Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 02

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apodiktische Gewißheit |11.30| bei sich führen. Aber diese
postuliren die =Möglichkeit einer Handlung=, deren Gegenstand
man _a priori_ theoretisch mit völliger Gewißheit als =möglich=
voraus erkannt hat. Jenes aber postulirt die Möglichkeit eines
=Gegenstandes= (Gottes und der Unsterblichkeit der Seele) selbst
aus apodiktischen =praktischen= Gesetzen, also nur zum Behuf
einer praktischen Vernunft; da denn diese Gewißheit |11.35|
der postulirten Möglichkeit gar nicht theoretisch, mithin auch
nicht apodiktisch, d. i. in Ansehung des Objects erkannte
Nothwendigkeit, sondern in Ansehung des Subjects zu Befolgung
ihrer objectiven, aber praktischen Gesetze nothwendige Annehmung,
mithin blos nothwendige Hypothesis ist. Ich wußte für diese
subjective, aber doch wahre und unbedingte Vernunftnothwendigkeit
keinen besseren Ausdruck |11.40| auszufinden.
Auf diese Weise wären denn nunmehr die Principien _a priori_ zweier
#21# Vermögen des Gemüths, des Erkenntniß- und Begehrungsvermögens,
ausgemittelt #22# und nach den Bedingungen, dem Umfange und Grenzen
ihres #23# Gebrauchs bestimmt, hiedurch aber zu einer systematischen,
theoretischen sowohl als praktischen Philosophie als Wissenschaft
sicherer Grund gelegt. |12.5|
Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungen wohl nicht begegnen, als
wenn jemand die unerwartete Entdeckung machte, daß es überall gar kein
Erkenntniß _a priori_ gebe, noch geben könne. Allein es hat hiemit
keine Noth. Es wäre eben so viel, als ob jemand durch Vernunft beweisen
wollte, daß es keine Vernunft gebe. Denn wir sagen nur, daß wir etwas
|12.10| durch Vernunft erkennen, wenn wir uns bewußt sind, daß wir es
auch hätten wissen können, wenn es uns auch nicht so in der Erfahrung
vorgekommen wäre; mithin ist Vernunfterkenntniß und Erkenntniß _a
priori_ #24# einerlei. Aus einem Erfahrungssatze Nothwendigkeit (_ex
pumice aquam_) auspressen wollen, mit dieser auch wahre Allgemeinheit
(ohne welche kein |12.15| Vernunftschluß, mithin auch nicht der Schluß
aus der Analogie, welche eine wenigstens präsumirte Allgemeinheit und
objective Nothwendigkeit ist und diese also doch immer voraussetzt)
einem Urtheile verschaffen wollen, ist gerader Widerspruch. Subjective
Nothwendigkeit, d. i. Gewohnheit, statt der objectiven, die nur in
Urtheilen _a priori_ stattfindet, unterschieben, |12.20| heißt der
Vernunft das Vermögen absprechen, über den Gegenstand zu urtheilen,
d. i. ihn, und was ihm zukomme, zu erkennen, und z. B. von dem, was
öfters und immer auf einen gewissen vorhergehenden Zustand folgte,
nicht sagen, daß man aus diesem auf jenes =schließen= könne (denn das
würde objective Nothwendigkeit und Begriff von einer Verbindung |12.25|
_a priori_ bedeuten), sondern nur ähnliche Fälle (mit den Thieren auf
ähnliche Art) erwarten dürfe, d. i. den Begriff der Ursache im Grunde
als falsch und bloßen Gedankenbetrug verwerfen. Diesem Mangel der
objectiven #25# und daraus folgenden allgemeinen Gültigkeit dadurch
abhelfen wollen, daß man doch keinen Grund sähe, andern vernünftigen
Wesen eine |12.30| andere Vorstellungsart beizulegen, wenn das einen
gültigen Schluß abgäbe, so würde uns unsere Unwissenheit mehr Dienste
zu Erweiterung unserer Erkenntniß leisten, als alles Nachdenken. Denn
blos deswegen, weil wir andere vernünftige Wesen außer dem Menschen
nicht kennen, würden wir ein Recht haben, sie als so beschaffen
anzunehmen, wie wir |12.35| uns erkennen, d. i. wir würden sie wirklich
