Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 10

Total number of words is 3994
Total number of unique words is 1135
43.1 of words are in the 2000 most common words
57.1 of words are in the 5000 most common words
62.6 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
machen, in ihrem synkretistischen System mit einschließen), aber als
Schmerz doch ganz rechtmäßig ist, weil die Vernunft, wenn es auf das
Gesetz unserer intelligibelen Existenz (das moralische) ankommt, keinen
Zeitunterschied anerkennt und nur frägt, ob die Begebenheit mir als
That angehöre, alsdann aber immer dieselbe Empfindung damit moralisch
verknüpft, sie mag |99.5| jetzt geschehen oder vorlängst geschehen
sein. Denn das =Sinnenleben= hat in Ansehung des =intelligibelen=
Bewußtseins seines Daseins (der Freiheit) absolute Einheit eines
Phänomens, welches, so fern es blos Erscheinungen von der Gesinnung,
die das moralische Gesetz angeht, (von dem Charakter) enthält, nicht
nach der Naturnothwendigkeit, die ihm als |99.10| Erscheinung zukommt,
sondern nach der absoluten Spontaneität der Freiheit beurtheilt werden
muß. Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in
eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als
äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die
mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen |99.15| alle
auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten
auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsterniß
ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch #178#
frei sei. Wenn wir nämlich noch eines andern Blicks (der uns aber
freilich gar nicht verliehen ist, sondern an dessen Statt wir nur
den Vernunftbegriff |99.20| haben), nämlich einer intellectuellen
Anschauung desselben Subjects, fähig wären, so würden wir doch inne
werden, daß diese ganze Kette von Erscheinungen in Ansehung dessen, was
nur immer das moralische Gesetz angehen kann, von der Spontaneität des
Subjects als Dinges an sich selbst abhängt, von deren Bestimmung sich
gar keine physische Erklärung |99.25| geben läßt. In Ermangelung dieser
Anschauung versichert uns das moralische Gesetz diesen Unterschied der
Beziehung unserer Handlungen als Erscheinungen auf das Sinnenwesen
unseres Subjects von derjenigen, dadurch dieses Sinnenwesen selbst auf
das intelligibele Substrat in uns bezogen wird. -- In dieser Rücksicht,
die unserer Vernunft natürlich, obgleich |99.30| unerklärlich ist,
lassen sich auch Beurtheilungen rechtfertigen, die, mit aller
Gewissenhaftigkeit gefällt, dennoch dem ersten Anscheine nach aller
Billigkeit ganz zu widerstreiten scheinen. Es giebt Fälle, wo Menschen
von Kindheit auf, selbst unter einer Erziehung, die mit der ihrigen
zugleich andern ersprießlich war, dennoch so frühe Bosheit zeigen und
so |99.35| bis in ihre Mannesjahre zu steigen fortfahren, daß man sie
für geborne Bösewichter und gänzlich, was die Denkungsart betrifft,
für unbesserlich hält, gleichwohl aber sie wegen ihres Thuns und
Lassens eben so richtet, #179# ihnen ihre Verbrechen eben so als Schuld
verweiset, ja sie (die Kinder) selbst diese Verweise so ganz gegründet
finden, als ob sie ungeachtet der ihnen beigemessenen hoffnungslosen
Naturbeschaffenheit ihres Gemüths eben so verantwortlich blieben, als
jeder andere Mensch. Dieses würde |100.5| nicht geschehen können,
wenn wir nicht voraussetzten, daß alles, was aus seiner Willkür
entspringt (wie ohne Zweifel jede vorsetzlich verübte Handlung), eine
freie Causalität zum Grunde habe, welche von der frühen Jugend an
ihren Charakter in ihren Erscheinungen (den Handlungen) ausdrückt,
die wegen der Gleichförmigkeit des Verhaltens einen Naturzusammenhang
|100.10| kenntlich machen, der aber nicht die arge Beschaffenheit des
Willens nothwendig macht, sondern vielmehr die Folge der freiwillig
angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze ist, welche ihn nur
noch um desto verwerflicher und strafwürdiger machen.
