Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 03

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Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen als der Materie
des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung
der Principien ist, durch die bloße Form der praktischen
Regel den Willen bestimmen #45# können. Alsdann allein ist
Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willen |24.40|
bestimmt (nicht im Dienste der Neigungen ist), ein wahres
=oberes= Begehrungsvermögen, dem das pathologisch bestimmbare
untergeordnet ist, und wirklich, ja =specifisch= von diesem
unterschieden, so daß sogar die mindeste Beimischung von den
Antrieben der letzteren ihrer Stärke und Vorzuge Abbruch
thut, so wie das mindeste Empirische, als Bedingung in einer
mathematischen Demonstration, ihre |25.5| Würde und Nachdruck
herabsetzt und vernichtet. Die Vernunft bestimmt in einem
praktischen Gesetze unmittelbar den Willen, nicht vermittelst
eines dazwischen kommenden Gefühls der Lust und Unlust, selbst
nicht an diesem Gesetze, und nur, daß sie als reine Vernunft
praktisch sein kann, macht es ihr möglich, =gesetzgebend= zu
sein. |25.10|
Anmerkung II.
Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes
vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher
Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die
Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein
ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein
seiner unabhängigen |25.15| Selbstgenugsamkeit voraussetzen
würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm
aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses
Bedürfniß betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens,
d. i. etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes
Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur
Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird. Aber
eben darum, |25.20| weil dieser materiale Bestimmungsgrund
von dem Subjecte blos empirisch erkannt werden kann, ist es
unmöglich diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil
dieses als objectiv in allen Fällen und für alle vernünftige
Wesen =eben denselben #46# Bestimmungsgrund= des Willens
enthalten müßte. Denn obgleich der Begriff der Glückseligkeit
der praktischen Beziehung der =Objecte= aufs Begehrungsvermögen
|25.25| =allerwärts= zum Grunde liegt, so ist er doch nur der
allgemeine Titel der subjectiven Bestimmungsgründe und bestimmt
nichts specifisch, darum es doch in dieser praktischen Aufgabe
allein zu thun ist, und ohne welche Bestimmung sie gar nicht
aufgelöst werden kann. Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit
zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der
Lust und Unlust an, und selbst in einem |25.30| und demselben
Subject auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den
Abänderungen dieses Gefühls, und ein =subjectiv nothwendiges=
Gesetz (als Naturgesetz) ist also =objectiv= ein gar sehr
=zufälliges= praktisches Princip, das in verschiedenen Subjecten
sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz
abgeben kann, weil es bei der Begierde nach Glückseligkeit nicht
auf die Form der |25.35| Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich
auf die Materie ankommt, nämlich ob und wieviel Vergnügen ich
in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe. Principien der
Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit
(Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdann sind es
aber blos theoretische Principien[7] (z. B. wie derjenige, der
gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe).
#47# Aber praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen,
können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des
Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das
niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet |26.5|
angenommen werden kann, gegründet.
[7] Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehre =praktisch=
genannt werden, sollten eigentlich =technisch= heißen. Denn um
die Willensbestimmung ist es diesen |26.35| Lehren gar nicht zu
thun; sie zeigen nur das Mannigfaltige der möglichen Handlung an,
welches eine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichend ist,
und sind also eben so theoretisch als alle Sätze, welche die
Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung aussagen. Wem nun die
letztere beliebt, der muß sich auch gefallen lassen, die erstere
zu sein.|26.40|
Aber gesetzt, endliche vernünftige Wesen dächten auch in
Ansehung dessen, was sie für Objecte ihrer Gefühle des
Vergnügens oder Schmerzens anzunehmen hätten, imgleichen sogar
in Ansehung der Mittel, deren sie sich bedienen müssen, um
