Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 09

Total number of words is 3962
Total number of unique words is 1147
42.9 of words are in the 2000 most common words
55.8 of words are in the 5000 most common words
60.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Dieser Trost ist nicht Glückseligkeit, auch nicht der mindeste Theil
derselben. Denn niemand wird sich die Gelegenheit |88.10| dazu, auch
vielleicht nicht einmal ein Leben in solchen Umständen wünschen. Aber
er lebt und kann es nicht erdulden, in seinen eigenen Augen des Lebens
unwürdig zu sein. Diese innere Beruhigung ist also blos negativ in
Ansehung alles dessen, was das Leben angenehm machen mag; nämlich sie
ist die Abhaltung der Gefahr, im persönlichen Werthe zu sinken, nachdem
|88.15| der seines Zustandes von ihm schon gänzlich aufgegeben worden.
Sie ist die Wirkung von einer Achtung für etwas ganz anderes als das
Leben, womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit
aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Werth hat. Er lebt nur noch aus
Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet. |88.20|
So ist die ächte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen;
#158# sie ist keine andere als das reine moralische Gesetz selber, so
fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz
spüren läßt und subjectiv in Menschen, die sich zugleich ihres
sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer so
fern sehr pathologisch afficirten |88.25| Natur bewußt sind, Achtung für
ihre höhere Bestimmung wirkt. Nun lassen sich mit dieser Triebfeder
gar wohl so viele Reize und Annehmlichkeiten des Lebens verbinden, daß
auch um dieser willen allein schon die klügste Wahl eines vernünftigen
und über das größte Wohl des Lebens nachdenkenden =Epikureers= sich
für das sittliche Wohlverhalten |88.30| erklären würde, und es kann auch
rathsam sein, diese Aussicht auf einen fröhlichen Genuß des Lebens
mit jener obersten und schon für sich allein hinlänglich bestimmenden
Bewegursache zu verbinden; aber nur um den Anlockungen, die das Laster
auf der Gegenseite vorzuspiegeln nicht ermangelt, das Gegengewicht zu
halten, nicht um hierin die eigentliche bewegende |88.35| Kraft, auch
nicht dem mindesten Theile nach, zu setzen, wenn von Pflicht die Rede
ist. Denn das würde so viel sein, als die moralische Gesinnung in
ihrer Quelle verunreinigen wollen. Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat
nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigenthümliches Gesetz,
auch ihr eigenthümliches Gericht, und wenn man auch beide noch so sehr
zusammenschütteln wollte, um sie vermischt gleichsam als Arzeneimittel
#159# der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald
von |89.5| selbst, und thun sie es nicht, so wirkt das erste gar nicht,
wenn aber auch das physische Leben hiebei einige Kraft gewönne, so
würde doch das moralische ohne Rettung dahin schwinden.

Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen
Vernunft. |89.10|
Ich verstehe unter der kritischen Beleuchtung einer Wissenschaft,
oder eines Abschnitts derselben, der für sich ein System ausmacht,
die Untersuchung und Rechtfertigung, warum sie gerade diese und keine
andere systematische Form haben müsse, wenn man sie mit einem anderen
System vergleicht, das ein ähnliches Erkenntnisvermögen zum Grunde hat.
Nun |89.15| hat praktische Vernunft mit der speculativen so fern einerlei
Erkenntnißvermögen zum Grunde, als beide =reine Vernunft= sind. Also
wird der Unterschied der systematischen Form der einen von der anderen
durch Vergleichung beider bestimmt und Grund davon angegeben werden
müssen.