Aber noch steht eine Schwierigkeit der Freiheit bevor, so fern sie
|100.15| mit dem Naturmechanism in einem Wesen, das zur Sinnenwelt
gehört, vereinigt werden soll; eine Schwierigkeit, die, selbst nachdem
alles bisherige eingewilligt worden, der Freiheit dennoch mit ihrem
gänzlichen Untergange droht. Aber bei dieser Gefahr giebt ein Umstand
doch zugleich Hoffnung zu einem für die Behauptung der Freiheit noch
glücklichen |100.20| Ausgange, nämlich daß dieselbe Schwierigkeit viel
stärker (in der #180# That, wie wir bald sehen werden, allein) das
System drückt, in welchem die in Zeit und Raum bestimmbare Existenz für
die Existenz der Dinge an sich selbst gehalten wird, sie uns also nicht
nöthigt, unsere vornehmste Voraussetzung von der Idealität der Zeit
als bloßer Form sinnlicher Anschauung, |100.25| folglich als bloßer
Vorstellungsart, die dem Subjecte als zur Sinnenwelt gehörig eigen ist,
abzugehen, und also nur erfordert sie mit dieser Idee zu vereinigen.
Wenn man uns nämlich auch einräumt, daß das intelligibele Subject
in Ansehung einer gegebenen Handlung noch frei sein kann, obgleich
|100.30| es als Subject, das auch zur Sinnenwelt gehörig, in Ansehung
derselben mechanisch bedingt ist, so scheint es doch, man müsse, so
bald man annimmt, Gott als allgemeines Urwesen sei =die Ursache=
auch =der Existenz der Substanz= (ein Satz, der niemals aufgegeben
werden darf, ohne den Begriff von Gott als Wesen aller Wesen und
hiemit seine Allgenugsamkeit, |100.35| auf die alles in der Theologie
ankommt, zugleich mit aufzugeben), auch einräumen, die Handlungen des
Menschen haben in demjenigen ihren bestimmenden Grund, =was gänzlich
außer ihrer Gewalt ist=, nämlich in der Causalität eines von ihm
unterschiedenen höchsten Wesens, von welchem das Dasein des erstern
und die ganze Bestimmung seiner Causalität ganz und gar abhängt. In
der That: wären #181# die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen
Bestimmungen in der |101.5| Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen
desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so
würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette,
oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem
obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es
zwar zu einem denkenden Automate |101.10| machen, in welchem aber das
Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird,
bloße Täuschung wäre, indem sie nur comparativ so genannt zu werden
verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung und
eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf zwar
innerlich sind, die letzte und höchste |101.15| aber doch gänzlich
in einer fremden Hand angetroffen wird. Daher sehe ich nicht ab, wie
diejenige, welche noch immer dabei beharren, Zeit und Raum für zum
Dasein der Dinge an sich selbst gehörige Bestimmungen anzusehen, hier
die Fatalität der Handlungen vermeiden wollen, oder, wenn sie so
geradezu (wie der sonst scharfsinnige =Mendelssohn= that) |101.20|
beide nur als zur Existenz endlicher und abgeleiteter Wesen, aber
nicht zu der des unendlichen Urwesens nothwendig gehörige Bedingungen
einräumen, sich rechtfertigen wollen, woher sie diese Befugniß nehmen,
einen solchen Unterschied zu machen, sogar wie sie auch nur dem
Widerspruche #182# ausweichen wollen, den sie begehen, wenn sie das
Dasein in der Zeit als |101.25| den endlichen Dingen an sich nothwendig
anhängende Bestimmung ansehen, da Gott die Ursache dieses Daseins ist,
er aber doch nicht die Ursache der Zeit (oder des Raums) selbst sein
kann (weil diese als nothwendige Bedingung _a priori_ dem Dasein der
Dinge vorausgesetzt sein muß), seine Causalität folglich in Ansehung
der Existenz dieser Dinge |101.30| selbst der Zeit nach bedingt
sein muß, wobei nun alle die Widersprüche gegen die Begriffe seiner
Unendlichkeit und Unabhängigkeit unvermeidlich eintreten müssen.
