vom Gemüthe abzuhalten.
Ich habe hiemit nur auf die allgemeinsten Maximen der Methodenlehre
|161.25| einer moralischen Bildung und Übung hinweisen wollen. Da die
Mannigfaltigkeit der Pflichten für jede Art derselben noch besondere
Bestimmungen erforderte und so ein weitläuftiges Geschäfte ausmachen
würde, so wird man mich für entschuldigt halten, wenn ich in einer
Schrift wie diese, die nur Vorübung ist, es bei diesen Grundzügen
bewenden |161.30| lasse.

Beschluß.
Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender
Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken
damit beschäftigt: =der bestirnte Himmel über mir und das |161.35|
moralische Gesetz in mir=. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten
verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen
und blos vermuthen; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar
#289# mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem
Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert
die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten
über Welten |162.5| und Systemen von Systemen, überdem noch in
grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und
Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner
Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre
Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher
(dadurch aber auch zugleich mit allen jenen |162.10| sichtbaren Welten)
ich mich nicht wie dort in blos zufälliger, sondern allgemeiner und
nothwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen
Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines
=thierischen Geschöpfs=, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten
(einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem
|162.15| es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft
versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Werth, als einer
=Intelligenz=, unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher
das moralische Gesetz mir ein von der Thierheit und selbst von der
ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel
sich aus der zweckmäßigen Bestimmung |162.20| meines Daseins durch
dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens
eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, #290# abnehmen läßt.
Allein Bewunderung und Achtung können zwar zur Nachforschung reizen,
aber den Mangel derselben nicht ersetzen. Was ist nun zu thun,
|162.25| um diese auf nutzbare und der Erhabenheit des Gegenstandes
angemessene Art anzustellen? Beispiele mögen hiebei zur Warnung,
aber auch zur Nachahmung dienen. Die Weltbetrachtung fing von dem
herrlichsten Anblicke an, den menschliche Sinne nur immer vorlegen
und unser Verstand in ihrem weiten Umfange zu verfolgen nur immer
vertragen kann, |162.30| und endigte -- mit der Sterndeutung. Die
Moral fing mit der edelsten Eigenschaft in der menschlichen Natur an,
deren Entwicklung und Cultur auf unendlichen Nutzen hinaussieht, und
endigte -- mit der Schwärmerei, oder dem Aberglauben. So geht es allen
noch rohen Versuchen, in denen der vornehmste Theil des Geschäftes
auf den Gebrauch der Vernunft ankommt, |162.35| der nicht so wie der
Gebrauch der Füße sich von selbst vermittelst der öftern Ausübung
findet, vornehmlich wenn er Eigenschaften betrifft, die sich nicht so
unmittelbar in der gemeinen Erfahrung darstellen lassen. Nachdem aber,
wiewohl spät, die Maxime in Schwang gekommen war, alle Schritte vorher
wohl zu überlegen, die die Vernunft zu thun vorhat, und sie nicht
anders als im Gleise einer vorher wohl überdachten Methode ihren Gang
machen zu lassen, so bekam die Beurtheilung des Weltgebäudes |163.5|
#291# eine ganz andere Richtung und mit dieser zugleich einen ohne
Vergleichung glücklichern Ausgang. Der Fall eines Steins, die Bewegung
einer Schleuder, in ihre Elemente und dabei sich äußernde Kräfte
aufgelöst und mathematisch bearbeitet, brachte zuletzt diejenige klare
und für alle Zukunft unveränderliche Einsicht in den Weltbau hervor,
die bei fortgehender |163.10| Beobachtung hoffen kann, sich immer nur
zu erweitern, niemals aber zurückgehen zu müssen fürchten darf.
Diesen Weg nun in Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur
gleichfalls einzuschlagen, kann uns jenes Beispiel anräthig sein
und Hoffnung zu ähnlichem guten Erfolg geben. Wir haben doch die
Beispiele |163.15| der moralisch urtheilenden Vernunft bei Hand. Diese
nun in ihre Elementarbegriffe zu zergliedern, in Ermangelung der
=Mathematik= aber ein der =Chemie= ähnliches Verfahren der =Scheidung=
des Empirischen vom Rationalen, das sich in ihnen vorfinden möchte,
in wiederholten Versuchen am gemeinen Menschenverstande vorzunehmen,
kann uns Beides |163.20| =rein= und, was Jedes für sich allein leisten
könne, mit Gewißheit kennbar machen und so theils der Verirrung einer
noch =rohen=, ungeübten Beurtheilung, theils (welches weit nöthiger
ist) den =Genieschwüngen= vorbeugen, durch welche, wie es von Adepten
des Steins der Weisen zu geschehen pflegt, ohne alle methodische
Nachforschung und Kenntniß der |163.25| #292# Natur geträumte
Schätze versprochen und wahre verschleudert werden. Mit einem Worte:
Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge
Pforte, die zur =Weisheitslehre= führt, wenn unter dieser nicht blos
verstanden wird, was man =thun=, sondern was =Lehrern= zur Richtschnur
dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen |163.30|
soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sicheren;
eine Wissenschaft, deren Aufbewahrerin jederzeit die Philosophie
bleiben muß, an deren subtiler Untersuchung das Publicum keinen
Antheil, wohl aber an den =Lehren= zu nehmen hat, die ihm nach einer
solchen Bearbeitung allererst recht hell einleuchten können. |163.35|


Anmerkungen.