kennen. Ich erwähne hier nicht einmal, daß nicht die Allgemeinheit des
Fürwahrhaltens die objective Gültigkeit eines Urtheils (d. i. die
Gültigkeit desselben als Erkenntnisses) beweise, sondern, wenn jene
auch zufälliger Weise zuträfe, dieses doch noch nicht einen Beweis der
Übereinstimmung mit dem Object abgeben könne; vielmehr die objective
Gültigkeit allein den Grund einer nothwendigen allgemeinen Einstimmung
ausmache. |13.5|
=Hume= würde sich bei diesem System des =allgemeinen Empirisms=
#26# in Grundsätzen auch sehr wohl befinden; denn er verlangte, wie
bekannt, nichts mehr, als daß statt aller objectiven Bedeutung der
Nothwendigkeit im Begriffe der Ursache eine blos subjective, nämlich
Gewohnheit, angenommen werde, um der Vernunft alles Urtheil über Gott,
Freiheit |13.10| und Unsterblichkeit abzusprechen; und er verstand sich
gewiß sehr gut darauf, um, wenn man ihm nur die Principien zugestand,
Schlüsse mit aller logischen Bündigkeit daraus zu folgern. Aber so
allgemein hat selbst Hume den Empirism nicht gemacht, um auch die
Mathematik darin einzuschließen. Er hielt ihre Sätze für analytisch,
und wenn das seine Richtigkeit |13.15| hätte, würden sie in der That
auch apodiktisch sein, gleichwohl aber daraus kein Schluß auf ein
Vermögen der Vernunft, auch in der Philosophie apodiktische Urtheile,
nämlich solche, die synthetisch wären (wie der Satz der Causalität),
zu fällen, gezogen werden können. Nähme man aber den Empirism der
Principien =allgemein= an, so wäre auch Mathematik |13.20| damit
eingeflochten.
Wenn nun diese mit der Vernunft, die blos empirische Grundsätze
#27# zuläßt, in Widerstreit geräth, wie dieses in der Antinomie, da
Mathematik die unendliche Theilbarkeit des Raumes unwidersprechlich
beweiset, der Empirism aber sie nicht verstatten kann, unvermeidlich
ist: so ist |13.25| die größte mögliche Evidenz der Demonstration mit
den vorgeblichen Schlüssen aus Erfahrungsprincipien in offenbarem
Widerspruch, und nun muß man wie der Blinde des Cheselden fragen: was
betrügt mich, das Gesicht oder Gefühl? (Denn der Empirism gründet sich
auf einer =gefühlten=, der Rationalism aber auf einer =eingesehenen=
Nothwendigkeit.) |13.30| Und so offenbart sich der allgemeine Empirism
als den ächten =Scepticism=, den man dem Hume fälschlich in so
unbeschränkter Bedeutung beilegte[6], da er wenigstens einen sicheren
Probirstein der Erfahrung #28# an der Mathematik übrig ließ, statt daß
jener schlechterdings keinen Probirstein derselben (der immer nur in
Principien _a priori_ angetroffen werden kann) verstattet, obzwar diese
doch nicht aus bloßen Gefühlen, sondern auch aus Urtheilen besteht.
[6] Namen, welche einen Sectenanhang bezeichnen, haben zu aller
Zeit viel Rechtsverdrehung bei sich geführt; ungefähr so, als
wenn jemand sagte: +_N._+ ist ein |13.35| =Idealist=. Denn ob er
gleich durchaus nicht allein einräumt, sondern darauf dringt,
daß unseren Vorstellungen äußerer Dinge wirkliche Gegenstände
äußerer Dinge correspondiren, so will er doch, daß die Form der
Anschauung derselben nicht ihnen, sondern nur dem menschlichen
Gemüthe anhänge.
Doch da es in diesem philosophischen und kritischen Zeitalter
schwerlich |14.5| mit jenem Empirism Ernst sein kann, und er
vermuthlich nur zur Übung der Urtheilskraft, und um durch den Contrast
die Nothwendigkeit rationaler Principien _a priori_ in ein helleres
Licht zu setzen, aufgestellt wird: so kann man es denen doch Dank
wissen, die sich mit dieser sonst eben nicht belehrenden Arbeit bemühen
wollen. |14.10|


Einleitung. #29#
Von der Idee einer Kritik der praktischen Vernunft.