Hingegen ist es uns ganz leicht, die Bestimmung der göttlichen
Existenz als unabhängig von allen Zeitbedingungen zum Unterschiede
von der eines Wesens der Sinnenwelt als die =Existenz eines |101.35|
Wesens an sich selbst= von der eines =Dinges in der Erscheinung= zu
unterscheiden. Daher, wenn man jene Idealität der Zeit und des Raums
nicht annimmt, nur allein der =Spinozism= übrig bleibt, in welchem Raum
und Zeit wesentliche Bestimmungen des Urwesens selbst sind, die von ihm
abhängige Dinge aber (also auch wir selbst) nicht Substanzen, sondern
blos ihm inhärirende Accidenzen sind: weil, wenn diese Dinge blos als
seine Wirkungen =in der Zeit= existiren, welche die Bedingung |102.5|
ihrer Existenz an sich wäre, auch die Handlungen dieser Wesen blos
seine Handlungen sein müßten, die er irgendwo und irgendwann ausübte.
Daher schließt der Spinozism unerachtet der Ungereimtheit seiner
Grundidee #183# doch weit bündiger, als es nach der Schöpfungstheorie
geschehen kann, wenn die für Substanzen angenommene und an sich =in der
Zeit existirende |102.10| Wesen= als Wirkungen einer obersten Ursache
und doch nicht zugleich zu ihm und seiner Handlung gehörig, sondern für
sich als Substanzen angesehen werden.
Die Auflösung obgedachter Schwierigkeit geschieht kurz und einleuchtend
auf folgende Art: Wenn die Existenz =in der Zeit= eine bloße |102.15|
sinnliche Vorstellungsart der denkenden Wesen in der Welt ist, folglich
sie als Dinge an sich selbst nicht angeht: so ist die Schöpfung dieser
Wesen eine Schöpfung der Dinge an sich selbst, weil der Begriff
einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz
und zur Causalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden
kann. Folglich, wenn |102.20| ich von Wesen in der Sinnenwelt sage: sie
sind erschaffen, so betrachte ich sie so fern als Noumenen. So wie
es also ein Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von
Erscheinungen, so ist es auch ein Widerspruch, zu sagen, er sei
als Schöpfer Ursache der Handlungen in der Sinnenwelt, mithin als
Erscheinungen, wenn er gleich Ursache des Daseins der handelnden
|102.25| Wesen (als Noumenen) ist. Ist es nun möglich (wenn wir nur das
Dasein in der Zeit für etwas, was blos von Erscheinungen, nicht von
Dingen an sich selbst gilt, annehmen), die Freiheit unbeschadet
dem Naturmechanism #184# der Handlungen als Erscheinungen zu
behaupten, so kann, daß die handelnden Wesen Geschöpfe sind, nicht
die mindeste Änderung hierin |102.30| machen, weil die Schöpfung ihre
intelligibele, aber nicht sensibele Existenz betrifft und also nicht
als Bestimmungsgrund der Erscheinungen angesehen werden kann; welches
aber ganz anders ausfallen würde, wenn die Weltwesen als Dinge an sich
selbst =in der Zeit= existirten, da der Schöpfer der Substanz zugleich
der Urheber des ganzen Maschinenwesens an |102.35| dieser Substanz sein
würde.
Von so großer Wichtigkeit ist die in der Kritik der reinen
speculativen Vernunft verrichtete Absonderung der Zeit (so wie des
Raums) von der Existenz der Dinge an sich selbst.