die erstern zu erreichen, die andern abzuhalten, durchgehends
einerlei, so würde das |26.10| =Princip der Selbstliebe= dennoch
von ihnen durchaus für =kein praktisches Gesetz= ausgegeben
werden können; denn diese Einhelligkeit wäre selbst doch nur
zufällig. Der Bestimmungsgrund wäre immer doch nur subjectiv
gültig und blos empirisch und hätte diejenige Nothwendigkeit
nicht, die in einem jeden Gesetze gedacht wird, nämlich
die objective aus Gründen _a priori_; man müßte denn diese
|26.15| Nothwendigkeit gar nicht für praktisch, sondern für
blos physisch ausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsere
Neigung uns eben so unausbleiblich abgenöthigt würde, als das
Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen. Man würde eher behaupten
können, daß es gar keine praktische Gesetze gebe, sondern
nur =Anrathungen= zum Behuf unserer Begierden, als daß blos
subjective Principien zum Range praktischer |26.20| Gesetze
erhoben würden, die durchaus objective und nicht blos subjective
Nothwendigkeit haben und durch Vernunft _a priori_, nicht durch
Erfahrung (so empirisch allgemein diese auch sein mag) erkannt
sein müssen. Selbst die Regeln einstimmiger Erscheinungen werden
nur Naturgesetze (z. B. die mechanischen) genannt, wenn man
sie entweder wirklich _a priori_ erkennt, oder doch (wie bei
den |26.25| #48# chemischen) annimmt, sie würden _a priori_
aus objectiven Gründen erkannt werden, wenn unsere Einsicht
tiefer ginge. Allein bei blos subjectiven praktischen Principien
wird das ausdrücklich zur Bedingung gemacht, daß ihnen nicht
objective, sondern subjective Bedingungen der Willkür zum
Grunde liegen müssen; mithin, daß sie jederzeit nur als bloße
Maximen, niemals aber als praktische Gesetze vorstellig |26.30|
gemacht werden dürfen. Diese letztere Anmerkung scheint beim
ersten Anblicke bloße Wortklauberei zu sein; allein sie ist die
Wortbestimmung des allerwichtigsten Unterschiedes, der nur in
praktischen Untersuchungen in Betrachtung kommen mag.
§ 4.
Lehrsatz III.
Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische
allgemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselbe nur als solche
Principien denken, die nicht der Materie, sondern blos der Form nach
den |27.5| Bestimmungsgrund des Willens enthalten.
Die Materie eines praktischen Princips ist der Gegenstand des Willens.
Dieser ist entweder der Bestimmungsgrund des letzteren oder nicht. Ist
er der Bestimmungsgrund desselben, so würde die Regel des Willens einer
empirischen Bedingung (dem Verhältnisse der bestimmenden Vorstellung
|27.10| zum Gefühle der Lust und Unlust) unterworfen, folglich kein
praktisches Gesetz sein. Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle
Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens, (als Bestimmungsgrund)
davon absondert, nichts übrig, als die bloße =Form= einer allgemeinen
Gesetzgebung. #49# Also kann ein vernünftiges Wesen sich =seine=
subjectiv-praktische Principien, |27.15| d. i. Maximen, entweder gar
nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muß annehmen,
daß die bloße Form derselben, nach der jene =sich zur allgemeinen
Gesetzgebung schicken=, sie für sich allein zum praktischen Gesetze
mache.
Anmerkung. |27.20|
Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung
schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand
ohne Unterweisung unterscheiden. Ich habe z. B. es mir zur
Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu
vergrößern. Jetzt ist ein =Depositum= in meinen Händen, dessen
Eigenthümer verstorben ist und keine Handschrift darüber
zurückgelassen hat. Natürlicherweise ist |27.25| dies der Fall
meiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch
als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne. Ich wende
jene also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl
die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine
Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann
ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand
beweisen kann. Ich |27.30| werde sofort gewahr, daß ein solches
Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es
machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe. Ein praktisches
Gesetz, was ich dafür erkenne, muß sich zur allgemeinen
Gesetzgebung qualificiren; dies ist ein identischer Satz und
also für sich klar. Sage ich nun: mein Wille steht unter einem
praktischen =Gesetze=, so kann ich nicht meine Neigung (z. B.
im gegenwärtigen |27.35| Falle meine Habsucht) als den zu einem
allgemeinen praktischen Gesetze schicklichen Bestimmungsgrund
desselben anführen; denn diese, weit gefehlt daß sie #50# zu
einer allgemeinen Gesetzgebung tauglich sein sollte, so muß sie
vielmehr in der Form eines allgemeinen Gesetzes sich selbst
aufreiben.
