Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 11

Total number of words is 3897
Total number of unique words is 1071
43.0 of words are in the 2000 most common words
55.8 of words are in the 5000 most common words
61.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
mit eingeschlossen |109.35| ist, alsdann das höchste Gut nicht blos
=Object=, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch
unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der
=Bestimmungsgrund= des reinen Willens sei: weil alsdann in der That das
in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische
Gesetz und kein anderer Gegenstand nach dem Princip der Autonomie den
Willen bestimmt. Diese Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung
darf nicht aus den Augen gelassen |110.5| werden: weil man sonst sich
selbst mißversteht und sich zu widersprechen glaubt, wo doch alles in
der vollkommensten Harmonie neben einander steht.

Zweites Hauptstück. #198#
Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des |110.10|
Begriffs vom höchsten Gut.
Der Begriff des =Höchsten= enthält schon eine Zweideutigkeit, die, wenn
man darauf nicht Acht hat, unnöthige Streitigkeiten veranlassen kann.
Das Höchste kann das Oberste (_supremum_) oder auch das Vollendete
(_consummatum_) bedeuten. Das erstere ist diejenige Bedingung,
|110.15| die selbst unbedingt, d. i. keiner andern untergeordnet, ist
(_originarium_); das zweite dasjenige Ganze, das kein Theil eines
noch größeren Ganzen von derselben Art ist (_perfectissimum_). Daß
Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein) die =oberste Bedingung=
alles dessen, was uns nur wünschenswerth scheinen mag, mithin auch
aller unserer Bewerbung um |110.20| Glückseligkeit, mithin das
=oberste= Gut sei, ist in der Analytik bewiesen worden. Darum ist
sie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des
Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen; denn um das zu sein,
wird auch =Glückseligkeit= dazu erfordert und zwar nicht blos in den
parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke |110.25|
#199# macht, sondern selbst im Urtheile einer unparteiischen Vernunft,
die jene überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet. Denn der
Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben
nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines
vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns
auch nur ein solches zum |110.30| Versuche denken, gar nicht zusammen
bestehen. So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des
höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz
genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren
Würdigkeit glücklich zu sein) ausgetheilt, das =höchste Gut= einer
möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das |110.35| Ganze, das
vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste
Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit
immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht
für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist,
sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung
voraussetzt. |111.5|
Zwei in einem Begriffe =nothwendig= verbundene Bestimmungen müssen
als Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder so, daß
diese =Einheit= als =analytisch= (logische Verknüpfung) oder als
=synthetisch= (reale Verbindung), jene nach dem Gesetze der Identität,
diese der #200# Causalität betrachtet wird. Die Verknüpfung der Tugend
mit der Glückseligkeit |111.10| kann also entweder so verstanden werden,
daß die Bestrebung tugendhaft zu sein und die vernünftige Bewerbung
um Glückseligkeit nicht zwei verschiedene, sondern ganz identische
Handlungen wären, da denn der ersteren keine andere Maxime, als zu der
letztern zum Grunde gelegt zu werden brauchte: oder jene Verknüpfung
wird darauf ausgesetzt, daß |111.15| Tugend die Glückseligkeit als
etwas von dem Bewußtsein der ersteren Unterschiedenes, wie die Ursache
eine Wirkung, hervorbringe.
Von den alten griechischen Schulen waren eigentlich nur zwei, die
in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gute so fern zwar einerlei
Methode befolgten, daß sie Tugend und Glückseligkeit nicht als zwei
verschiedene |111.20| Elemente des höchsten Guts gelten ließen, mithin
die Einheit des Princips nach der Regel der Identität suchten; aber
darin schieden sie sich wiederum, daß sie unter beiden den Grundbegriff
verschiedentlich wählten. Der =Epikureer= sagte: sich seiner auf
Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der
=Stoiker=: sich seiner Tugend bewußt |111.25| sein, ist Glückseligkeit.
Dem ersteren war =Klugheit= so viel als Sittlichkeit; dem zweiten, der
eine höhere Benennung für die Tugend wählte, war =Sittlichkeit= allein
wahre Weisheit.