Die hier vorgetragene Auflösung der Schwierigkeit hat aber, wird man
sagen, doch viel Schweres in sich und ist einer hellen Darstellung kaum
empfänglich. Allein ist denn jede andere, die man versucht hat oder
|103.5| versuchen mag, leichter und faßlicher? Eher möchte man sagen,
die dogmatischen Lehrer der Metaphysik hätten mehr ihre Verschmitztheit
als Aufrichtigkeit darin bewiesen, daß sie diesen schwierigen Punkt
so weit wie möglich aus den Augen brachten, in der Hoffnung, daß,
wenn sie davon gar nicht sprächen, auch wohl niemand leichtlich an
ihn denken würde. |103.10| Wenn einer Wissenschaft geholfen werden
soll, so müssen alle Schwierigkeiten =aufgedeckt= und sogar diejenigen
=aufgesucht= werden, die ihr noch #185# so ingeheim im Wege liegen;
denn jede derselben ruft ein Hülfsmittel auf, welches, ohne der
Wissenschaft einen Zuwachs, es sei an Umfang, oder an Bestimmtheit, zu
verschaffen, nicht gefunden werden kann, wodurch also |103.15| selbst
die Hindernisse Beförderungsmittel der Gründlichkeit der Wissenschaft
werden. Dagegen, werden die Schwierigkeiten absichtlich verdeckt, oder
blos durch Palliativmittel gehoben, so brechen sie über kurz oder lang
in unheilbare Übel aus, welche die Wissenschaft in einem gänzlichen
Scepticism zu Grunde richten. |103.20|
* * * * *
Da es eigentlich der Begriff der Freiheit ist, der unter allen Ideen
der reinen speculativen Vernunft allein so große Erweiterung im Felde
des Übersinnlichen, wenn gleich nur in Ansehung des praktischen
Erkenntnisses verschafft, so frage ich mich: =woher denn ihm
ausschließungsweise eine so große Fruchtbarkeit zu Theil geworden sei=,
indessen |103.25| die übrigen zwar die leere Stelle für reine mögliche
Verstandeswesen bezeichnen, den Begriff von ihnen aber durch nichts
bestimmen können. Ich begreife bald, daß, da ich nichts ohne Kategorie
denken kann, diese auch in der Idee der Vernunft von der Freiheit,
mit der ich mich beschäftige, zuerst müsse aufgesucht werden, welche
hier die Kategorie der =Causalität= |103.30| ist, und daß, wenn gleich
dem =Vernunftbegriffe= der Freiheit als überschwenglichem Begriffe
keine correspondirende Anschauung untergelegt #186# werden kann,
dennoch dem =Verstandesbegriffe= (der Causalität), für dessen Synthesis
=jener= das Unbedingte fordert, zuvor eine sinnliche Anschauung
gegeben werden müsse, dadurch ihm zuerst die objective Realität
|103.35| gesichert wird. Nun sind alle Kategorien in zwei Classen,
die =mathematische=, welche blos auf die Einheit der Synthesis in der
Vorstellung der Objecte, und die =dynamische=, welche auf die in der
Vorstellung der Existenz der Objecte gehen, eingetheilt. Die erstere
(die der Größe und der Qualität) enthalten jederzeit eine Synthesis des
=Gleichartigen=, in |104.5| welcher das Unbedingte zu dem in der
sinnlichen Anschauung gegebenen Bedingten in Raum und Zeit, da
es selbst wiederum zum Raume und der Zeit gehören und also immer
wiederum bedingt sein müßte, gar nicht kann gefunden werden; daher
auch in der Dialektik der reinen theoretischen Vernunft die einander
entgegengesetzte Arten, das Unbedingte und die |104.10| Totalität der
Bedingungen für sie zu finden, beide falsch waren. Die Kategorien der
zweiten Classe (die der Causalität und der Nothwendigkeit eines Dinges)
erforderten diese Gleichartigkeit (des Bedingten und der Bedingung
in der Synthesis) gar nicht, weil hier nicht die Anschauung, wie sie
aus einem Mannigfaltigen in ihr zusammengesetzt, sondern nur |104.15|