Die Analytik der reinen theoretischen Vernunft hatte es mit dem
Erkenntnisse |89.20| der Gegenstände, die dem Verstande gegeben
werden mögen, zu #160# thun und mußte also von der =Anschauung=,
mithin (weil diese jederzeit sinnlich ist) von der Sinnlichkeit
anfangen, von da aber allererst zu Begriffen (der Gegenstände dieser
Anschauung) fortschreiten und durfte nur nach beider Voranschickung
mit =Grundsätzen= endigen. Dagegen, weil |89.25| praktische Vernunft
es nicht mit Gegenständen, sie zu =erkennen=, sondern mit ihrem
eigenen Vermögen, jene (der Erkenntniß derselben gemäß) =wirklich
zu machen=, d. i. es mit einem =Willen= zu thun hat, welcher eine
Causalität ist, so fern Vernunft den Bestimmungsgrund derselben
enthält, da sie folglich kein Object der Anschauung, sondern (weil der
Begriff der |89.30| Causalität jederzeit die Beziehung auf ein Gesetz
enthält, welches die Existenz des Mannigfaltigen im Verhältnisse zu
einander bestimmt) als praktische Vernunft =nur ein Gesetz= derselben
anzugeben hat: so muß eine Kritik der Analytik derselben, so fern sie
eine praktische Vernunft sein soll (welches die eigentliche Aufgabe
ist), von der =Möglichkeit praktischer |89.35| Grundsätze _a priori_=
anfangen. Von da konnte sie allein zu =Begriffen= der Gegenstände
einer praktischen Vernunft, nämlich denen des schlechthin Guten und
Bösen, fortgehen, um sie jenen Grundsätzen gemäß allererst zu geben
(denn diese sind vor jenen Principien als Gutes und Böses durch
gar kein Erkenntnißvermögen zu geben möglich), und |90.5| nur alsdann
konnte allererst das letzte Hauptstück, nämlich das von dem #161#
Verhältnisse der reinen praktischen Vernunft zur Sinnlichkeit und ihrem
nothwendigen, _a priori_ zu erkennenden Einflusse auf dieselbe, d.
i. vom =moralischen Gefühle=, den Theil beschließen. So theilte denn
die Analytik der praktischen reinen Vernunft ganz analogisch mit der
theoretischen |90.10| den ganzen Umfang aller Bedingungen ihres
Gebrauchs, aber in umgekehrter Ordnung. Die Analytik der theoretischen
reinen Vernunft wurde in transscendentale Ästhetik und transscendentale
Logik eingetheilt, die der praktischen umgekehrt in Logik und Ästhetik
der reinen praktischen Vernunft (wenn es mir erlaubt ist, diese
sonst gar nicht angemessene Benennungen |90.15| blos der Analogie
wegen hier zu gebrauchen), die Logik wiederum dort in die Analytik
der Begriffe und die der Grundsätze, hier in die der Grundsätze und
Begriffe. Die Ästhetik hatte dort noch zwei Theile wegen der doppelten
Art einer sinnlichen Anschauung; hier wird die Sinnlichkeit gar
nicht als Anschauungsfähigkeit, sondern blos als Gefühl (das |90.20|
ein subjectiver Grund des Begehrens sein kann) betrachtet, und in
Ansehung dessen verstattet die reine praktische Vernunft keine weitere
Eintheilung.
Auch daß diese Eintheilung in zwei Theile mit deren Unterabtheilung
nicht wirklich (so wie man wohl im Anfange durch das Beispiel der
ersteren |90.25| verleitet werden konnte, zu versuchen) hier vorgenommen
wurde, davon läßt sich auch der Grund gar wohl einsehen. Denn
weil es =reine Vernunft= #162# ist, die hier in ihrem praktischen
Gebrauche, mithin von Grundsätzen _a priori_ und nicht von
empirischen Bestimmungsgründen ausgehend betrachtet wird: so wird
die Eintheilung der Analytik der reinen praktischen |90.30| Vernunft
der eines Vernunftschlusses ähnlich ausfallen müssen, nämlich vom
Allgemeinen im =Obersatze= (dem moralischen Princip) durch eine im
=Untersatze= vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter
oder böser) unter jenen zu dem =Schlußsatze=, nämlich der subjectiven
Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktisch |90.35| möglichen
Guten und der darauf gegründeten Maxime), fortgehend. Demjenigen,
der sich von den in der Analytik vorkommenden Sätzen hat überzeugen
können, werden solche Vergleichungen Vergnügen machen; denn sie
veranlassen mit Recht die Erwartung, es vielleicht dereinst bis
zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des
theoretischen sowohl als praktischen) bringen und alles aus einem
Princip ableiten zu können; welches das unvermeidliche Bedürfniß
der menschlichen |91.5| Vernunft ist, die nur in einer vollständig
systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet.