Man muß bedauren, daß die Scharfsinnigkeit dieser Männer (die #201#
man doch zugleich darüber bewundern muß, daß sie in so frühen Zeiten
|111.30| schon alle erdenkliche Wege philosophischer Eroberungen
versuchten) unglücklich angewandt war, zwischen äußerst ungleichartigen
Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität
zu ergrübeln. Allein es war dem dialektischen Geiste ihrer Zeiten
angemessen, was auch jetzt bisweilen subtile Köpfe verleitet,
wesentliche und nie zu vereinigende Unterschiede |111.35| in Principien
dadurch aufzuheben, daß man sie in Wortstreit zu verwandeln sucht
und so dem Scheine nach Einheit des Begriff blos unter verschiedenen
Benennungen erkünstelt, und dieses trifft gemeiniglich solche Fälle,
wo die Vereinigung ungleichartiger Gründe so tief oder hoch liegt,
oder eine so gänzliche Umänderung der sonst im philosophischen System
angenommenen Lehren erfordern würde, daß man Scheu trägt sich in den
realen Unterschied tief einzulassen und ihn lieber als Uneinigkeit in
bloßen |112.5| Formalien behandelt.
Indem beide Schulen Einerleiheit der praktischen Principien der Tugend
und Glückseligkeit zu ergrübeln suchten, so waren sie darum nicht
unter sich einhellig, wie sie diese Identität herauszwingen wollten,
sondern schieden sich in unendliche Weiten von einander, indem die
eine ihr Princip |112.10| auf der ästhetischen, die andere auf der
logischen Seite, jene im Bewußtsein des sinnlichen Bedürfnisses, die
andere in der Unabhängigkeit #202# der praktischen Vernunft von allen
sinnlichen Bestimmungsgründen setzte. Der Begriff der Tugend lag nach
dem =Epikureer= schon in der Maxime seine eigene Glückseligkeit zu
befördern; das Gefühl der Glückseligkeit war |112.15| dagegen nach
dem =Stoiker= schon im Bewußtsein seiner Tugend enthalten. Was aber
in einem andern Begriffe enthalten ist, ist zwar mit einem Theile
des Enthaltenden, aber nicht mit dem Ganzen einerlei, und zwei Ganze
können überdem specifisch von einander unterschieden sein, ob sie
zwar aus eben demselben Stoffe bestehen, wenn nämlich die Theile in
|112.20| beiden auf ganz verschiedene Art zu einem Ganzen verbunden
werden. Der Stoiker behauptete, Tugend sei das =ganze höchste Gut=
und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzes derselben als zum
Zustand des Subjects gehörig. Der Epikureer behauptete, Glückseligkeit
sei das =ganze höchste Gut= und Tugend nur die Form der Maxime sich um
sie zu bewerben, |112.25| nämlich im vernünftigen Gebrauche der Mittel
zu derselben.
Nun ist aber aus der Analytik klar, daß die Maximen der Tugend und
die der eigenen Glückseligkeit in Ansehung ihres obersten praktischen
Princips ganz ungleichartig sind und, weit gefehlt, einhellig zu
sein, ob sie gleich zu einem höchsten Guten gehören, um das letztere
möglich zu |112.30| machen, einander in demselben Subjecte gar sehr
einschränken und Abbruch thun. Also bleibt die Frage: =wie ist das
höchste Gut praktisch #203# möglich?= noch immer unerachtet aller
bisherigen =Coalitionsversuche= eine unaufgelösete Aufgabe. Das aber,
was sie zu einer schwer zu lösenden Aufgabe macht, ist in der Analytik
gegeben, nämlich daß Glückseligkeit |112.35| und Sittlichkeit zwei
specifisch ganz =verschiedene Elemente= des höchsten Guts sind, und
ihre Verbindung also =nicht analytisch= erkannt werden könne (daß
etwa der, so seine Glückseligkeit sucht, in diesem seinem Verhalten
sich durch bloße Auflösung seiner Begriffe tugendhaft, oder der, so
der Tugend folgt, sich im Bewußtsein eines solchen Verhaltens schon
_ipso facto_ glücklich finden werde), sondern eine =Synthesis= der
Begriffe sei. Weil aber diese Verbindung als _a priori_, mithin
praktisch nothwendig, |113.5| folglich nicht als aus der Erfahrung
abgeleitet erkannt wird, und die Möglichkeit des höchsten Guts also
auf keinen empirischen Principien beruht, so wird die =Deduction=
dieses Begriffs =transscendental= sein müssen. Es ist _a priori_
(moralisch) nothwendig, =das höchste Gut durch Freiheit des Willens
hervorzubringen=; es muß also auch die Bedingung |113.10| der
Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnißgründen _a priori_
beruhen.