wie die Existenz des ihr correspondirenden bedingten Gegenstandes
zu der Existenz der Bedingung (im Verstande als damit verknüpft)
hinzukomme, #187# vorgestellt werden sollte, und da war es erlaubt,
zu dem durchgängig Bedingten in der Sinnenwelt (sowohl in Ansehung
der Causalität als des zufälligen Daseins der Dinge selbst) das
Unbedingte, obzwar übrigens |104.20| unbestimmt, in der intelligibelen
Welt zu setzen und die Synthesis transscendent zu machen; daher denn
auch in der Dialektik der reinen speculativen Vernunft sich fand, daß
beide dem Scheine nach einander entgegengesetzte Arten das Unbedingte
zum Bedingten zu finden, z. B. in der Synthesis der Causalität zum
Bedingten in der Reihe der Ursachen und Wirkungen |104.25| der
Sinnenwelt der Causalität, die weiter nicht sinnlich bedingt ist, zu
denken, sich in der That nicht widerspreche, und daß dieselbe Handlung,
die, als zur Sinnenwelt gehörig, jederzeit sinnlich bedingt, d. i.
mechanisch nothwendig ist, doch zugleich auch, als zur Causalität
des handelnden Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehörig
ist, eine sinnlich unbedingte |104.30| Causalität zum Grunde haben,
mithin als frei gedacht werden könne. Nun kam es blos darauf an, daß
dieses =Können= in ein =Sein= verwandelt würde, d. i., daß man in
einem wirklichen Falle gleichsam durch ein Factum beweisen könne: daß
gewisse Handlungen eine solche Causalität (die intellectuelle, sinnlich
unbedingte) voraussetzen, sie mögen nun wirklich, oder auch |104.35|
nur geboten, d. i. objectiv praktisch nothwendig sein. An wirklich in
der Erfahrung gegebenen Handlungen, als Begebenheiten der Sinnenwelt,
konnten #188# wir diese Verknüpfung nicht anzutreffen hoffen, weil die
Causalität durch Freiheit immer außer der Sinnenwelt im Intelligibelen
gesucht werden muß. Andere Dinge außer den Sinnenwesen sind uns aber
zur Wahrnehmung und Beobachtung nicht gegeben. Also blieb nichts übrig,
als daß etwa ein unwidersprechlicher und zwar objectiver Grundsatz
der |105.5| Causalität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrer
Bestimmung ausschließt, d. i. ein Grundsatz, in welchem die Vernunft
sich nicht weiter auf etwas =Anderes= als Bestimmungsgrund in Ansehung
der Causalität beruft, sondern den sie durch jenen Grundsatz schon
selbst enthält, und wo sie also als =reine Vernunft= selbst praktisch
ist, gefunden werde. Dieser |105.10| Grundsatz aber bedarf keines
Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft
gewesen und ihrem Wesen einverleibt und ist der Grundsatz der
=Sittlichkeit=. Also ist jene unbedingte Causalität und das Vermögen
derselben, die Freiheit, mit dieser aber ein Wesen (ich selber),
welches zur Sinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligibelen
|105.15| gehörig nicht blos unbestimmt und problematisch =gedacht=
(welches schon die speculative Vernunft als thunlich ausmitteln
konnte), sondern sogar in =Ansehung des Gesetzes= ihrer Causalität
=bestimmt= und assertorisch =erkannt= und so uns die Wirklichkeit der
intelligibelen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht =bestimmt=,
gegeben worden, und diese Bestimmung, |105.20| #189# die in
theoretischer Absicht =transscendent= (überschwenglich) sein würde,
ist in praktischer =immanent=. Dergleichen Schritt aber konnten wir in
Ansehung der zweiten dynamischen Idee, nämlich der eines =nothwendigen
Wesens=, nicht thun. Wir konnten zu ihm aus der Sinnenwelt ohne
Vermittelung der ersteren dynamischen Idee nicht hinauf kommen. Denn