Der theoretische Gebrauch der Vernunft beschäftigte sich mit
Gegenständen des bloßen Erkenntnißvermögens, und eine Kritik derselben
in Absicht auf diesen Gebrauch betraf eigentlich nur das =reine=
Erkenntnißvermögen, |15.5| weil dieses Verdacht erregte, der sich
auch hernach bestätigte, daß es sich leichtlich über seine Grenzen
unter unerreichbare Gegenstände, oder gar einander widerstreitende
Begriffe verlöre. Mit dem praktischen Gebrauche der Vernunft verhält
es sich schon anders. In diesem beschäftigt sich die Vernunft mit
Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein |15.10| Vermögen ist, den
Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder
doch sich selbst zu Bewirkung derselben (das physische Vermögen mag
nun hinreichend sein, oder nicht), d. i. seine Causalität, #30# zu
bestimmen. Denn da kann wenigstens die Vernunft zur Willensbestimmung
gelangen und hat so fern immer objective Realität, als es nur |15.15|
auf das Wollen ankommt. Hier ist also die erste Frage: ob reine
Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder
ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund derselben
sein könne. Nun tritt hier ein durch die Kritik der reinen Vernunft
gerechtfertigter, obzwar keiner empirischen Darstellung fähiger
Begriff der Causalität, nämlich |15.20| der der =Freiheit=, ein, und
wenn wir anjetzt Gründe ausfindig machen können, zu beweisen, daß
diese Eigenschaft dem menschlichen Willen (und so auch dem Willen
aller vernünftigen Wesen) in der That zukomme, so wird dadurch nicht
allein dargethan, daß reine Vernunft praktisch sein könne, sondern
daß sie allein und nicht die empirisch-beschränkte unbedingterweise
|15.25| praktisch sei. Folglich werden wir nicht eine Kritik der
=reinen praktischen=, sondern nur der =praktischen= Vernunft überhaupt
zu bearbeiten haben. Denn reine Vernunft, wenn allererst dargethan
worden, daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie ist es,
welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs
enthält. Die Kritik der #31# praktischen Vernunft überhaupt hat also
die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung
abzuhalten, ausschließungsweise den |16.5| Bestimmungsgrund des Willens
allein abgeben zu wollen. Der Gebrauch der reinen Vernunft, wenn,
daß es eine solche gebe, ausgemacht ist, ist allein immanent; der
empirisch-bedingte, der sich die Alleinherrschaft anmaßt, ist dagegen
transscendent und äußert sich in Zumuthungen und Geboten, die ganz
über ihr Gebiet hinausgehen, welches gerade das umgekehrte |16.10|
Verhältniß von dem ist, was von der reinen Vernunft im speculativen
Gebrauche gesagt werden konnte.
Indessen, da es immer noch reine Vernunft ist, deren Erkenntniß
hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt, so wird doch die
Eintheilung einer Kritik der praktischen Vernunft dem allgemeinen
Abrisse |16.15| nach der der speculativen gemäß angeordnet werden
müssen. Wir werden also eine =Elementarlehre= und =Methodenlehre=
derselben, in jener als dem ersten Theile eine =Analytik= als Regel
der Wahrheit und eine =Dialektik= als Darstellung und Auflösung des
Scheins in Urtheilen der praktischen Vernunft haben müssen. Allein
die Ordnung in der Unterabtheilung |16.20| der Analytik wird wiederum
das Umgewandte von der in der #32# Kritik der reinen speculativen
Vernunft sein. Denn in der gegenwärtigen werden wir von =Grundsätzen=
anfangend zu =Begriffen= und von diesen allererst, wo möglich, zu den
Sinnen gehen; da wir hingegen bei der speculativen Vernunft von den
Sinnen anfingen und bei den Grundsätzen |16.25| endigen mußten. Hievon
liegt der Grund nun wiederum darin: daß wir es jetzt mit einem Willen
zuthun haben und die Vernunft nicht im Verhältniß auf Gegenstände,
sondern auf diesen Willen und dessen Causalität zu erwägen haben, da
denn die Grundsätze der empirisch unbedingten Causalität den Anfang
machen müssen, nach welchem der Versuch gemacht |16.30| werden kann,
unsere Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines solchen Willens,
ihrer Anwendung auf Gegenstände, zuletzt auf das Subject und dessen
Sinnlichkeit, allererst festzusetzen. Das Gesetz der Causalität aus
Freiheit, d. i. irgend ein reiner praktischer Grundsatz, macht hier
unvermeidlich den Anfang und bestimmt die Gegenstände, worauf er allein
bezogen |16.35| werden kann.