I. #204#
Die Antinomie der praktischen Vernunft.
In dem höchsten für uns praktischen, d. i. durch unsern Willen wirklich
|113.15| zu machenden, Gute werden Tugend und Glückseligkeit als
nothwendig verbunden gedacht, so daß das eine durch reine praktische
Vernunft nicht angenommen werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm
gehöre. Nun ist diese Verbindung (wie eine jede überhaupt) entweder
=analytisch=, oder =synthetisch=. Da diese gegebene aber nicht
analytisch sein kann, wie |113.20| nur eben vorher gezeigt worden,
so muß sie synthetisch und zwar als Verknüpfung der Ursache mit der
Wirkung gedacht werden: weil sie ein praktisches Gut, d. i. was durch
Handlung möglich ist, betrifft. Es muß also entweder die Begierde nach
Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime
der Tugend muß die wirkende Ursache der |113.25| Glückseligkeit sein.
Das erste ist =schlechterdings= unmöglich: weil (wie in der Analytik
bewiesen worden) Maximen, die den Bestimmungsgrund des Willens in dem
Verlangen nach seiner Glückseligkeit setzen, gar nicht moralisch sind
und keine Tugend gründen können. Das zweite ist aber =auch unmöglich=,
weil alle praktische Verknüpfung der Ursachen und der |113.30|
Wirkungen in der Welt als Erfolg der Willensbestimmung sich nicht nach
#205# moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntniß der
Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu
gebrauchen, richtet, folglich keine nothwendige und zum höchsten Gut
zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt
durch die pünktlichste |113.35| Beobachtung der moralischen Gesetze
erwartet werden kann. Da nun die Beförderung des höchsten Guts,
welches diese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein _a priori_
nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze
unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren
auch die Falschheit des zweiten beweisen. |114.5| Ist also das höchste
Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische
Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf
leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.

II. |114.10|
Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft.
In der Antinomie der reinen speculativen Vernunft findet sich ein
ähnlicher Widerstreit zwischen Naturnothwendigkeit und Freiheit in der
|114.15| Causalität der Begebenheiten in der Welt. Er wurde dadurch
gehoben, daß bewiesen wurde, es sei kein wahrer Widerstreit, wenn man
die Begebenheiten #206# und selbst die Welt, darin sie sich ereignen,
(wie man auch soll) nur als Erscheinungen betrachtet; da ein und
dasselbe handelnde Wesen =als Erscheinung= (selbst vor seinem eignen
innern Sinne) eine Causalität in der Sinnenwelt hat, die jederzeit dem
Naturmechanism |114.20| gemäß ist, in Ansehung derselben Begebenheit
aber, so fern sich die handelnde Person zugleich als =Noumenon=
betrachtet (als reine Intelligenz, in seinem nicht der Zeit nach
bestimmbaren Dasein), einen Bestimmungsgrund jener Causalität nach
Naturgesetzen, der selbst von allem Naturgesetze frei ist, enthalten
könne. |114.25|
Mit der vorliegenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft ist es
nun eben so bewandt. Der erste von den zwei Sätzen, daß das Bestreben
nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe,
ist =schlechterdings falsch=; der zweite aber, daß Tugendgesinnung
nothwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist =nicht schlechterdings=,
|114.30| sondern nur so fern sie als die Form der Causalität in der
Sinnenwelt betrachtet wird, und mithin, wenn ich das Dasein in
derselben für die einzige Art der Existenz des vernünftigen Wesens
annehme, also nur =bedingter Weise= falsch. Da ich aber nicht allein
befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt
zu denken, sondern sogar |114.35| am moralischen Gesetze einen rein
intellectuellen Bestimmungsgrund meiner Causalität (in der Sinnenwelt)
habe, so ist es nicht unmöglich, #207# daß die Sittlichkeit der
Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst
eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar nothwendigen
Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung |115.5| in
der Sinnenwelt habe, welche Verbindung in einer Natur, die blos Object
der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden und zum höchsten
Gut nicht zulangen kann.