Betrachten wir nun aber auch den Inhalt der Erkenntniß, die wir von
einer reinen praktischen Vernunft und durch dieselbe haben können,
so wie ihn die Analytik derselben darlegt, so finden sich bei einer
merkwürdigen |91.10| Analogie zwischen ihr und der theoretischen nicht
weniger merkwürdige Unterschiede. In Ansehung der theoretischen
konnte das =Vermögen #163# eines reinen Vernunfterkenntnisses _a
priori_= durch Beispiele aus Wissenschaften (bei denen man, da sie
ihre Principien auf so mancherlei Art durch methodischen Gebrauch auf
die Probe stellen, nicht so leicht |91.15| wie im gemeinen Erkenntnisse
geheime Beimischung empirischer Erkenntnißgründe zu besorgen hat)
ganz leicht und evident bewiesen werden. Aber daß reine Vernunft
ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes für
sich allein auch praktisch sei: das mußte man aus dem =gemeinsten
praktischen Vernunftgebrauche= darthun können, |91.20| indem man den
obersten praktischen Grundsatz als einen solchen, den jede natürliche
Menschenvernunft als völlig _a priori_, von keinen sinnlichen Datis
abhängend, für das oberste Gesetz seines Willens erkennt, beglaubigte.
Man mußte ihn zuerst der Reinigkeit seines Ursprungs nach selbst =im
Urtheile dieser gemeinen Vernunft= bewähren und rechtfertigen, |91.25|
ehe ihn noch die Wissenschaft in die Hände nehmen konnte, um Gebrauch
von ihm zu machen, gleichsam als ein Factum, das vor allem Vernünfteln
über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen
sein möchten, vorhergeht. Aber dieser Umstand läßt sich auch aus dem
kurz vorher Angeführten gar wohl erklären: weil praktische reine
Vernunft |91.30| nothwendig von Grundsätzen anfangen muß, die also aller
Wissenschaft als erste Data zum Grunde gelegt werden müssen und nicht
allererst #164# aus ihr entspringen können. Diese Rechtfertigung der
moralischen Principien als Grundsätze einer reinen Vernunft konnte
aber auch darum gar wohl und mit gnugsamer Sicherheit durch bloße
Berufung auf |91.35| das Urtheil des gemeinen Menschenverstandes geführt
werden, weil sich alles Empirische, was sich als Bestimmungsgrund des
Willens in unsere Maximen einschleichen möchte, durch das Gefühl des
Vergnügens oder Schmerzens, das ihm so fern, als es Begierde erregt,
nothwendig anhängt, sofort =kenntlich macht=, diesem aber jene reine
praktische Vernunft geradezu =widersteht=, es in ihr Princip als
Bedingung aufzunehmen. Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe
(der empirischen und rationalen) |92.5| wird durch diese Widerstrebung
einer praktisch gesetzgebenden Vernunft wider alle sich einmengende
Neigung, durch eine eigenthümliche Art von =Empfindung=, welche aber
nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeht, sondern
vielmehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwang gewirkt wird,
nämlich durch das Gefühl einer Achtung, dergleichen |92.10| kein Mensch
für Neigungen hat, sie mögen sein, welcher Art sie wollen, wohl aber
fürs Gesetz, so kenntlich gemacht und so gehoben und hervorstechend,
daß keiner, auch der gemeinste Menschenverstand in einem vorgelegten
Beispiele nicht den Augenblick inne werden sollte, daß durch empirische
Gründe des Wollens ihm zwar ihren Anreizen zu folgen gerathen, |92.15|
#165# niemals aber einem anderen als lediglich dem reinen praktischen
Vernunftgesetze zu =gehorchen= zugemuthet werden könne.