Die Zahlen an den Seiten geben die Originalpaginirung der dem Text zu
Grunde gelegten Ausgaben (1788 und 1793) wieder.


Kritik der praktischen Vernunft.

Herausgeber: =Paul Natorp=.

Einleitung.
B. Erdmann (in der Einleitung zur _Kr. d. r. V._, Bd. IV S. 573ff.)
hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die _Kritik der reinen
Vernunft_ nach der ursprünglichen Absicht Kants die kritische
Grundlegung zur reinen _praktischen Weltweisheit_ oder _Metaphysik der
Sitten_ mitenthalten sollte. Der Plan einer =besonderen= _Kritik der
praktischen Vernunft_ taucht erst spät auf; und es verlohnt wohl der
Mühe, seinem Ursprung nachzuforschen.
Schon die frühste deutliche Ankündigung des kritischen Unternehmens
die _Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem
Winterhalbenjahre von 1765-1766_, spricht von einer _Kritik und
Vorschrift der gesammten Weltweisheit als eines Ganzen_, welche
_Betrachtungen über den Ursprung ihrer Einsichten sowohl, als ihrer
Irrthümer anstellen und den genauen Grundriß entwerfen_ soll, _nach
welchem ein solches Gebäude der Vernunft dauerhaft und regelmäßig soll
aufgeführt werden_ (II 310). Und wenig später (an Lambert, 31. Dec.
1765, X 53) verheisst Kant eine Untersuchung über _die eigenthümliche
Methode der Metaphysick und vermittelst derselben auch der gesammten
Philosophie_. Er will aber _dieses Werk, als das Hauptziel aller
dieser Aussichten, noch ein wenig aussetzen_, weil es ihm noch an
_Beyspielen_ mangle, an denen er +in concreto+ _das eigenthümliche
Verfahren zeigen_ könnte. Aus diesem Grunde will er _einige kleinere
Ausarbeitungen voranschicken, deren Stoff vor mir fertig liegt,
worunter die =metaphysische Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit=
und die =metaph: Anfangsgr: der praktischen Weltweisheit= die ersten
seyn werden, damit die Hauptschrift nicht durch gar zu weitläuftige und
doch unzulängliche Beyspiele allzu sehr gedehnet werde_.
Zu diesen Ausarbeitungen kam es damals nicht. Der Brief an Mendelssohn
vom 8. April 1766 (X 66ff.) über die inzwischen erschienenen _Träume
eines Geistersehers_ zeigt Kant gewillt und gerüstet, direct auf
sein _Hauptziel_ loszugehen. Der Eifer, mit dem ein Lambert auf den
entscheidenden Gedanken einging, die Metaphysik von der Seite der
Methode in sicheren Gang zu bringen, hat dazu jedenfalls kräftig
mitgewirkt. Kant konnte sich, wie er am 2. Sept. 1770 (mit Übersendung
der Dissertation) an Lambert schreibt (X 92f.), _nicht entschließen
etwas minderes, als einen deutlichen Abris von der Gestalt, darinn ich
diese Wissenschaft erblicke, und eine bestimte Idee der eigenthümlichen
Methode in derselben_ dem redlich um Verständigung bemühten Manne
vorzulegen. Die Dissertation selbst aber genügt ihm nicht einmal
als Unterlage der brieflichen Verhandlung mit Lambert, sondern er
stellt diesem einen neuen _Abris dieser ganzen Wissenschaft ... in
einigen wenigen Briefen_ in Aussicht; will sich aber dazu noch etwas
Zeit nehmen und inzwischen -- zur Erholung! -- _diesen Winter seine
Untersuchungen über die reine_ +morali+_sche Weltweisheit, in der
keine_ +empi+_rische_ +principi+_en anzutreffen sind und gleichsam
die_ +metaphysic+ _der Sitten, in Ordnung bringen und ausfertigen_,
um dadurch zugleich _den wichtigsten Absichten bey der veränderten
Form der Metaphysick den Weg zu bahnen_; dies offenbar in der früher
bekundeten Meinung: um bei der neuen methodologischen Grundlegung der
Philosophie auf die concreten Beispiele schon hinweisen zu können.
Wir wundern uns nicht, dass die Ausführung dieser Absicht auch diesmal
unterblieb. Die noch ungelöste Hauptaufgabe musste wohl auf Kant eine
stärkere Anziehungskraft ausüben, seitdem er eingesehen, dass (nach dem
kräftig aufklärenden Worte der Diss. § 23) in +philosophia pura ...
Methodus antevertit omnem scientiam, et quidquid tentatur ante huius