Also ist unerachtet dieses scheinbaren Widerstreits einer praktischen
Vernunft mit sich selbst das höchste Gut der nothwendige höchste
Zweck |115.10| eines moralisch bestimmten Willens, ein wahres Object
derselben; denn es ist praktisch möglich, und die Maximen des
letzteren, die sich darauf ihrer Materie nach beziehen, haben objective
Realität, welche anfänglich durch jene Antinomie in Verbindung der
Sittlichkeit mit Glückseligkeit nach einem allgemeinen Gesetze
getroffen wurde, aber aus bloßem Mißverstande, |115.15| weil man das
Verhältniß zwischen Erscheinungen für ein Verhältniß der Dinge an sich
selbst zu diesen Erscheinungen hielt.
Wenn wir uns genöthigt sehen, die Möglichkeit des höchsten Guts, dieses
durch die Vernunft allen vernünftigen Wesen ausgesteckten Ziels aller
ihrer moralischen Wünsche, in solcher Weite, nämlich in der Verknüpfung
|115.20| mit einer intelligibelen Welt, zu suchen, so muß es befremden,
#208# daß gleichwohl die Philosophen alter sowohl als neuer Zeiten die
Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon =in
diesem Leben= (in der Sinnenwelt) haben finden, oder sich ihrer bewußt
zu sein haben überreden können. Denn =Epikur= sowohl, als die =Stoiker=
erhoben |115.25| die Glückseligkeit, die aus dem Bewußtsein der
Tugend im Leben entspringe, über alles, und der erstere war in seinen
praktischen Vorschriften nicht so niedrig gesinnt, als man aus den
Principien seiner Theorie, die er zum Erklären, nicht zum Handeln
brauchte, schließen möchte, oder wie sie viele, durch den Ausdruck
Wollust für Zufriedenheit verleitet, ausdeuteten, |115.30| sondern
rechnete die uneigennützigste Ausübung des Guten mit zu den Genußarten
der innigsten Freude, und die Gnügsamkeit und Bändigung der Neigungen,
so wie sie immer der strengste Moralphilosoph fordern mag, gehörte
mit zu seinem Plane eines Vergnügens (er verstand darunter das stets
fröhliche Herz); wobei er von den Stoikern vornehmlich |115.35|
nur darin abwich, daß er in diesem Vergnügen den Bewegungsgrund
setzte, welches die letztern, und zwar mit Recht, verweigerten. Denn
einestheils fiel der tugendhafte Epikur, so wie noch jetzt viele
moralisch wohlgesinnte, obgleich über ihre Principien nicht tief genug
nachdenkende Männer, in den Fehler, die tugendhafte =Gesinnung= in den
Personen schon vorauszusetzen, für die er die Triebfeder zur Tugend
zuerst angeben wollte (und in der That kann der Rechtschaffene sich
nicht glücklich finden, |116.5| #209# wenn er sich nicht zuvor seiner
Rechtschaffenheit bewußt ist: weil bei jener Gesinnung die Verweise,
die er bei Übertretungen sich selbst zu machen durch seine eigene
Denkungsart genöthigt sein würde, und die moralische Selbstverdammung
ihn alles Genusses der Annehmlichkeit, die sonst sein Zustand enthalten
mag, berauben würden). Allein die Frage ist: wodurch |116.10| wird
eine solche Gesinnung und Denkungsart, den Werth seines Daseins zu
schätzen, zuerst möglich, da vor derselben noch gar kein Gefühl für
einen moralischen Werth überhaupt im Subjecte angetroffen werden würde?
