Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 12

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Paradies, |120.35| oder der =Theosophen= und =Mystiker= schmelzende
Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden
der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut,
gar keine zu haben, als #218# sie auf solche Weise allen Träumereien
preiszugeben. Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann
und es wirklich ist, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es
ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es
sei in theoretischer oder praktischer Absicht, |121.5| nach Principien
_a priori_ urtheilt, und da ist es klar, daß, wenn ihr Vermögen in der
ersteren gleich nicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen,
indessen daß sie ihr auch eben nicht widersprechen, eben diese Sätze,
so bald sie =unabtrennlich zum praktischen Interesse= der reinen
Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf
ihrem |121.10| Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist,
annehmen und sie mit allem, was sie als speculative Vernunft in ihrer
Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen müsse; doch sich
bescheidend, daß dieses nicht ihre Einsichten, aber doch Erweiterungen
ihres Gebrauchs in irgend einer anderen, nämlich praktischen, Absicht
sind, welches ihrem Interesse, |121.15| das in der Einschränkung des
speculativen Frevels besteht, ganz und gar nicht zuwider ist.
In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen
praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das
=Primat=, vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa
=zufällig= und |121.20| beliebig, sondern _a priori_ auf der Vernunft
selbst gegründet, mithin =nothwendig= #219# sei. Denn es würde ohne
diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst
entstehen: weil, wenn sie einander blos beigeordnet (coordinirt) wären,
die erstere für sich ihre Grenze enge verschließen und nichts von der
letzteren in ihr Gebiet aufnehmen, diese aber ihre |121.25| Grenzen
dennoch über alles ausdehnen und, wo es ihr Bedürfniß erheischt, jene
innerhalb der ihrigen mit zu befassen suchen würde. Der speculativen
Vernunft aber untergeordnet zu sein und also die Ordnung umzukehren,
kann man der reinen praktischen gar nicht zumuthen, weil alles
Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen
Vernunft nur bedingt |121.30| und im praktischen Gebrauche allein
vollständig ist.

IV.
Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der reinen praktischen
Vernunft.
Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das nothwendige Object
eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens. In diesem |122.5|
aber ist die =völlige Angemessenheit= der Gesinnungen zum moralischen
Gesetze die oberste Bedingung des höchsten Guts. Sie muß also eben
sowohl möglich sein als ihr Object, weil sie in demselben Gebote
dieses zu #220# befördern enthalten ist. Die völlige Angemessenheit
des Willens aber zum moralischen Gesetze ist =Heiligkeit=, eine
Vollkommenheit, deren kein vernünftiges |122.10| Wesen der Sinnenwelt
in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist. Da sie indessen
gleichwohl als praktisch nothwendig gefordert wird, so kann sie nur
in einem ins =Unendliche= gehenden =Progressus= zu jener völligen
Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach Principien der
reinen praktischen Vernunft nothwendig, eine solche praktische |122.15|
Fortschreitung als das reale Object unseres Willens anzunehmen.
Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer
ins =Unendliche= fortdaurenden =Existenz= und Persönlichkeit desselben
vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt)
möglich. Also ist das höchste Gut praktisch nur unter der Voraussetzung
|122.20| der Unsterblichkeit der Seele möglich, mithin diese, als
unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein POSTULAT
der reinen praktischen Vernunft (worunter ich einen =theoretischen=,
als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er einem
_a priori_ unbedingt geltenden =praktischen= Gesetze unzertrennlich
anhängt). |122.25|
Der Satz von der moralischen Bestimmung unserer Natur, nur allein in
einem ins Unendliche gehenden Fortschritte zur völligen Angemessenheit
mit dem Sittengesetze gelangen zu können, ist von dem größten Nutzen,
#221# nicht blos in Rücksicht auf die gegenwärtige Ergänzung des
Unvermögens der speculativen Vernunft, sondern auch in Ansehung
der Religion. In Ermangelung |122.30| desselben wird entweder das
moralische Gesetz von seiner =Heiligkeit= gänzlich abgewürdigt,
indem man es sich als =nachsichtlich= (indulgent) und so unserer
Behaglichkeit angemessen verkünstelt, oder auch seinen Beruf und
zugleich Erwartung zu einer unerreichbaren Bestimmung, nämlich einem
verhofften völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens, spannt |122.35|
und sich in schwärmende, dem Selbsterkenntniß ganz widersprechende
=theosophische= Träume verliert, durch welches beides das unaufhörliche
=Streben= zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines strengen,
unnachsichtlichen, dennoch aber nicht idealischen, sondern wahren
Vernunftgebots nur verhindert wird. Einem vernünftigen, aber endlichen
Wesen ist |123.5| nur der Progressus ins Unendliche von niederen
zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich. Der
=Unendliche=, dem die Zeitbedingung Nichts ist, sieht in dieser für
uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessenheit mit dem moralischen
Gesetze, und die Heiligkeit, die sein Gebot unnachlaßlich fordert, um
seiner Gerechtigkeit in dem Antheil, den |123.10| er jedem am höchsten
Gute bestimmt, gemäß zu sein, ist in einer einzigen intellectuellen
Anschauung des Daseins vernünftiger Wesen ganz anzutreffen. #222# Was
dem Geschöpfe allein in Ansehung der Hoffnung dieses Antheils zukommen
kann, wäre das Bewußtsein seiner erprüften Gesinnung, um aus seinem
bisherigen Fortschritte vom Schlechteren zum moralisch |123.15|
Besseren und dem dadurch ihm bekannt gewordenen unwandelbaren Vorsatze
eine fernere ununterbrochene Fortsetzung desselben, wie weit seine
Existenz auch immer reichen mag, selbst über dieses Leben hinaus zu
hoffen[12] und so zwar niemals hier, oder in irgend einem absehlichen
künftigen #223# Zeitpunkte seines Daseins, sondern nur in der (Gott
allein übersehbaren) |123.20| Unendlichkeit seiner Fortdauer dem
Willen desselben (ohne Nachsicht oder Erlassung, welche sich mit der
Gerechtigkeit nicht zusammenreimt) völlig adäquat zu sein.
[12] Die =Überzeugung= von der Unwandelbarkeit seiner Gesinnung
im Fortschritte zum Guten scheint gleichwohl auch einem Geschöpfe
für sich unmöglich zu sein. Um deswillen läßt die christliche
Religionslehre sie auch von demselben Geiste, der die Heiligung,
d. i. diesen festen Vorsatz und mit ihm das Bewußtsein der
Beharrlichkeit im moralischen Progressus, wirkt, allein
abstammen. Aber auch natürlicher |123.25| Weise darf derjenige,
der sich bewußt ist, einen langen Theil seines Lebens bis zu
Ende desselben im Fortschritte zum Bessern, und zwar aus ächten
moralischen Bewegungsgründen, angehalten zu haben, sich wohl die
tröstende Hoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit, machen, daß er
auch in einer über dieses Leben hinaus fortgesetzten Existenz
bei diesen Grundsätzen beharren werde, und wiewohl er in seinen
eigenen |123.30| Augen hier nie gerechtfertigt ist, noch bei dem
verhofften künftigen Anwachs seiner Naturvollkommenheit, mit
ihr aber auch seiner Pflichten es jemals hoffen darf, dennoch
in diesem Fortschritte, der, ob er zwar ein ins Unendliche
hinausgerücktes Ziel betrifft, dennoch für Gott als Besitz gilt,
eine Aussicht in eine =selige= Zukunft haben; denn dieses ist
der Ausdruck, dessen sich die Vernunft bedient, um ein von allen
zufälligen |123.35| Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges
=Wohl= zu bezeichnen, welches eben so wie =Heiligkeit= eine
Idee ist, welche nur in einem unendlichen Progressus und dessen
Totalität enthalten sein kann, mithin vom Geschöpfe niemals
völlig erreicht wird.

V.
Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen |124.5|
Vernunft.