|105.25| wollten wir es versuchen, so müßten wir den Sprung gewagt
haben, alles das, was uns gegeben ist, zu verlassen und uns zu dem
hinzuschwingen, wovon uns auch nichts gegeben ist, wodurch wir die
Verknüpfung eines solchen intelligibelen Wesens mit der Sinnenwelt
vermitteln könnten (weil das notwendige Wesen als =außer uns= gegeben
erkannt werden sollte); |105.30| welches dagegen in Ansehung =unseres
eignen= Subjects, so fern es sich durchs moralische Gesetz
=einerseits= als intelligibeles Wesen (vermöge der Freiheit) bestimmt,
=andererseits= als nach dieser Bestimmung in der Sinnenwelt thätig
selbst erkennt, wie jetzt der Augenschein darthut, ganz wohl möglich
ist. Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, daß wir |105.35|
nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligibele
zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft
selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und
das Wesen, das sich dieses Gesetz bewußt ist, (unsere eigene Person)
als zur reinen Verstandeswelt gehörig und zwar sogar mit Bestimmung
der Art, #190# wie es als ein solches thätig sein könne, erkennt. So
läßt es sich begreifen, warum in dem ganzen Vernunftvermögen =nur
das Praktische= dasjenige |106.5| sein könne, welches uns über die
Sinnenwelt hinaushilft und Erkenntnisse von einer übersinnlichen
Ordnung und Verknüpfung verschaffe, die aber eben darum freilich nur
so weit, als es gerade für die reine praktische Absicht nöthig ist,
ausgedehnt werden können.
Nur auf Eines sei es mir erlaubt bei dieser Gelegenheit noch
aufmerksam |106.10| zu machen, nämlich daß jeder Schritt, den man
mit der reinen Vernunft thut, sogar im praktischen Felde, wo man auf
subtile =Speculation= gar nicht Rücksicht nimmt, dennoch sich so genau
und zwar von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen
Vernunft anschließe, als ob jeder mit überlegter Vorsicht, blos um
dieser Bestätigung zu verschaffen, |106.15| ausgedacht wäre. Eine
solche auf keinerlei Weise gesuchte, sondern (wie man sich selbst
davon überzeugen kann, wenn man nur die moralischen Nachforschungen
bis zu ihren Principien fortsetzen will) sich von selbst findende
genaue Eintreffung der wichtigsten Sätze der praktischen Vernunft
mit den oft zu subtil und unnöthig scheinenden Bemerkungen |106.20|
der Kritik der speculativen überrascht und setzt in Verwunderung und
bestärkt die schon von andern erkannte und gepriesene Maxime, in jeder
wissenschaftlichen Untersuchung mit aller möglichen Genauigkeit und
Offenheit seinen Gang ungestört fortzusetzen, ohne sich an das zu
kehren, #191# wowider sie außer ihrem Felde etwa verstoßen möchte,
sondern sie für sich |106.25| allein so viel man kann, wahr und
vollständig zu vollführen. Öftere Beobachtung hat mich überzeugt, daß,
wenn man dieses Geschäfte zu Ende gebracht hat, das, was in der Hälfte
desselben in Betracht anderer Lehren außerhalb mir bisweilen sehr
bedenklich schien, wenn ich diese Bedenklichkeit nur so lange aus den
Augen ließ und blos auf mein Geschäft Acht |106.30| hatte, bis es
vollendet sei, endlich auf unerwartete Weise mit demjenigen vollkommen
zusammenstimmte, was sich ohne die mindeste Rücksicht auf jene Lehren,
ohne Parteilichkeit und Vorliebe für dieselbe von selbst gefunden
hatte. Schriftsteller würden sich manche Irrthümer, manche verlorne
Mühe (weil sie auf Blendwerk gestellt war) ersparen, wenn sie sich
|106.35| nur entschließen könnten, mit etwas mehr Offenheit zu Werke zu
gehen.