Die Unterscheidung der =Glückseligkeitslehre= von der =Sittenlehre=,
in deren ersteren empirische Principien das ganze Fundament, von der
zweiten aber auch nicht den mindesten Beisatz derselben ausmachen,
ist |92.20| nun in der Analytik der reinen praktischen Vernunft die
erste und wichtigste ihr obliegende Beschäftigung, in der sie so
=pünktlich=, ja, wenn es auch hieße, =peinlich= verfahren muß, als je
der Geometer in seinem Geschäfte. Es kommt aber dem Philosophen, der
hier (wie jederzeit im Vernunfterkenntnisse durch bloße Begriffe, ohne
Construction derselben) mit |92.25| größerer Schwierigkeit zu kämpfen
hat, weil er keine Anschauung (reinem Noumen) zum Grunde legen kann,
doch auch zu statten: daß er beinahe wie der Chemist zu aller Zeit
ein Experiment mit jedes Menschen praktischer Vernunft anstellen
kann, um den moralischen (reinen) Bestimmungsgrund vom empirischen zu
unterscheiden; wenn er nämlich zu dem empirisch |92.30| afficirten
Willen (z. B. desjenigen, der gerne lügen möchte, weil er sich dadurch
was erwerben kann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund)
zusetzt. Es ist, als ob der Scheidekünstler der Solution der Kalkerde
in Salzgeist Alkali zusetzt; der Salzgeist verläßt sofort den Kalk,
vereinigt sich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden gestürzt. Eben
so |92.35| #166# haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist (oder
sich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehrlichen Mannes
versetzt), das moralische Gesetz vor, an dem er die Nichtswürdigkeit
eines Lügners erkennt, sofort verläßt seine praktische Vernunft (im
Urtheil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vortheil, vereinigt
sich mit dem, was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält (der
Wahrhaftigkeit), und der Vortheil wird nun von jedermann, nachdem er
von allem Anhängsel der Vernunft (welche |93.5| nur gänzlich auf der
Seite der Pflicht ist) abgesondert und gewaschen worden, gewogen, um
mit der Vernunft noch wohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten,
nur nicht wo er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft niemals
verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zuwider sein könnte.
|93.10|
Aber diese =Unterscheidung= des Glückseligkeitsprincips von dem der
Sittlichkeit ist darum nicht sofort =Entgegensetzung= beider, und die
reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf
Glückseligkeit =aufgeben=, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede
ist, darauf gar =nicht Rücksicht= nehmen. Es kann sogar in gewissem
Betracht Pflicht |93.15| sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen: theils
weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichthum gehört) Mittel
zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, theils weil der Mangel derselben
(z. B. Armuth) Versuchungen #167# enthält, seine Pflicht zu übertreten.
Nur, seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals
Pflicht, noch weniger ein Princip aller Pflicht |93.20| sein. Da nun alle
Bestimmungsgründe des Willens außer dem einigen reinen praktischen
Vernunftgesetze (dem moralischen) insgesammt empirisch sind, als solche
also zum Glückseligkeitsprincip gehören, so müssen sie insgesammt vom
obersten sittlichen Grundsatze abgesondert und ihm nie als Bedingung
einverleibt werden, weil dieses eben so sehr allen sittlichen |93.25|
Werth, als empirische Beimischung zu geometrischen Grundsätzen alle
mathematische Evidenz, das Vortrefflichste, was (nach Platos Urtheile)
die Mathematik an sich hat, und das selbst allem Nutzen derselben
vorgeht, aufheben würde.
Statt der Deduction des obersten Princips der reinen praktischen
|93.30| Vernunft, d. i. der Erklärung der Möglichkeit einer dergleichen
Erkenntniß _a priori_, konnte aber nichts weiter angeführt werden, als
daß, wenn man die Möglichkeit der Freiheit einer wirkenden Ursache
einsähe, man auch nicht etwa blos die Möglichkeit, sondern gar die
Nothwendigkeit des moralischen Gesetzes als obersten praktischen
Gesetzes vernünftiger Wesen, |93.35| denen man Freiheit der Causalität
ihres Willens beilegt, einsehen würde: weil beide Begriffe so
unzertrennlich verbunden sind, daß man praktische Freiheit auch
durch Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer #168#
allein dem moralischen Gesetze definiren könnte. Allein die Freiheit
einer wirkenden Ursache, vornehmlich in der Sinnenwelt, kann ihrer
Möglichkeit nach keinesweges eingesehen werden; glücklich! wenn wir
nur, daß kein Beweis ihrer Unmöglichkeit stattfindet, hinreichend
versichert werden können |94.5| und nun, durchs moralische Gesetz,
welches dieselbe postulirt, genöthigt, eben dadurch auch berechtigt
werden, sie anzunehmen. Weil es indessen noch viele giebt, welche diese
Freiheit noch immer glauben nach empirischen Principien wie jedes
andere Naturvermögen erklären zu können und sie als =psychologische=
Eigenschaft, deren Erklärung lediglich auf eine |94.10| genauere
Untersuchung der =Natur der Seele= und der Triebfeder des Willens
ankäme, nicht als =transscendentales= Prädicat der Causalität eines
Wesens, das zur Sinnenwelt gehört, (wie es doch hierauf wirklich allein
ankommt) betrachten und so die herrliche Eröffnung, die uns durch reine
praktische Vernunft vermittelst des moralischen Gesetzes widerfährt,
|94.15| nämlich die Eröffnung einer intelligibelen Welt durch
Realisirung des sonst transscendenten Begriffs der Freiheit, und hiemit
das moralische Gesetz selbst, welches durchaus keinen empirischen
Bestimmungsgrund annimmt, aufheben: so wird es nöthig sein, hier noch
etwas zur Verwahrung wider dieses Blendwerk und der Darstellung des
=Empirismus= in der |94.20| ganzen Blöße seiner Seichtigkeit anzuführen.