Es ist daher wunderlich, wie, da die Begierde zur
Glückseligkeit, mithin auch die Maxime, dadurch sich jeder
diese letztere zum Bestimmungsgrunde seines |28.5| Willens
setzt, allgemein ist, es verständigen Männern habe in den
Sinn kommen können, es darum für ein allgemein =praktisches
Gesetz= auszugeben. Denn da sonst ein allgemeines Naturgesetz
alles einstimmig macht, so würde hier, wenn man der Maxime die
Allgemeinheit eines Gesetzes geben wollte, grade das äußerste
|28.10| Widerspiel der Einstimmung, der ärgste Widerstreit und
die gänzliche Vernichtung der Maxime selbst und ihrer Absicht
erfolgen. Denn der Wille Aller hat alsdann nicht ein und
dasselbe Object, sondern ein jeder hat das seinige (sein
eigenes Wohlbefinden), welches sich zwar zufälligerweise auch
mit anderer ihren Absichten, die sie gleichfalls auf sich
selbst richten, vertragen kann, aber lange nicht zum Gesetze
hinreichend |28.15| ist, weil die Ausnahmen, die man gelegentlich
zu machen befugt ist, endlos sind und gar nicht bestimmt in
eine allgemeine Regel befaßt werden können. Es kommt auf diese
Art eine Harmonie heraus, die derjenigen ähnlich ist, welche
ein gewisses Spottgedicht auf die Seeleneintracht zweier
sich zu Grunde richtenden Eheleute schildert: =O wundervolle
Harmonie, was er will, will auch |28.20| sie= &c., oder was von
der Anheischigmachung König =Franz= des Ersten gegen Kaiser
=Karl= den Fünften erzählt wird: was mein Bruder Karl haben will
(Mailand), das will ich auch haben. Empirische Bestimmungsgründe
taugen zu keiner allgemeinen äußeren Gesetzgebung, aber auch
eben so wenig zur innern; denn jeder legt sein Subject, ein
anderer aber ein anderes Subject der Neigung zum Grunde, |28.25|
#51# und in jedem Subject selber ist bald die, bald eine andere
im Vorzuge des Einflusses. Ein Gesetz ausfindig zu machen, das
sie inssammt unter dieser Bedingung, nämlich mit allerseitiger
Einstimmung, regierte, ist schlechterdings unmöglich.
§ 5.
Aufgabe I. |28.30|
Vorausgesetzt, daß die bloße gesetzgebende Form der Maximen allein der
zureichende Bestimmungsgrund eines Willens sei: die Beschaffenheit
desjenigen Willens zu finden, der dadurch allein bestimmbar ist.
Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt
werden kann und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch
|28.35| nicht unter die Erscheinungen gehört: so ist die Vorstellung
derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen
der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetze der Causalität
unterschieden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe selbst
Erscheinungen sein müssen. Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund
des Willens für diesen zum Gesetz dienen kann, als blos jene allgemeine
gesetzgebende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig
von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der
Causalität, beziehungsweise auf |29.5| einander gedacht werden. Eine
solche Unabhängigkeit aber heißt =Freiheit= im strengsten, d. i.
transscendentalen, Verstande. Also ist ein Wille, #52# dem die bloße
gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein
freier Wille.
§ 6. |29.10|
Aufgabe II.
Vorausgesetzt, daß ein Wille frei sei, das Gesetz zu finden, welches
ihn allein nothwendig zu bestimmen tauglich ist.
Da die Materie des praktischen Gesetzes, d. i. ein Object der Maxime,
niemals anders als empirisch gegeben werden kann, der freie Wille
aber, |29.15| als von empirischen (d. i. zur Sinnenwelten gehörigen)
Bedingungen unabhängig, dennoch bestimmbar sein muß: so muß ein freier
Wille, unabhängig von der =Materie= des Gesetzes, dennoch einen
Bestimmungsgrund in dem Gesetze antreffen. Es ist aber außer der
Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende
Form enthalten. Also ist |29.20| die gesetzgebende Form, so fern sie
in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungsgrund
des Willens ausmachen kann.
Anmerkung.
Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also
wechselsweise auf einander zurück. Ich frage hier nun nicht:
ob sie auch in der That verschieden seien, und |29.25| nicht
vielmehr ein unbedingtes Gesetz blos das Selbstbewußtsein einer
reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem
positiven Begriffe der Freiheit sei; sondern wovon unsere
=Erkenntniß= des unbedingt Praktischen =anhebe=, ob von der
Freiheit, oder dem praktischen Gesetze. Von der Freiheit kann es
nicht anheben; #53# denn deren können wir uns weder unmittelbar
bewußt werden, weil ihr |29.30| erster Begriff negativ ist,
noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung giebt
uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanism der
Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen. Also
ist es das =moralische Gesetz=, dessen wir uns unmittelbar
bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen),
welches sich uns =zuerst= darbietet und, indem die Vernunft
|29.35| jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu
überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund
darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt. Wie ist
aber auch das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich? Wir
können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so
wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem
wir auf die Nothwendigkeit, |30.5| womit sie uns die Vernunft
vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen,
dazu uns jene hinweiset, Acht haben. Der Begriff eines reinen
Willens entspringt aus den ersteren, wie das Bewußtsein eines
reinen Verstandes aus dem letzteren. Daß dieses die wahre
Unterordnung unserer Begriffe sei, und Sittlichkeit uns zuerst
den Begriff der Freiheit entdecke, mithin =praktische Vernunft=
|30.10| zuerst der speculativen das unauflöslichste Problem
mit diesem Begriffe aufstelle, um sie durch denselben in die
größte Verlegenheit zu setzen, erhellt schon daraus: daß, da aus
dem Begriffe der Freiheit in den Erscheinungen nichts erklärt
werden kann, sondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden
ausmachen muß, überdem auch die Antinomie der reinen Vernunft,
wenn sie zum Unbedingten in der |30.15| Reihe der Ursachen
aufsteigen will, sich bei einem so sehr wie bei dem andern in
Unbegreiflichkeiten verwickelt, indessen daß doch der letztere
(Mechanism) wenigstens #54# Brauchbarkeit in Erklärung der
Erscheinungen hat, man niemals zu dem Wagstücke gekommen sein
würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht
das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen
und hätte uns diesen |30.20| Begriff nicht aufgedrungen. Aber
auch die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns.
Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie
sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu
vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen
vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet
wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen,
|30.25| er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man
darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn
aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben
unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider
einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden
verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe
zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden |30.30| für möglich
halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich
nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß
er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann,
darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in
sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz
unbekannt geblieben wäre. |30.35|
§ 7.
Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft.
Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip
einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
Anmerkung. #55#
Die reine Geometrie hat Postulate als praktische Sätze, die
aber nichts weiter enthalten als die Voraussetzung, daß man
etwas thun =könne=, wenn etwa gefordert würde, man solle es
thun und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein
Dasein betreffen. Es sind also praktische Regeln unter einer
problematischen Bedingung |31.5| des Willens. Hier aber sagt
die Regel: man solle schlechthin auf gewisse Weise verfahren.
Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin als kategorisch
praktischer Satz a priori vorgestellt, wodurch der Wille
schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel
selbst, die also hier Gesetz ist) objectiv bestimmt wird. Denn
=reine, an sich praktische Vernunft= ist hier unmittelbar
gesetzgebend. Der Wille |31.10| wird als unabhängig von
empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, =durch
die bloße Form des Gesetzes= als bestimmt gedacht und dieser
Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen
angesehen. Die Sache ist befremdlich genug und hat ihres
gleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntniß nicht.
Denn der Gedanke _a priori_ von einer möglichen allgemeinen
Gesetzgebung, |31.15| der also blos problematisch ist, wird,
ohne von der Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen etwas zu
entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten. Es ist aber auch nicht
eine Vorschrift, nach welcher eine Handlung geschehen soll,
dadurch eine begehrte Wirkung möglich ist (denn da wäre die
Regel immer physisch bedingt), sondern eine Regel, die blos den
Willen in Ansehung der Form seiner |31.20| Maximen _a priori_
bestimmt, und da ist ein Gesetz, welches blos zum Behuf der
=subjectiven= Form der Grundsätze dient, als Bestimmungsgrund
durch die =objective= Form eines Gesetzes überhaupt, wenigstens
zu denken nicht unmöglich. Man kann das Bewußtsein dieses
Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, #56# weil man
es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem
Bewußtsein |31.25| der Freiheit (denn dieses ist uns nicht
vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich
für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz _a priori_,
der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung
gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die
Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem
Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde,
die |31.30| man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um
dieses Gesetz ohne Mißdeutung als =gegeben= anzusehen, wohl
bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum
der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich
gesetzgebend (_sic volo, sic jubeo_) ankündigt.
Folgerung. |31.35|
Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen)
ein allgemeines Gesetz, welches wir das =Sittengesetz= nennen.
Anmerkung.