Das moralische Gesetz führte in der vorhergehenden Zergliederung zur
praktischen Aufgabe, welche ohne allen Beitritt sinnlicher Triebfedern,
blos durch reine Vernunft vorgeschrieben wird, nämlich der nothwendigen
Vollständigkeit des ersten und vornehmsten Theils des höchsten Guts,
der |124.10| SITTLICHKEIT, und, da diese nur in einer Ewigkeit völlig
aufgelöset werden kann, zum Postulat der =Unsterblichkeit=. Eben dieses
Gesetz muß auch zur Möglichkeit des zweiten Elements des höchsten Guts,
nämlich der jener Sittlichkeit angemessenen GLÜCKSELIGKEIT, eben so
uneigennützig wie #224# vorher, aus bloßer unparteiischer Vernunft,
nämlich auf die Voraussetzung |124.15| des Daseins einer dieser
Wirkung adäquaten Ursache führen, d. i. die =Existenz Gottes=, als
zur Möglichkeit des höchsten Guts (welches Object unseres Willens mit
der moralischen Gesetzgebung der reinen Vernunft nothwendig verbunden
ist) nothwendig gehörig, postuliren. Wir wollen diesen Zusammenhang
überzeugend darstellen. |124.20|
=Glückseligkeit= ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt,
dem es im Ganzen seiner Existenz =alles nach Wunsch und Willen geht=,
und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen
Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens.
Nun gebietet das moralische Gesetz als ein Gesetz der Freiheit |124.25|
durch Bestimmungsgründe, die von der Natur und der Übereinstimmung
derselben zu unserem Begehrungsvermögen (als Triebfedern) ganz
unabhängig sein sollen; das handelnde vernünftige Wesen in der Welt
aber ist doch nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur selbst.
Also ist in dem moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem
nothwendigen |124.30| Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr
proportionirten Glückseligkeit eines zur Welt als Theil gehörigen und
daher von ihr abhängigen Wesens, welches eben darum durch seinen Willen
nicht Ursache dieser Natur sein und sie, was seine Glückseligkeit
betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht
durchgängig einstimmig |124.35| #225# machen kann. Gleichwohl wird in
der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d. i. der nothwendigen
Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammenhang als nothwendig
postulirt: wir =sollen= das höchste Gut (welches also doch möglich
sein muß) zu befördern suchen. Also wird auch das Dasein einer von
der Natur unterschiedenen Ursache der gesammten |125.5| Natur, welche
den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung
der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, =postulirt=. Diese
oberste Ursache aber soll den Grund der Übereinstimmung der Natur nicht
blos mit einem Gesetze des Willens der vernünftigen Wesen, sondern mit
der Vorstellung dieses =Gesetzes=, so fern diese es sich zum |125.10|
=obersten Bestimmungsgrunde des Willens= setzen, also nicht blos mit
den Sitten der Form nach, sondern auch ihrer Sittlichkeit als dem
Bewegungsgrunde derselben, d. i. mit ihrer moralischen Gesinnung,
enthalten. Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, so
fern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der
moralischen Gesinnung |125.15| gemäße Causalität hat. Nun ist ein
Wesen, das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig
ist, eine =Intelligenz= (vernünftig Wesen) und die Causalität eines
solchen Wesens nach dieser Vorstellung der Gesetze ein =Wille=
desselben. Also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum
höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das |125.20| #226#
durch =Verstand= und =Willen= die Ursache (folglich der Urheber) der
Natur ist, d. i. GOTT. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des
=höchsten abgeleiteten Guts= (der besten Welt) zugleich das Postulat
der Wirklichkeit eines =höchsten ursprünglichen Guts=, nämlich der
Existenz Gottes. Nun war es Pflicht für uns das höchste Gut zu
befördern, mithin |125.25| nicht allein Befugniß, sondern auch mit der
Pflicht als Bedürfniß verbundene Nothwendigkeit, die Möglichkeit dieses
höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung
des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der
Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch nothwendig,
das Dasein Gottes anzunehmen. |125.30|