Der
Kritik der praktischen Vernunft #33#

Erster Theil.
Elementarlehre
der
reinen praktischen Vernunft.


Erstes Buch. #35#
Die Analytik der reinen praktischen Vernunft.

Erstes Hauptstück.
Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft.
§ 1. |19.5|
Erklärung.
Praktische =Grundsätze= sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung
des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat.
Sie sind subjectiv oder =Maximen=, wenn die Bedingung nur als für den
Willen des Subjects gültig von ihm angesehen wird; objectiv aber oder
|19.10| praktische =Gesetze=, wenn jene als objectiv, d. i. für den
Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird.
Anmerkung.
Wenn man annimmt, daß =reine= Vernunft einen praktisch, d. i.
zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten
könne, so giebt es praktische |19.15| #36# Gesetze; wo aber
nicht, so werden alle praktische Grundsätze bloße Maximen sein.
In einem pathologisch-afficirten Willen eines vernünftigen
Wesens kann ein Widerstreit der Maximen wider die von ihm
selbst erkannte praktische Gesetze angetroffen werden. Z.
B. es kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung
ungerächt zu erdulden, und doch zugleich einsehen, daß dieses
kein praktisches |19.20| Gesetz, sondern nur seine Maxime sei,
dagegen als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens
in einer und derselben Maxime mit sich selbst nicht zusammen
stimmen könne. In der Naturerkenntniß sind die Principien
dessen, was geschieht, (z. B. das Princip der Gleichheit der
Wirkung und Gegenwirkung in der Mittheilung der Bewegung)
zugleich Gesetze der Natur; denn der Gebrauch |19.25| der
Vernunft ist dort theoretisch und durch die Beschaffenheit
des Objects bestimmt. In der praktischen Erkenntniß, d. i.
derjenigen, welche es blos mit Bestimmungsgründen des Willens zu
thun hat, sind Grundsätze, die man sich macht, darum noch nicht
Gesetze, darunter man unvermeidlich stehe, weil die Vernunft
im Praktischen es mit dem Subjecte zu thun hat, nämlich dem
Begehrungsvermögen, nach |20.5| dessen besonderer Beschaffenheit
sich die Regel vielfältig richten kann. -- Die praktische Regel
ist jederzeit ein Product der Vernunft, weil sie Handlung
als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt. Diese Regel
ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein
Bestimmungsgrund des Willens ist, ein =Imperativ=, d. i. eine
Regel, die durch ein Sollen, welches die objective Nöthigung
|20.10| der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird, und bedeutet,
daß, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, die
Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde. Die
Imperativen gelten also objectiv und sind von Maximen, #37# als
subjectiven Grundsätzen, gänzlich unterschieden. Jene bestimmen
aber entweder die Bedingungen der Causalität des vernünftigen
Wesens, als wirkender |20.15| Ursache, bloß in Ansehung der
Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben, oder sie bestimmen nur
den Willen, er mag zur Wirkung hinreichend sein oder nicht.
Die erstere würden hypothetische Imperativen sein und bloße
Vorschriften der Geschicklichkeit enthalten; die zweiten würden
dagegen kategorisch und allein praktische Gesetze sein. Maximen
sind also zwar =Grundsätze=, aber nicht =Imperativen=. |20.20|
Die Imperativen selber aber, wenn sie bedingt sind, d. i. nicht
den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer
begehrten Wirkung bestimmen, d. i. hypothetische Imperativen
sind, sind zwar praktische =Vorschriften=, aber keine =Gesetze=.