praecepta probe excussa et firmiter stabilita, temere conceptum et
inter vana mentis ludibria reiiciendum videtur+.
So finden wir ihn im Briefe an Herz, 7. Juni 1771 (X 117) wieder
ganz dabei, _ein Werk, welches unter dem Titel: =Die Grentzen der
Sinnlichkeit und der Vernunft= das Verhältnis der vor die Sinnenwelt
bestimten Grundbegriffe und Gesetze zusammt dem Entwurfe dessen,
was die Natur der Geschmackslehre, Metaphysick u. Moral ausmacht,
enthalten soll, etwas ausführlich auszuarbeiten. Den Winter
hindurch_ -- denselben Winter, in dem er die Metaphysik der Sitten
hatte _ausfertigen_ wollen -- ist er _alle_ +materiali+_en dazu
durchgegangen_, hat _alles gesichtet, gewogen, an einander gepaßt_; ist
aber mit dem Plane _nur erst kürzlich fertig geworden_; welcher Plan
aus der obigen losen Aneinanderreihung: Grundbegriffe und Gesetze der
Sinnenwelt _zusammt_ Geschmackslehre, Metaphysik und Moral, freilich
nicht deutlich wird.
Genauere Auskunft giebt der Brief an Herz vom 21. Februar 1772 (X
123ff.). Wir vernehmen hier von zwei verschiedenen Plänen. Nach dem
ersten sollte das Werk von den Grenzen der Sinnlichkeit und der
Vernunft =zwei Theile= erhalten, einen =theoretischen= und einen
=praktischen=; deren Inhalt und weitere Gliederung angegeben werden.
Als er dann zwar daran ging, den theoretischen Theil vollständig
zu durchdenken, thaten sich neue Schwierigkeiten auf. Er glaubt
dieser aber in der Hauptsache Herr geworden und nunmehr im Stande
zu sein, _eine =Critick der reinen Vernunft=, welche die =Natur der
theoretischen so wohl als_ +pract+_ischen Erkentnis=, so fern sie
blos_ +intellectual+ _ist, enthält vorzulegen_, und zwar will er _den
=ersten Theil=, der die Quellen der_ +Metaphysic+, _ihre_ +Methode+ _u.
Grentzen enthält, zuerst und =darauf= die reinen_ +principien+ _der
Sittlichkeit ausarbeiten._
Die Gliederung der _Kritik der reinen Vernunft_ in einen
theoretischen und einen praktischen Theil scheint aber wieder
aufgegeben in dem nächsten Zeugniss, dem Brief von (Oct.?) 1773 an
Herz (X 138), wo wieder ganz deutlich, wie früher, der =einzigen=
_Transscendentalphilosophie oder Critik der reinen Vernunft_ die
=zwei Theile der Metaphysik=: Metaphysik der Natur und der Sitten,
gegenüberstehen; von diesen beabsichtigt er noch immer die letztere
zuerst herauszugeben. Sie war ja seit langem vorbereitet: bereits 1765
lag der _Stoff vor ihm fertig_; am 9. Mai 1767 (X 71) schreibt er an
Herder, dass er daran arbeitet; im Winter 1770/71 hatte er sie, bloss
zur Erholung von der schwereren Arbeit an dem Methodenwerk, fertig
zu machen gedacht; auch nach dem Briefe von 1772 (X 124) hatte er es
in diesem Felde _schon vorher ziemlich weit gebracht_, hatte er die
Principien dafür _schon vorlängst zu seiner ziemlichen Befriedigung
entworfen_. Aber auch jetzt kam es zur Ausführung nicht; alle andern
Ausarbeitungen wurden durch seine Hauptarbeit an der _Kr. d. r. V. wie
durch einen Damm zurückgehalten_ (X 185).
Jene Grunddisposition aber, wonach der einen ungetheilten _Kritik_ die
zweitheilige _Metaphysik_, der Natur und der Sitten, gegenübersteht,
scheint auch in den weiteren Documenten, die sich leider nicht ganz
direct hierüber aussprechen, festgehalten zu werden. Der Brief vom 24.
Nov. 1776 an Herz (X 185, worüber Erdmann a. a. O. 576) widerspricht
dieser Annahme keineswegs, wie wir hernach sehen werden; der andre vom
28. Aug. 1778 (Erdm. 582) bestätigt sie eher. Völlig klar aber lässt
der Brief an Mendelssohn, 16. Aug. 1783 (X 325) erkennen, dass in der
inzwischen erschienenen _Kritik der reinen Vernunft_ die _Vorarbeitung
und sichere Bestimmung_ der Grenze und des =gesammten Inhalts der
ganzen menschlichen Vernunft= seiner Meinung nach gegeben war und nur
die Ausarbeitung der Metaphysik selbst _nach obigen_ (d. h. den in der
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