Zweites Buch. #192#
Dialektik der reinen praktischen Vernunft.

Erstes Hauptstück.
Von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt. |107.5|
Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, man mag sie in ihrem
speculativen oder praktischen Gebrauche betrachten; denn sie verlangt
die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten,
und diese kann schlechterdings nur in Dingen an sich selbst angetroffen
werden. Da aber alle Begriffe der Dinge auf Anschauungen bezogen werden
|107.10| müssen, welche bei uns Menschen niemals anders als sinnlich
sein können, mithin die Gegenstände nicht als Dinge an sich selbst,
sondern blos als Erscheinungen erkennen lassen, in deren Reihe des
Bedingten und der Bedingungen das Unbedingte niemals angetroffen werden
kann, so entspringt ein unvermeidlicher Schein aus der Anwendung dieser
Vernunftidee der |107.15| #193# Totalität der Bedingungen (mithin des
Unbedingten) aus Erscheinungen, als wären sie Sachen an sich selbst
(denn dafür werden sie in Ermangelung einer warnenden Kritik jederzeit
gehalten), der aber niemals als trüglich bemerkt werden würde, wenn
er sich nicht durch einen =Widerstreit= der Vernunft mit sich selbst
in der Anwendung ihres Grundsatzes, |107.20| das Unbedingte zu allem
Bedingten vorauszusetzen, auf Erscheinungen selbst verriethe. Hiedurch
wird aber die Vernunft genöthigt, diesem Scheine nachzuspüren, woraus
er entspringe, und wie er gehoben werden könne, welches nicht anders
als durch eine vollständige Kritik des ganzen reinen Vernunftvermögens
geschehen kann; so daß die Antinomie der |107.25| reinen Vernunft, die
in ihrer Dialektik offenbar wird, in der That die wohlthätigste
Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat gerathen
können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus
diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch
das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine
Aussicht |107.30| in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge,
in der wir schon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten
Vernunftbestimmung gemäß fortzusetzen, wir durch bestimmte Vorschriften
nunmehr angewiesen werden können.
Wie im speculativen Gebrauche der reinen Vernunft jene natürliche
#194# Dialektik aufzulösen und der Irrthum aus einem übrigens
natürlichen Scheine zu verhüten sei, kann man in der Kritik jenes
Vermögens ausführlich |108.5| antreffen. Aber der Vernunft in ihrem
praktischen Gebrauche geht es um nichts besser. Sie sucht als reine
praktische Vernunft zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen
und Naturbedürfniß beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwar nicht
als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im
moralischen Gesetze) gegeben worden, |108.10| die unbedingte Totalität
des =Gegenstandes= der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des
HÖCHSTEN GUTS.