Die letzteren müssen den Willen als Willen, noch ehe ich frage,
ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung erforderliche Vermögen
habe, oder was mir, |20.25| um diese hervorzubringen, zu thun
sei, hinreichend bestimmen, mithin kategorisch sein, sonst sind
es keine Gesetze: weil ihnen die Nothwendigkeit fehlt, welche,
wenn sie praktisch sein soll, von pathologischen, mithin dem
Willen zufällig anklebenden Bedingungen unabhängig sein muß.
Saget jemanden, z. B. daß er in der Jugend arbeiten und sparen
müsse, um im Alter nicht zu darben: so ist dieses eine richtige
|20.30| und zugleich wichtige praktische Vorschrift des Willens.
Man sieht aber leicht, daß der Wille hier auf etwas =Anderes=
verwiesen werde, wovon man voraussetzt, daß er es begehre, und
dieses Begehren muß man ihm, dem Thäter selbst, überlassen,
ob er noch andere Hülfsquellen außer seinem selbst erworbenen
Vermögen vorhersehe, oder ob er gar nicht hoffe alt zu werden,
oder sich denkt im Falle der |20.35| Noth dereinst schlecht
behelfen zu können. Die Vernunft, aus der allein alle Regel,
#38# die Nothwendigkeit enthalten soll, entspringen kann, legt
in diese ihre Vorschrift zwar auch Nothwendigkeit (denn ohne das
wäre sie kein Imperativ), aber diese ist nur subjectiv bedingt,
und man kann sie nicht in allen Subjecten in gleichem Grade
voraussetzen. Zu ihrer Gesetzgebung aber wird erfordert, daß
sie blos =sich selbst= |20.40| vorauszusetzen bedürfe, weil die
Regel nur alsdann objectiv und allgemein gültig ist, wenn sie
ohne zufällige, subjective Bedingungen gilt, die ein vernünftig
Wesen von dem andern unterscheiden. Nun sagt jemanden, er solle
niemals lügenhaft versprechen, so ist dies eine Regel, die blos
seinen Willen betrifft; die Absichten, die der Mensch haben mag,
mögen durch denselben erreicht werden können, |21.5| oder nicht;
das bloße Wollen ist das, was durch jene Regel völlig _a priori_
bestimmt werden soll. Findet sich nun, daß diese Regel praktisch
richtig sei, so ist sie ein Gesetz, weil sie ein kategorischer
Imperativ ist. Also beziehen sich praktische Gesetze allein
auf den Willen, unangesehen dessen, was durch die Causalität
desselben ausgerichtet wird, und man kann von der letztern (als
zur Sinnenwelt gehörig) |21.10| abstrahiren um sie rein zu haben.
§2.
Lehrsatz I.
Alle praktische Principien, die ein =Object= (Materie) des
Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen,
sind insgesammt |21.15| empirisch und können keine praktische Gesetze
abgeben.
Ich verstehe unter der Materie des Begehrungsvermögens einen
Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird. Wenn die Begierde nach
diesem Gegenstande nun vor der praktischen Regel vorhergeht und die
Bedingung #39# ist, sie sich zum Princip zu machen, so sage ich
(=erstlich=): dieses Princip |21.20| ist alsdann jederzeit empirisch.
Denn der Bestimmungsgrund der Willkür ist alsdann die Vorstellung
eines Objects und dasjenige Verhältniß derselben zum Subject, wodurch
das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben bestimmt wird.
Ein solches Verhältniß aber zum Subject heißt die =Lust= an der
Wirklichkeit eines Gegenstandes. Also müßte diese als |21.25| Bedingung
der Möglichkeit der Bestimmung der Willkür vorausgesetzt werden. Es
kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie
auch sei, _a priori_ erkannt werden, ob sie mit =Lust= oder =Unlust=
verbunden, oder =indifferent= sein werde. Also muß in solchem Falle
der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch sein, mithin auch
das |21.30| praktische materiale Princip, welches ihn als Bedingung
voraussetzte.