Der Mensch wird, wenn er tugendhaft ist, freilich, ohne sich in jeder
Handlung seiner Rechtschaffenheit bewußt zu sein, des Lebens nicht
|116.15| froh werden, so günstig ihm auch das Glück im physischen
Zustande desselben sein mag; aber um ihn allererst tugendhaft zu
machen, mithin ehe er noch den moralischen Werth seiner Existenz so
hoch anschlägt, kann man ihm da wohl die Seelenruhe anpreisen, die aus
dem Bewußtsein einer Rechtschaffenheit entspringen werde, für die er
doch keinen Sinn hat? |116.20|
Andrerseits aber liegt hier immer der Grund zu einem Fehler des
Erschleichens (_vitium subreptionis_) und gleichsam einer optischen
Illusion in dem Selbstbewußtsein dessen, was man =thut=, zum
Unterschiede dessen, was man =empfindet=, die auch der Versuchteste
nicht völlig vermeiden #210# kann. Die moralische Gesinnung ist
mit einem Bewußtsein der Bestimmung |116.25| des Willens =unmittelbar
durchs Gesetz= nothwendig verbunden. Nun ist das Bewußtsein einer
Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens
an der Handlung, die dadurch hervorgebracht wird; aber diese Lust,
dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist nicht der Bestimmungsgrund
der Handlung, sondern die Bestimmung |116.30| des Willens unmittelbar,
blos durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls der Lust, und
jene bleibt eine reine praktische, nicht ästhetische Bestimmung
des Begehrungsvermögens. Da diese Bestimmung nun innerlich gerade
dieselbe Wirkung eines Antriebs zur Thätigkeit thut, als ein Gefühl
der Annehmlichkeit, die aus der begehrten Handlung erwartet |116.35|
wird, würde gethan haben, so sehen wir das, was wir selbst thun,
leichtlich für etwas an, was wir blos leidentlich fühlen, und nehmen
die moralische Triebfeder für sinnlichen Antrieb, wie das allemal in
der sogenannten Täuschung der Sinne (hier des innern) zu geschehen
pflegt. Es ist etwas sehr Erhabenes in der menschlichen Natur,
unmittelbar durch ein reines Vernunftgesetz zu Handlungen bestimmt zu
werden, und sogar die Täuschung, das Subjective dieser intellectuellen
Bestimmbarkeit des |117.5| Willens für etwas Ästhetisches und Wirkung
eines besondern sinnlichen Gefühls (denn ein intellectuelles wäre
ein Widerspruch) zu halten. Es ist auch von großer Wichtigkeit, auf
diese Eigenschaft unserer Persönlichkeit #211# aufmerksam zu machen
und die Wirkung der Vernunft auf dieses Gefühl bestmöglichst zu
cultiviren. Aber man muß sich auch in Acht nehmen, |117.10| durch
unächte Hochpreisungen dieses moralischen Bestimmungsgrundes als
Triebfeder, indem man ihm Gefühle besonderer Freuden als Gründe (die
doch nur Folgen sind) unterlegt, die eigentliche, ächte Triebfeder, das
Gesetz selbst, gleichsam wie durch eine falsche Folie herabzusetzen
und zu verunstalten. Achtung und nicht Vergnügen oder Genuß der
Glückseligkeit |117.15| ist also etwas, wofür kein der Vernunft zum
Grunde gelegtes, =vorhergehendes= Gefühl (weil dieses jederzeit
ästhetisch und pathologisch sein würde) möglich ist, als Bewußtsein der
unmittelbaren Nöthigung des Willens durch Gesetz, ist kaum ein Analogon
des Gefühls der Lust, indem es im Verhältnisse zum Begehrungsvermögen
gerade eben dasselbe, aber |117.20| aus andern Quellen thut; durch
diese Vorstellungsart aber kann man allein erreichen, was man sucht,
nämlich daß Handlungen nicht blos pflichtmäßig (angenehmen Gefühlen zu
Folge), sondern aus Pflicht geschehen, welches der wahre Zweck aller
moralischen Bildung sein muß.