Hier ist nun wohl zu merken, daß diese moralische Nothwendigkeit
=subjectiv=, d. i. Bedürfniß, und nicht =objectiv=, d. i. selbst
Pflicht, sei; denn es kann gar keine Pflicht geben, die Existenz
eines Dinges anzunehmen (weil dieses blos den theoretischen Gebrauch
der Vernunft angeht). Auch wird hierunter nicht verstanden, daß
die Annehmung des Daseins Gottes, |125.35| =als eines Grundes aller
Verbindlichkeit überhaupt=, nothwendig sei (denn dieser beruht, wie
hinreichend bewiesen worden, lediglich auf der Autonomie der Vernunft
selbst). Zur Pflicht gehört hier nur die Bearbeitung zu Hervorbringung
und Beförderung des höchsten Guts in der Welt, dessen Möglichkeit also
postulirt werden kann, die aber unsere Vernunft #227# nicht anders
denkbar findet, als unter Voraussetzung einer höchsten Intelligenz,
deren Dasein anzunehmen also mit dem Bewußtsein unserer |126.5| Pflicht
verbunden ist, obzwar diese Annehmung selbst für die theoretische
Vernunft gehört, in Ansehung deren allein sie, als Erklärungsgrund
betrachtet, =Hypothese=, in Beziehung aber auf die Verständlichkeit
eines uns doch durchs moralische Gesetz ausgegebenen Objects (des
höchsten Guts), mithin eines Bedürfnisses in praktischer Absicht,
=Glaube= und |126.10| zwar reiner =Vernunftglaube= heißen kann, weil
blos reine Vernunft (sowohl ihrem theoretischen als praktischen
Gebrauche nach) die Quelle ist, daraus er entspringt.
Aus dieser =Deduction= wird es nunmehr begreiflich, warum die
=griechischen= Schulen zur Auflösung ihres Problems von der praktischen
|126.15| Möglichkeit des höchsten Guts niemals gelangen konnten: weil
sie nur immer die Regel des Gebrauchs, den der Wille des Menschen von
seiner Freiheit macht, zum einzigen und für sich allein zureichenden
Grunde derselben machten, ohne ihrem Bedünken nach das Dasein Gottes
dazu zu bedürfen. Zwar thaten sie daran recht, daß sie das Princip
der Sitten unabhängig |126.20| von diesem Postulat für sich selbst
aus dem Verhältniß der Vernunft allein zum Willen festsetzten und
es mithin zur =obersten= praktischen Bedingung des höchsten Guts
machten; es war aber darum nicht die =ganze= Bedingung der Möglichkeit
desselben. Die =Epikureer= hatten nun #228# zwar ein ganz falsches
Princip der Sitten zum obersten angenommen, |126.25| nämlich das der
Glückseligkeit, und eine Maxime der beliebigen Wahl nach jedes seiner
Neigung für ein Gesetz untergeschoben: aber darin verfuhren sie doch
=consequent= genug, daß sie ihr höchstes Gut eben so, nämlich der
Niedrigkeit ihres Grundsatzes proportionirlich, abwürdigten und keine
größere Glückseligkeit erwarteten, als die sich durch menschliche
Klugheit |126.30| (wozu auch Enthaltsamkeit und Mäßigung der Neigungen
gehört) erwerben läßt, die, wie man weiß, kümmerlich genug und nach
Umständen sehr verschiedentlich ausfallen muß; die Ausnahmen, welche
ihre Maximen unaufhörlich einräumen mußten, und die sie zu Gesetzen
untauglich machen, nicht einmal gerechnet. Die =Stoiker= hatten dagegen
ihr oberstes praktisches |126.35| Princip, nämlich die Tugend, als
Bedingung des höchsten Guts ganz richtig gewählt, aber indem sie den
Grad derselben, der für das reine Gesetz derselben erforderlich ist,
als in diesem Leben völlig erreichbar vorstellten, nicht allein das
moralische Vermögen des =Menschen= unter dem Namen eines Weisen
über alle Schranken seiner Natur hoch gespannt und etwas, das aller
Menschenkenntniß widerspricht, angenommen, sondern auch vornehmlich
das zweite zum höchsten Gut gehörige =Bestandstück=, |127.5| nämlich
die Glückseligkeit, gar nicht für einen besonderen Gegenstand des
menschlichen Begehrungsvermögens wollen gelten lassen, sondern ihren
#229# =Weisen= gleich einer Gottheit im Bewußtsein der Vortrefflichkeit
seiner Person von der Natur (in Absicht auf seine Zufriedenheit) ganz
unabhängig gemacht, indem sie ihn zwar Übeln des Lebens aussetzten,
aber |127.10| nicht unterwarfen (zugleich auch als frei vom Bösen
darstellten) und so wirklich das zweite Element des höchsten Guts,
eigene Glückseligkeit, wegließen, indem sie es blos im Handeln und
der Zufriedenheit mit seinem persönlichen Werthe setzten und also im
Bewußtsein der sittlichen Denkungsart mit einschlossen, worin sie
aber durch die Stimme ihrer eigenen |127.15| Natur hinreichend hätten
widerlegt werden können.