Da nun (=zweitens=) ein Princip, das sich nur auf die subjective
Bedingung der Empfänglichkeit einer Lust oder Unlust (die jederzeit nur
empirisch erkannt und nicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art
gültig sein kann) gründet, zwar wohl für das Subject, das sie besitzt,
zu |21.35| ihrer =Maxime=, aber auch für diese selbst (weil es ihm an
objectiver Nothwendigkeit, die _a priori_ erkannt werden muß, mangelt)
nicht zum =Gesetze= dienen kann, so kann ein solches Princip niemals
ein praktisches #40# Gesetz abgeben.
§ 3.
Lehrsatz II. |22.5|
Alle materiale praktische Principien sind, als solche, insgesammt von
einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der
Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.
Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie
ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet
sich |22.10| auf der =Empfänglichkeit= des Subjects, weil sie von
dem Dasein eines Gegenstandes =abhängt=; mithin gehört sie dem
Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an, der eine Beziehung der
Vorstellung =auf ein Object= nach Begriffen, aber nicht auf das
Subject nach Gefühlen ausdrückt. Sie ist also nur so fern praktisch,
als die Empfindung der Annehmlichkeit, die |22.15| das Subject von
der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen
bestimmt. Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens
von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes
Dasein begleitet, die =Glückseligkeit=, und das Princip, diese sich
zum höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu machen, das Princip
|22.20| der Selbstliebe. Also sind alle materiale Principien, die den
Bestimmungsgrund der Willkür in der aus irgend eines Gegenstandes
Wirklichkeit #41# zu empfindenden Lust oder Unlust setzen, so fern
gänzlich von =einerlei Art=, daß sie insgesammt zum Princip der
Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit gehören. |22.25|
Folgerung.
Alle =materiale= praktische Regeln setzen den Bestimmungsgrund des
Willens im =unteren Begehrungsvermögen=, und, gäbe es gar keine =blos
formale= Gesetze desselben, die den Willen hinreichend bestimmten, so
würde auch =kein oberes Begehrungsvermögen= eingeräumt werden |22.30|
können.
Anmerkung I.
Man muß sich wundern, wie sonst scharfsinnige Männer
einen Unterschied zwischen dem =unteren= und =oberen
Begehrungsvermögen= darin zu finden glauben können, ob die
VORSTELLUNGEN, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in
=den Sinnen=, oder dem =Verstande= ihren Ursprung haben. Denn es
kommt, wenn man nach den Bestimmungsgründen des Begehrens frägt
und sie in einer von irgend etwas erwarteten Annehmlichkeit
setzt, gar nicht darauf an, wo die =Vorstellung= dieses
vergnügenden Gegenstandes herkomme, sondern nur |23.5| wie
sehr sie =vergnügt=. Wenn eine Vorstellung, sie mag immerhin
im Verstande ihren Sitz und Ursprung haben, die Willkür nur
dadurch bestimmen kann, daß sie ein Gefühl einer Lust im
Subjecte voraussetzt, so ist, daß sie ein Bestimmungsgrund
der Willkür sei, gänzlich von der Beschaffenheit des inneren
Sinnes abhängig, daß dieser nämlich dadurch mit Annehmlichkeit
afficirt werden kann. Die |23.10| Vorstellungen der Gegenstände
mögen noch so ungleichartig, sie mögen Verstandes-, #42# selbst
Vernunftvorstellungen im Gegensatze der Vorstellungen der
Sinne sein, so ist doch das Gefühl der Lust, wodurch jene doch
eigentlich nur den Bestimmungsgrund des Willens ausmachen, (die
Annehmlichkeit, das Vergnügen, das man davon erwartet, welches
die Thätigkeit zur Hervorbringung des Objects antreibt) |23.15|
nicht allein so fern von einerlei Art, daß es jederzeit blos
empirisch erkannt werden kann, sondern auch sofern, als es
eine und dieselbe Lebenskraft, die sich im Begehrungsvermögen
äußert, afficirt und in dieser Beziehung von jedem anderen