Hat man aber nicht ein Wort, welches nicht einen Genuß, wie das |117.25|
der Glückseligkeit, bezeichnete, aber doch ein Wohlgefallen an seiner
Existenz, ein Analogon der Glückseligkeit, welche das Bewußtsein
der Tugend nothwendig begleiten muß, anzeigte? Ja! dieses Wort ist
=Selbstzufriedenheit=, #212# welches in seiner eigentlichen Bedeutung
jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz andeutet,
in welchem man nichts |117.30| zu bedürfen sich bewußt ist. Freiheit
und das Bewußtsein derselben als eines Vermögens, mit überwiegender
Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist =Unabhängigkeit
von Neigungen=, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als
=afficirenden=) Bewegursachen unseres Begehrens, und, so fern als ich
mir derselben in der Befolgung meiner |117.35| moralischen Maximen
bewußt bin, der einzige Quell einer nothwendig damit verbundenen, auf
keinem besonderen Gefühle beruhenden, unveränderlichen Zufriedenheit,
und diese kann intellectuell heißen. Die ästhetische (die uneigentlich
so genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigungen, so fein
sie auch immer ausgeklügelt werden mögen, beruht, kann niemals dem,
was man sich darüber denkt, adäquat sein. Denn die Neigungen wechseln,
wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren |118.5| läßt,
und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen
gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit
=lästig=, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nöthigen
sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein. Selbst eine
Neigung zum Pflichtmäßigen (z. B. zur Wohlthätigkeit) kann zwar die
Wirksamkeit |118.10| der =moralischen= Maximen sehr erleichtern, aber
keine hervorbringen. #213# Denn alles muß in dieser auf der Vorstellung
des Gesetzes als Bestimmungsgrunde angelegt sein, wenn die Handlung
nicht blos =Legalität=, sondern auch =Moralität= enthalten soll.
Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht,
und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit |118.15| ankommt, muß nicht
blos den Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht
zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr eigenes Interesse ganz
allein besorgen. Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen
Theilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht
und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden |118.20| Personen selbst
lästig, bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung und bewirkt
den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft
unterworfen zu sein.
Hieraus läßt sich verstehen: wie das Bewußtsein dieses Vermögens einer
reinen praktischen Vernunft durch That (die Tugend) ein Bewußtsein
|118.25| der Obermacht über seine Neigungen, hiemit also der
Unabhängigkeit von denselben, folglich auch der Unzufriedenheit, die
diese immer begleitet, und also ein negatives Wohlgefallen mit seinem
Zustande, d. i. =Zufriedenheit=, hervorbringen könne, welche in ihrer
Quelle Zufriedenheit mit seiner Person ist. Die Freiheit selbst wird
auf solche Weise (nämlich indirect) |118.30| eines Genusses fähig,
welcher nicht Glückseligkeit heißen kann, weil er #214# nicht vom
positiven Beitritt eines Gefühls abhängt, auch genau zu reden nicht
=Seligkeit=, weil er nicht gänzliche Unabhängigkeit von Neigungen und
Bedürfnissen enthält, der aber doch der letztern ähnlich ist, so fern
nämlich wenigstens seine Willensbestimmung sich von ihrem Einflusse
frei |118.35| halten kann, und also wenigstens seinem Ursprunge nach
der Selbstgenugsamkeit analogisch ist, die man nur dem höchsten Wesen
beilegen kann.
Aus dieser Auflösung der Antinomie der praktischen reinen Vernunft
folgt, daß sich in praktischen Grundsätzen eine natürliche und
nothwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und
der Erwartung einer ihr proportionirten Glückseligkeit, als Folge
derselben, wenigstens als möglich denken (darum aber freilich noch
eben nicht erkennen und einsehen) |119.5| lasse; dagegen daß Grundsätze
der Bewerbung um Glückseligkeit unmöglich Sittlichkeit hervorbringen
können; daß also das =oberste= Gut (als die erste Bedingung des
höchsten Guts) Sittlichkeit, Glückseligkeit dagegen zwar das zweite
Element desselben ausmache, doch so, daß diese nur die moralisch
bedingte, aber doch nothwendige Folge der ersteren sei. |119.10|
In dieser Unterordnung allein ist das =höchste Gut= das ganze
Object der reinen praktischen Vernunft, die es sich nothwendig als
möglich vorstellen muß, weil es ein Gebot derselben ist, zu dessen
Hervorbringung alles Mögliche beizutragen. Weil aber die Möglichkeit
einer solchen Verbindung #215# des Bedingten mit seiner Bedingung
gänzlich zum übersinnlichen Verhältnisse |119.15| der Dinge gehört und
nach Gesetzen der Sinnenwelt gar nicht gegeben werden kann, obzwar
die praktische Folge dieser Idee, nämlich die Handlungen, die darauf
abzielen, das höchste Gut wirklich zu machen, zur Sinnenwelt gehören:
so werden wir die Gründe jener Möglichkeit erstlich in Ansehung dessen,
was unmittelbar in unserer Gewalt ist, und dann |119.20| zweitens in
dem, was uns Vernunft als Ergänzung unseres Unvermögens zur Möglichkeit
des höchsten Guts (nach praktischen Principien nothwendig) darbietet
und nicht in unserer Gewalt ist, darzustellen suchen.