Die Lehre des Christenthums[13], wenn man sie auch noch nicht als
Religionslehre betrachtet, giebt in diesem Stücke einen Begriff des
höchsten #230# Guts (des Reichs Gottes), der allein der strengsten
Forderung der praktischen #231# Vernunft ein Gnüge thut. Das moralische
Gesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fordert Heiligkeit der Sitten,
obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen
kann, immer nur Tugend ist, d. i. gesetzmäßige Gesinnung aus =Achtung=
fürs Gesetz, folglich Bewußtsein |128.5| eines continuirlichen Hanges
zur Übertretung, wenigstens Unlauterkeit, d. i. Beimischung vieler
unächter (nicht moralischer) Bewegungsgründe zur Befolgung des
Gesetzes, folglich eine mit Demuth verbundene Selbstschätzung und also
in Ansehung der Heiligkeit, welche das christliche Gesetz fordert,
nichts als Fortschritt ins Unendliche dem Geschöpfe übrig |128.10|
läßt, eben daher aber auch dasselbe zur Hoffnung seiner ins Unendliche
gehenden Fortdauer berechtigt. Der =Werth= einer dem moralischen
Gesetze =völlig= angemessenen Gesinnung ist unendlich: weil alle
mögliche Glückseligkeit im Urtheile eines weisen und alles vermögenden
Austheilers derselben keine andere Einschränkung hat, als den Mangel
der Angemessenheit |128.15| vernünftiger Wesen an ihrer Pflicht. Aber
das moralische Gesetz für sich =verheißt= doch keine Glückseligkeit;
denn diese ist nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt mit
der Befolgung desselben nicht nothwendig verbunden. Die christliche
Sittenlehre ergänzt nun diesen Mangel (des zweiten unentbehrlichen
Bestandstücks des höchsten Guts) durch die |128.20| Darstellung der
Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer
Seele weihen, als eines =Reichs Gottes=, in welchem Natur #232# und
Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch
einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich
macht. Die =Heiligkeit= der Sitten wird ihnen in diesem Leben schon zur
|128.25| Richtschnur angewiesen, das dieser proportionirte Wohl aber,
die =Seligkeit=, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt: weil
=jene= immer das Urbild ihres Verhaltens in jedem Stande sein muß, und
das Fortschreiten zu ihr schon in diesem Leben möglich und nothwendig
ist, =diese= aber in dieser Welt unter dem Namen der Glückseligkeit
gar nicht erreicht |129.5| werden kann (so viel auf unser Vermögen
ankommt) und daher lediglich zum Gegenstande der Hoffnung gemacht wird.