Der Begriff der Causalität als =Naturnothwendigkeit= zum Unterschiede
#169# derselben als =Freiheit= betrifft nur die Existenz der Dinge, so
fern sie =in der Zeit bestimmbar= ist, folglich als Erscheinungen im
Gegensatze ihrer Causalität als Dinge an sich selbst. Nimmt man nun die
Bestimmungen |94.25| der Existenz der Dinge in der Zeit für Bestimmungen
der Dinge an sich selbst (welches die gewöhnlichste Vorstellungsart
ist), so läßt sich die Nothwendigkeit im Causalverhältnisse mit der
Freiheit auf keinerlei Weise vereinigen; sondern sie sind einander
contradictorisch entgegengesetzt. Denn aus der ersteren folgt: daß
eine jede Begebenheit, |94.30| folglich auch jede Handlung, die in
einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der
vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei. Da nun die vergangene Zeit
nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe,
durch bestimmende Gründe, =die nicht in meiner Gewalt sind=, nothwendig
sein, d. i. ich bin in dem Zeitpunkte, |94.35| darin ich handle, niemals
frei. Ja, wenn ich gleich mein ganzes Dasein als unabhängig von
irgend einer fremden Ursache (etwa von Gott) annähme, so daß die
Bestimmungsgründe meiner Causalität, sogar meiner ganzen Existenz, gar
nicht außer mir wären: so würde dieses jene Naturnothwendigkeit doch
nicht im mindesten in Freiheit verwandeln. Denn in jedem Zeitpunkte
stehe ich doch immer unter der Nothwendigkeit, durch das zum Handeln
bestimmt zu sein, =was nicht in meiner Gewalt ist=, |95.5| #170# und die
_a parte priori_ unendliche Reihe der Begebenheiten, die ich immer
nur nach einer schon vorherbestimmten Ordnung fortsetzen, nirgend von
selbst anfangen würde, wäre eine stetige Naturkette, meine Causalität
also niemals Freiheit.
Will man also einem Wesen, dessen Dasein in der Zeit bestimmt ist,
|95.10| Freiheit beilegen, so kann man es so fern wenigstens vom Gesetze
der Naturnothwendigkeit aller Begebenheiten in seiner Existenz, mithin
auch seiner Handlungen nicht ausnehmen; denn das wäre so viel, als es
dem blinden Ungefähr übergeben. Da dieses Gesetz aber unvermeidlich
alle Causalität der Dinge, so fern ihr =Dasein in der Zeit= bestimmbar
ist, |95.15| betrifft, so würde, wenn dieses die Art wäre, wornach man
sich auch das =Dasein dieser Dinge an sich selbst= vorzustellen hätte,
die Freiheit als ein nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen
werden müssen. Folglich wenn man sie noch retten will, so bleibt
kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, so fern es in der Zeit
bestimmbar ist, folglich auch die |95.20| Causalität nach dem Gesetze
der =Naturnothwendigkeit blos der Erscheinung=, die =Freiheit= aber
eben =demselben Wesen als Dinge an sich selbst= beizulegen. So ist es
allerdings unvermeidlich, wenn man beide einander widerwärtige Begriffe
zugleich erhalten will; allein in der Anwendung, wenn man sie als
in einer und derselben Handlung vereinigt |95.25| #171# und also diese
Vereinigung selbst erklären will, thun sich doch große Schwierigkeiten
hervor, die eine solche Vereinigung unthunlich zu machen scheinen.