Das vorher genannte Factum ist unleugbar. Man darf nur
das Urtheil zergliedern, welches die Menschen über die
Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit
finden, daß, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre
Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen,
die Maxime |32.5| des Willens bei einer Handlung jederzeit
an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst, indem sie
sich als _a priori_ praktisch betrachtet. Dieses Princip der
Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung
willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des
Willens unangesehen aller subjectiven Verschiedenheiten
desselben macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze
für alle vernünftige |32.10| #57# Wesen, so fern sie überhaupt
einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre Causalität durch
die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern sie der
Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen
Principien _a priori_ (denn diese haben allein diejenige
Nothwendigkeit, welche die Vernunft zum Grundsatze fordert)
fähig sind. Es schränkt sich also nicht blos auf Menschen ein,
sondern |32.15| geht auf alle endliche Wesen, die Vernunft
und Willen haben, ja schließt sogar das unendliche Wesen als
oberste Intelligenz mit ein. Im ersteren Falle aber hat das
Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar als
vernünftigem Wesen einen =reinen=, aber als mit Bedürfnissen
und sinnlichen Bewegursachen afficirtem Wesen keinen =heiligen=
Willen, d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen |32.20|
Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann.
Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein =Imperativ=,
der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist;
das Verhältniß eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist
=Abhängigkeit=, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine
=Nöthigung=, obzwar durch bloße Vernunft und deren objectives
Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, |32.25| die darum =Pflicht=
heißt, weil eine pathologisch afficirte (obgleich dadurch nicht
bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei
sich führt, der aus =subjectiven= Ursachen entspringt, daher
auch dem reinen objectiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein
kann und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der
ein innerer, aber intellectueller Zwang genannt werden kann, als
|32.30| moralischer Nöthigung bedarf. In der allergnugsamsten
Intelligenz wird die Willkür als keiner Maxime fähig, die nicht
zugleich objectiv Gesetz sein könnte, mit Recht vorgestellt,
und der Begriff der =Heiligkeit=, der ihr um deswillen zukommt,
setzt sie #58# zwar nicht über alle praktische, aber doch über
alle praktisch-einschränkende Gesetze, mithin Verbindlichkeit
und Pflicht weg. Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl
|32.35| eine praktische Idee, welche nothwendig zum =Urbilde=
dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige
ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche
das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen
beständig und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche
gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben
zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein, d. i. Tugend, das
Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann, die
selbst wiederum wenigstens als natürlich erworbenes Vermögen
nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in solchem Falle
niemals apodiktische Gewißheit wird und als Überredung sehr
gefährlich ist. |33.5|
§ 8.
Lehrsatz IV.
Die =Autonomie= des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen
Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: alle =Heteronomie= der Willkür
gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist
|33.10| vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens
entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes
(nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der
Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine
Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit.
Jene =Unabhängigkeit= |33.15| aber ist Freiheit im =negativen=, diese
=eigene Gesetzgebung= aber #59# der reinen und als solche praktischen
Vernunft ist Freiheit im =positiven= Verstande. Also drückt das
moralische Gesetz nichts anders aus, als die =Autonomie= der reinen
praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit, und diese ist selbst die
formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit |33.20| dem
obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können. Wenn daher die
Materie des Wollens, welche nichts anders als das Object einer Begierde
sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz
ALS BEDINGUNG DER MÖGLICHKEIT DESSELBEN hineinkommt, so wird daraus
Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, |33.25|
irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich
nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen
Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche
Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Form in sich enthalten kann,
stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist
selbst dem |33.30| Princip einer =reinen= praktischen Vernunft, hiemit
also auch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich die Handlung,
die daraus entspringt, gesetzmäßig sein sollte.
Anmerkung I.
Zum praktischen Gesetze muß also niemals eine praktische
Vorschrift gezählt werden, die eine materiale (mithin
empirische) Bedingung bei sich führt. Denn das #60# Gesetz
des reinen Willens, der frei ist, setzt diesen in eine ganz
andere Sphäre als die empirische, und die Nothwendigkeit, die
es ausdrückt, da sie keine Naturnothwendigkeit |34.5| sein
soll, kann also blos in formalen Bedingungen der Möglichkeit
eines Gesetzes überhaupt bestehen. Alle Materie praktischer
Regeln beruht immer auf subjectiven Bedingungen, die ihr
keine Allgemeinheit für vernünftige Wesen, als lediglich die
bedingte (im Falle ich dieses oder jenes =begehre=, was ich
alsdann thun müsse, um es wirklich zu machen) verschaffen,
und sie drehen sich insgesammt |34.10| um das Princip =der
eigenen Glückseligkeit=. Nun ist freilich unleugbar, daß
alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben
müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund
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