Diesem ungeachtet ist das christliche Princip der =Moral= selbst doch
nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen
praktischen Vernunft für sich selbst, weil sie die Erkenntniß Gottes
und seines Willens nicht zum Grunde dieser |129.10| Gesetze, sondern
nur der Gelangung zum höchsten Gute unter der Bedingung der Befolgung
derselben macht und selbst die eigentliche =Triebfeder= zu Befolgung
der ersteren nicht in den gewünschten Folgen derselben, sondern in der
Vorstellung der Pflicht allein setzt, als in deren treuer Beobachtung
die Würdigkeit des Erwerbs der letztern allein besteht. |129.15|
[13] Man hält gemeiniglich dafür, die christliche Vorschrift der
Sitten habe in Ansehung ihrer Reinigkeit vor dem moralischen
Begriffe der Stoiker nichts voraus; |127.20| allein der
Unterschied beider ist doch sehr sichtbar. Das stoische System
machte das Bewußtsein der Seelenstärke zum Angel, um den
sich alle sittliche Gesinnungen wenden sollten, und ob die
Anhänger desselben zwar von Pflichten redeten, auch sie ganz
wohl bestimmten, so setzten sie doch die Triebfeder und den
eigentlichen Bestimmungsgrund des Willens in einer Erhebung
der Denkungsart über die niedrige und nur |127.25| durch
Seelenschwäche machthabende Triebfedern der Sinne. Tugend war
also bei ihnen ein gewisser Heroism des über die thierische
Natur des Menschen sich erhebenden =Weisen=, der ihm selbst
genug ist, andern zwar Pflichten vorträgt, selbst aber über sie
erhaben und keiner Versuchung zu Übertretung des sittlichen
Gesetzes unterworfen ist. Dieses alles aber konnten sie nicht
thun, wenn sie sich dieses Gesetz zu der Reinigkeit |127.30| und
Strenge, als es die Vorschrift des Evangelii thut, vorgestellt
hätten. Wenn ich unter einer =Idee= eine Vollkommenheit verstehe,
der nichts in der Erfahrung adäquat gegeben werden kann, so
sind die moralischen Ideen darum nichts Überschwengliches,
d. i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Begriff
hinreichend bestimmen könnten, oder von dem es ungewiß ist,
ob ihm überall ein Gegenstand |127.35| correspondire, wie die
Ideen der speculativen Vernunft, sondern dienen als Urbilder der
praktischen Vollkommenheit zur unentbehrlichen Richtschnur
des sittlichen Verhaltens und zugleich zum =Maßstabe der
Vergleichung=. Wenn ich nun die =christliche Moral= von ihrer
philosophischen Seite betrachte, so würde sie, mit den Ideen der
griechischen Schulen verglichen, so erscheinen: Die Ideen der
=Cyniker=, der =Epikureer=, der =Stoiker= und der =Christen=
sind: die =Natureinfalt=, die =Klugheit=, die =Weisheit= und
die =Heiligkeit=. In Ansehung des Weges, dazu zu gelangen,
unterschieden sich die griechischen Philosophen so von einander,
daß die Cyniker dazu |128.30| den =gemeinen Menschenverstand=,
die andern nur den Weg der =Wissenschaft=, beide also doch bloßen
=Gebrauch der natürlichen Kräfte= dazu hinreichend fanden. Die
christliche Moral, weil sie ihre Vorschrift (wie es auch sein
muß) so rein und unnachsichtlich einrichtet, benimmt dem Menschen
das Zutrauen, wenigstens hier im Leben, ihr völlig adäquat zu
sein, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, |128.35|
daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem =Vermögen= ist,
wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns
anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf
welche Art, oder nicht. =Aristoteles= und =Plato= unterschieden
=Ursprungs= unserer sittlichen Begriffe.
Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des
#233# höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen
praktischen Vernunft, zur =Religion=, d. i. zur =Erkenntniß aller
Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanctionen, d. i.
willkürliche, für sich selbst zufällige Verordnungen eines fremden
Willens=, sondern |129.20| als wesentlicher Gesetze eines jeden freien
Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten
Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch
vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen
das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebung zu setzen
uns das moralische Gesetz zur Pflicht |129.25| macht, und also durch
Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können. Auch
hier bleibt daher alles uneigennützig und blos auf Pflicht gegründet;
ohne daß Furcht oder Hoffnung als Triebfedern zum Grunde gelegt werden
dürften, die, wenn sie zu Principien werden, den ganzen moralischen
Werth der Handlungen vernichten. Das moralische |129.30| Gesetz
gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten
Gegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses aber kann ich nicht
zu bewirken hoffen, als nur durch die Übereinstimmung meines Willens
mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers; und obgleich in dem
Begriffe des höchsten Guts als dem eines Ganzen, worin die größte
Glückseligkeit |129.35| mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen
möglicher) Vollkommenheit #234# als in der genausten Proportion
verbunden vorgestellt wird, =meine eigene Glückseligkeit= mit enthalten
ist: so ist doch nicht sie, sondern das moralische Gesetz (welches
vielmehr mein unbegrenztes Verlangen darnach auf Bedingungen strenge
einschränkt) der Bestimmungsgrund des Willens, der zur Beförderung des
höchsten Guts angewiesen wird. |130.5|
Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns
glücklich =machen=, sondern wie wir der Glückseligkeit =würdig= werden
sollen. Nur dann, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung
ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße theilhaftig zu werden, als
wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein. |130.10|
=Würdig= ist jemand des Besitzes einer Sache oder eines Zustandes,
wenn, daß er in diesem Besitze sei, mit dem höchsten Gute
zusammenstimmt. Man kann jetzt leicht einsehen, daß alle Würdigkeit auf
das sittliche Verhalten ankomme, weil dieses im Begriffe des höchsten
Guts die Bedingung des übrigen (was zum Zustande gehört), nämlich des
Antheils |130.15| an Glückseligkeit, ausmacht. Nun folgt hieraus: daß
man die =Moral= an sich niemals als =Glückseligkeitslehre= behandeln
müsse, d. i. als eine Anweisung der Glückseligkeit theilhaftig zu
werden; denn sie hat es lediglich mit der Vernunftbedingung (_conditio
sine qua non_) der letzteren, #235# nicht mit einem Erwerbmittel
derselben zu thun. Wenn sie aber (die blos |130.20| Pflichten
auferlegt, nicht eigennützigen Wünschen Maßregeln an die Hand giebt)
vollständig vorgetragen worden: alsdann allererst kann, nachdem der
sich auf ein Gesetz gründende moralische Wunsch das höchste Gut zu
befördern (das Reich Gottes zu uns zu bringen), der vorher keiner
eigennützigen Seele aufsteigen konnte, erweckt und ihm zum Behuf der
Schritt |130.25| zur Religion geschehen ist, diese Sittenlehre auch
Glückseligkeitslehre genannt werden, weil die =Hoffnung= dazu nur mit
der Religion allererst anhebt.
Auch kann man hieraus ersehen: daß, wenn man nach dem =letzten Zwecke
Gottes= in Schöpfung der Welt frägt, man nicht die =Glückseligkeit=
|130.30| der vernünftigen Wesen in ihr, sondern =das höchste Gut=
nennen müsse, welches jenem Wunsche dieser Wesen noch eine Bedingung,
nämlich die der Glückseligkeit würdig zu sein, d. i. die =Sittlichkeit=
eben derselben vernünftigen Wesen, hinzufügt, die allein den Maßstab
enthält, nach welchem sie allein der ersteren durch die Hand eines
=weisen= Urhebers |130.35| theilhaftig zu werden hoffen können. Denn
da =Weisheit=, theoretisch betrachtet, =die Erkenntniß des höchsten
Guts= und praktisch =die Angemessenheit des Willens zum höchsten
Gute= bedeutet, so kann man einer höchsten selbstständigen Weisheit
nicht einen Zweck beilegen, der blos auf =Gütigkeit= gegründet wäre.
Denn dieser ihre Wirkung (in #236# Ansehung der Glückseligkeit der
vernünftigen Wesen) kann man nur unter den einschränkenden Bedingungen
der Übereinstimmung mit der =Heiligkeit=[14] |131.5| seines Willens als
dem höchsten ursprünglichen Gute angemessen denken. Daher diejenige,
welche den Zweck der Schöpfung in die Ehre Gottes (vorausgesetzt, daß
man diese nicht anthropomorphistisch, als Neigung gepriesen zu werden,
denkt) setzten, wohl den besten Ausdruck getroffen haben. Denn nichts
ehrt Gott mehr als das, was das Schätzbarste |131.10| in der Welt ist,
die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die
uns sein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstalt dazu #237#
kommt, eine solche schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit
zu krönen. Wenn ihn das letztere (auf menschliche Art zu reden)
liebenswürdig macht, so ist er durch das erstere ein Gegenstand der
Anbetung |131.15| (Adoration). Selbst Menschen können sich durch
Wohlthun zwar Liebe, aber dadurch allein niemals Achtung erwerben, so
daß die größte Wohlthätigkeit ihnen nur dadurch Ehre macht, daß sie
nach Würdigkeit ausgeübt wird.
[14] Hiebei, und um das Eigenthümliche dieser Begriffe
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