Diese Idee praktisch, d. i. für die Maxime unseres vernünftigen
Verhaltens, hinreichend zu bestimmen, ist die =Weisheitslehre=, und
diese wiederum als =Wissenschaft= ist =Philosophie= in der Bedeutung,
wie |108.15| die Alten das Wort verstanden, bei denen sie eine
Anweisung zu dem Begriffe war, worin das höchste Gut zu setzen, und
zum Verhalten, durch welches es zu erwerben sei. Es wäre gut, wenn
wir dieses Wort bei seiner alten Bedeutung ließen, als eine =Lehre
vom höchsten Gut=, so fern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur
=Wissenschaft= zu bringen. Denn |108.20| einestheils würde die
angehängte einschränkende Bedingung dem griechischen Ausdrucke (welcher
Liebe zur =Weisheit= bedeutet) angemessen und doch zugleich hinreichend
sein, die Liebe zur =Wissenschaft=, mithin aller #195# speculativen
Erkenntniß der Vernunft, so fern sie ihr sowohl zu jenem Begriffe, als
auch dem praktischen Bestimmungsgrunde dienlich ist, unter |108.25|
dem Namen der Philosophie mit zu befassen, und doch den Hauptzweck, um
dessentwillen sie allein Weisheitslehre genannt werden kann, nicht aus
den Augen verlieren lassen. Anderen Theils würde es auch nicht übel
sein, den Eigendünkel desjenigen, der es wagte sich des Titels eines
Philosophen selbst anzumaßen, abzuschrecken, wenn man ihm schon durch
die |108.30| Definition den Maßstab der Selbstschätzung vorhielte, der
seine Ansprüche sehr herabstimmen wird; denn ein =Weisheitslehrer=
zu sein, möchte wohl etwas mehr als einen Schüler bedeuten, der noch
immer nicht weit genug gekommen ist, um sich selbst, vielweniger um
andere mit sicherer Erwartung eines so hohen Zwecks zu leiten; es
würde einen =Meister in |108.35| Kenntniß der Weisheit= bedeuten,
welches mehr sagen will, als ein bescheidener Mann sich selber anmaßen
wird, und Philosophie würde so wie die Weisheit selbst noch immer ein
Ideal bleiben, welches objectiv in der Vernunft allein vollständig
vorgestellt wird, subjectiv aber, für die Person, nur das Ziel seiner
unaufhörlichen Bestrebung ist, und in dessen Besitz unter dem
angemaßten Namen eines Philosophen zu sein, nur der vorzugeben
berechtigt ist, der auch die unfehlbare Wirkung derselben (in
Beherrschung |109.5| seiner selbst und dem ungezweifelten Interesse,
das er vorzüglich #196# am allgemeinen Guten nimmt) an seiner Person
als Beispiele aufstellen kann, welches die Alten auch forderten, um
jenen Ehrennamen verdienen zu können.
In Ansehung der Dialektik der reinen praktischen Vernunft, im |109.10|
Punkte der Bestimmung des Begriffs =vom höchsten Gute= (welche,
wenn ihre Auflösung gelingt, eben sowohl als die der theoretischen
die wohlthätigste Wirkung erwarten läßt, dadurch daß die aufrichtig
angestellte und nicht verhehlte Widersprüche der reinen praktischen
Vernunft mit ihr selbst zur vollständigen Kritik ihres eigenen
Vermögens nöthigen), haben |109.15| wir nur noch eine Erinnerung
voranzuschicken.
Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen
Willens. Da dieses aber blos formal ist (nämlich allein die Form der
Maxime als allgemein gesetzgebend fordert), so abstrahirt es als
Bestimmungsgrund von aller Materie, mithin von allem Objecte des
Wollens. |109.20| Mithin mag das höchste Gut immer der ganze
=Gegenstand= einer reinen praktischen Vernunft, d. i. eines reinen
Willens, sein, so ist es darum doch nicht für den =Bestimmungsgrund=
desselben zu halten, und das moralische Gesetz muß allein als der Grund
angesehen werden, jenes und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum
Objecte zu machen. Diese Erinnerung |109.25| ist in einem so delicaten
Falle, als die Bestimmung sittlicher #197# Principien ist, wo auch
die kleinste Mißdeutung Gesinnungen verfälscht, von Erheblichkeit.
Denn man wird aus der Analytik ersehen haben, daß, wenn man vor dem
moralischen Gesetze irgend ein Object unter dem Namen eines Guten
als Bestimmungsgrund des Willens annimmt und von |109.30| ihm dann
das oberste praktische Princip ableitet, dieses alsdann jederzeit
Heteronomie herbeibringen und das moralische Princip verdrängen würde.
Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des
höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon
You have read 1 text from German literature.
Next - Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 11