III.
Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft |119.25| in ihrer
Verbindung mit der speculativen.
Unter dem Primate zwischen zwei oder mehreren durch Vernunft
verbundenen Dingen verstehe ich den Vorzug des einen, der erste
Bestimmungsgrund der Verbindung mit allen übrigen zu sein. In engerer,
praktischer Bedeutung bedeutet es den Vorzug des Interesse des einen,
so |119.30| fern ihm (welches keinem andern nachgesetzt werden kann)
das Interesse der andern untergeordnet ist. Einem jeden Vermögen des
Gemüths kann #216# man ein =Interesse= beilegen, d. i. ein Princip,
welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung
desselben befördert wird. Die Vernunft als das Vermögen der Principien
bestimmt das Interesse aller |119.35| Gemüthskräfte, das ihrige aber
sich selbst. Das Interesse ihres speculativen Gebrauchs besteht in der
=Erkenntniß= des Objects bis zu den höchsten Principien _a priori_, das
des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des =Willens= in Ansehung
des letzten und vollständigen Zwecks. Das, was zur Möglichkeit eines
Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich |120.5| ist, nämlich daß die
Principien und Behauptungen derselben einander nicht widersprechen
müssen, macht keinen Theil ihres Interesse aus, sondern ist die
Bedingung überhaupt Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die
bloße Zusammenstimmung mit sich selbst wird zum Interesse derselben
gezählt. |120.10|
Wenn praktische Vernunft nichts weiter annehmen und als gegeben
denken darf, als was =speculative= Vernunft für sich ihr aus ihrer
Einsicht darreichen konnte, so führt diese das Primat. Gesetzt aber,
sie hätte für sich ursprüngliche Principien _a priori_, mit denen
gewisse theoretische Positionen unzertrennlich verbunden wären, die
sich gleichwohl aller möglichen |120.15| Einsicht der speculativen
Vernunft entzögen (ob sie zwar derselben auch nicht widersprechen
müßten), so ist die Frage, welches Interesse das oberste #217# sei
(nicht, welches weichen müßte, denn eines widerstreitet dem andern
nicht nothwendig): ob speculative Vernunft, die nichts von allem dem
weiß, was praktische ihr anzunehmen darbietet, diese Sätze aufnehmen
und sie, |120.20| ob sie gleich für sie überschwenglich sind, mit ihren
Begriffen als einen fremden, auf sie übertragenen Besitz zu vereinigen
suchen müsse, oder ob sie berechtigt sei, ihrem eigenen, abgesonderten
Interesse hartnäckig zu folgen und nach der Kanonik des =Epikurs= alles
als leere Vernünftelei auszuschlagen, was seine objective Realität
nicht durch augenscheinliche, |120.25| in der Erfahrung aufzustellende
Beispiele beglaubigen kann, wenn es gleich noch so sehr mit dem
Interesse des praktischen (reinen) Gebrauchs verwebt, an sich auch
der theoretischen nicht widersprechend wäre, blos weil es wirklich so
fern dem Interesse der speculativen Vernunft Abbruch thut, daß es die
Grenzen, die diese sich selbst gesetzt, aufhebt und sie allem Unsinn
|120.30| oder Wahnsinn der Einbildungskraft preisgiebt.
In der That, so fern praktische Vernunft als pathologisch bedingt,
d. i. das Interesse der Neigungen unter dem sinnlichen Princip der
Glückseligkeit blos verwaltend, zum Grunde gelegt würde, so ließe sich
diese Zumuthung an die speculative Vernunft gar nicht thun. =Mahomets=
You have read 1 text from German literature.
Next - Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 12