Wenn ich von einem Menschen, der einen Diebstahl verübt, sage,
diese That sei nach dem Naturgesetze der Causalität aus den
Bestimmungsgründen |95.30| der vorhergehenden Zeit ein nothwendiger
Erfolg, so war es unmöglich, daß sie hat unterbleiben können: wie kann
denn die Beurtheilung nach dem moralischen Gesetze hierin eine Änderung
machen und voraussetzen, daß sie doch habe unterlassen werden können,
weil das Gesetz sagt, sie hätte unterlassen werden sollen, d. i. wie
kann derjenige in |95.35| demselben Zeitpunkte in Absicht auf dieselbe
Handlung ganz frei heißen, in welchem, und in derselben Absicht, er
doch unter einer unvermeidlichen Naturnothwendigkeit steht? Eine
Ausflucht darin suchen, daß man blos die =Art= der Bestimmungsgründe
seiner Causalität nach dem Naturgesetze einem =comparativen= Begriffe
von Freiheit anpaßt (nach welchem das bisweilen freie Wirkung heißt,
davon der bestimmende Naturgrund =innerlich= im wirkenden Wesen liegt,
z. B. das was ein geworfener Körper verrichtet, |96.5| wenn er in freier
Bewegung ist, da man das Wort Freiheit braucht, weil er, während daß
er im Fluge ist, nicht von außen wodurch getrieben wird, oder wie wir
die Bewegung einer Uhr auch eine freie Bewegung nennen, weil sie ihren
Zeiger selbst treibt, der also nicht äußerlich geschoben #172# werden
darf, eben so die Handlungen des Menschen, ob sie gleich durch |96.10|
ihre Bestimmungsgründe, die in der Zeit vorhergehen, nothwendig sind,
dennoch frei nennen, weil es doch innere, durch unsere eigene Kräfte
hervorgebrachte Vorstellungen, dadurch nach veranlassenden Umständen
erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben bewirkte
Handlungen sind), ist ein elender Behelf, womit sich noch immer
einige |96.15| hinhalten lassen und so jenes schwere Problem mit einer
kleinen Wortklauberei aufgelöset zu haben meinen, an dessen Auflösung
Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die daher wohl schwerlich so
ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte. Es kommt nämlich bei
der Frage nach derjenigen Freiheit, die allen moralischen Gesetzen und
der ihnen |96.20| gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß, darauf
gar nicht an, ob die nach einem Naturgesetze bestimmte Causalität
durch Bestimmungsgründe, die =im= Subjecte, oder =außer= ihm liegen,
und im ersteren Fall, ob sie durch Instinct oder mit Vernunft gedachte
Bestimmungsgründe nothwendig sei; wenn diese bestimmende Vorstellungen
nach dem |96.25| Geständnisse eben dieser Männer selbst den Grund ihrer
Existenz doch in der Zeit und zwar dem =vorigen Zustande= haben,
dieser aber wieder in einem vorhergehenden &c., so mögen sie, diese
Bestimmungen, immer innerlich sein, sie mögen psychologische und nicht
mechanische Causalität #173# haben, d. i. durch Vorstellungen und nicht
durch körperliche Bewegung |96.30| Handlung hervorbringen, so sind es
immer =Bestimmungsgründe= der Causalität eines Wesens, so fern sein
Dasein in der Zeit bestimmbar ist, mithin unter nothwendig machenden
Bedingungen der vergangenen Zeit, die also, wenn das Subject handeln
soll, =nicht mehr in seiner Gewalt sind=, die also zwar psychologische
Freiheit (wenn man ja dieses Wort |96.35| von einer blos inneren
Verkettung der Vorstellungen der Seele brauchen will), aber doch
Naturnothwendigkeit bei sich führen, mithin keine =transscendentale
Freiheit= übrig lassen, welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen
und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß, sie mag nun als
Gegenstand des inneren Sinnes blos in der Zeit, oder auch äußeren Sinne
im Raume und der Zeit zugleich betrachtet werden, ohne welche Freiheit
(in der letzteren eigentlichen Bedeutung), die allein |97.5| _a priori_
praktisch ist, kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben
möglich ist. Eben um deswillen kann man auch alle Nothwendigkeit
der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Causalität
den =Mechanismus= der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht
versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirkliche materielle
=Maschinen= |97.10| sein müßten. Hier wird nur auf die Nothwendigkeit
der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich
nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen, man mag nun das Subject, in
welchem dieser #174# Ablauf geschieht, _Automaton materiale_, da das
Maschinenwesen durch Materie, oder mit Leibnizen _spirituale_, da es
durch Vorstellungen betrieben |97.15| wird, nennen, und wenn die Freiheit
unseres Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische
und comparative, nicht transscendentale, d. i. absolute, zugleich)
wäre, so würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines
Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von
selbst seine Bewegungen verrichtet. |97.20|
Um nun den scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und
Freiheit in ein und derselben Handlung an dem vorgelegten Falle
aufzuheben, muß man sich an das erinnern, was in der Kritik der reinen
Vernunft gesagt war oder daraus folgt: daß die Naturnothwendigkeit,
welche mit der Freiheit des Subjects nicht zusammen bestehen kann,
blos |97.25| den Bestimmungen desjenigen Dinges anhängt, das unter
Zeitbedingungen steht, folglich nur denen des handelnden Subjects
als Erscheinung, daß also so fern die Bestimmungsgründe einer jeden
Handlung desselben in demjenigen liegen, was zur vergangenen Zeit
gehört und =nicht mehr in seiner Gewalt ist= (wozu auch seine schon
begangene |97.30| Thaten und der ihm dadurch bestimmbare Charakter in
seinen eigenen Augen, als Phänomens, gezählt werden müssen). Aber
ebendasselbe Subject, #175# das sich anderseits auch seiner als
Dinges an sich selbst bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, =so
fern es nicht unter Zeitbedingungen steht=, sich selbst aber nur als
bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch |97.35| Vernunft selbst
giebt, und in diesem seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor
seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung und überhaupt jede dem
innern Sinne gemäß wechselnde Bestimmung seines Daseins, selbst die
ganze Reihenfolge seiner Existenz als Sinnenwesen ist im Bewußtsein
seiner intelligibelen Existenz nichts als Folge, niemals aber als
Bestimmungsgrund seiner Causalität, als =Noumens=, anzusehen. In
diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer |98.5| jeden
gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich als Erscheinung
in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und so fern unausbleiblich
nothwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können;
denn sie mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, gehört zu einem
einzigen Phänomen seines Charakters, den er sich selbst verschafft,
und nach |98.10| welchem er sich als einer von aller Sinnlichkeit
unabhängigen Ursache die Causalität jener Erscheinungen selbst
zurechnet.
Hiemit stimmen auch die Richteraussprüche desjenigen wundersamen
Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen, vollkommen überein.
Ein Mensch mag künsteln, so viel als er will, um ein gesetzwidriges
Betragen, |98.15| #176# dessen er sich erinnert, sich als
unvorsetzliches Versehen, als bloße Unbehutsamkeit, die man niemals
gänzlich vermeiden kann, folglich als etwas, worin er vom Strom der
Naturnothwendigkeit fortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber
für schuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Advocat, der
zu seinem Vortheil spricht, den Ankläger in ihm |98.20| keinesweges
zum Verstummen bringen könne, wenn er sich bewußt ist, daß er zu der
Zeit, als er das Unrecht verübte, nur bei Sinnen, d. i. im Gebrauche
seiner Freiheit, war, und gleichwohl =erklärt= er sich sein Vergehen
aus gewisser übeln, durch allmählige Vernachlässigung der Achtsamkeit
auf sich selbst zugezogener Gewohnheit bis auf den Grad, daß er es
als |98.25| eine natürliche Folge derselben ansehen kann, ohne daß
dieses ihn gleichwohl wider den Selbsttadel und den Verweis sichern
kann, den er sich selbst macht. Darauf gründet sich denn auch die Reue
über eine längst begangene That bei jeder Erinnerung derselben; eine
schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung, die so
fern praktisch leer ist, als |98.30| sie nicht dazu dienen kann, das
Geschehene ungeschehen zu machen, und sogar ungereimt sein würde (wie
=Priestley= als ein ächter, consequent verfahrender =Fatalist= sie
auch dafür erklärt, und in Ansehung welcher Offenherzigkeit er mehr
Beifall verdient als diejenige, welche, indem sie den Mechanism des
Willens in der That, die Freiheit desselben aber mit |98.35| #177#
Worten behaupten, noch immer dafür gehalten sein wollen, daß sie jene,
ohne doch die Möglichkeit einer solchen Zurechnung begreiflich zu
You have read 1 text from German literature.
Next - Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 10