Bestimmungsgrunde in nichts als dem Grade verschieden sein
kann. Wie würde man sonst zwischen zwei der Vorstellungsart
nach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründen |23.20| eine
Vergleichung der =Größe= nach anstellen können, um den, der
am meisten das Begehrungsvermögen afficirt, vorzuziehen? Eben
derselbe Mensch kann ein ihm lehrreiches Buch, das ihm nur
einmal zu Händen kommt, ungelesen zurückgeben, um die Jagd
nicht zu versäumen, in der Mitte einer schönen Rede weggehen,
um zur Mahlzeit nicht zu spät zu kommen, eine Unterhaltung
|23.25| durch vernünftige Gespräche, die er sonst sehr schätzt,
verlassen, um sich an den Spieltisch zu setzen, sogar einen
Armen, dem wohlzuthun ihm sonst Freude ist, abweisen, weil
er jetzt eben nicht mehr Geld in der Tasche hat, als er
braucht, um den Eintritt in die Komödie zu bezahlen. Beruht
die Willensbestimmung auf dem Gefühle der Annehmlichkeit oder
Unannehmlichkeit, die er aus irgend einer Ursache erwartet,
|23.30| so ist es ihm gänzlich einerlei, durch welche
Vorstellungsart er afficirt werde. Nur wie stark, wie lange,
wie leicht erworben und oft wiederholt diese Annehmlichkeit
sei, daran liegt es ihm, um sich zur Wahl zu entschließen. So
wie demjenigen, der Gold zur Ausgabe braucht, gänzlich einerlei
ist, ob die Materie desselben, das #43# Gold, aus dem Gebirge
gegraben, oder aus dem Sande gewaschen ist, wenn es nur |23.35|
allenthalben für denselben Werth angenommen wird, so frägt
kein Mensch, wenn es ihm blos an der Annehmlichkeit des Lebens
gelegen ist, ob Verstandes- oder Sinnesvorstellungen, sondern
nur =wie viel und großes Vergnügen= sie ihm auf die längste
Zeit verschaffen. Nur diejenigen, welche der reinen Vernunft
das Vermögen, ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls den
Willen zu bestimmen, gerne abstreiten |23.40| möchten, können
sich so weit von ihrer eigenen Erklärung verirren, das, was sie
selbst vorher auf ein und eben dasselbe Princip gebracht haben,
dennoch hernach für ganz ungleichartig zu erklären. So findet
sich z. B., daß man auch an bloßer =Kraftanwendung=, an dem
Bewußtsein seiner Seelenstärke in Überwindung der Hindernisse,
die sich unserem Vorsatze entgegensetzen, an der Kultur der
Geistestalente u. s. w. |24.5| Vergnügen finden könne, und wir
nennen das mit Recht =feinere= Freuden und Ergötzungen, weil sie
mehr wie andere in unserer Gewalt sind, sich nicht abnutzen,
das Gefühl zu noch mehrerem Genuß derselben vielmehr stärken
und, indem sie ergötzen, zugleich cultiviren. Allein sie darum
für eine andere Art, den Willen zu bestimmen, als blos durch
den Sinn, auszugeben, da sie doch einmal zur Möglichkeit jener
Vergnügen |24.10| ein daraus in uns angelegtes Gefühl als erste
Bedingung dieses Wohlgefallens voraussetzen, ist gerade so, als
wenn Unwissende, die gerne in der Metaphysik pfuschern möchten,
sich die Materie so fein, so überfein, daß sie selbst darüber
schwindlig werden möchten, denken und dann glauben, auf diese
Art sich ein =geistiges= und doch ausgedehntes Wesen erdacht
zu haben. Wenn wir es mit dem =Epikur= |24.15| bei der Tugend
aufs bloße Vergnügen aussetzen, das sie verspricht, um den #44#
Willen zu bestimmen, so können wir ihn hernach nicht tadeln,
daß er dieses mit denen der gröbsten Sinne für ganz gleichartig
hält; denn man hat gar nicht Grund ihm aufzubürden, daß er die
Vorstellungen, wodurch dieses Gefühl in uns erregt würde, blos
den körperlichen Sinnen beigemessen hätte. Er hat von vielen
derselben |24.20| den Quell, so viel man errathen kann, eben
sowohl in dem Gebrauch des höheren Erkenntnißvermögens gesucht;
aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht hindern,
nach genanntem Princip das Vergnügen selbst, das uns jene
allenfalls intellectuelle Vorstellungen gewähren, und wodurch
sie allein Bestimmungsgründe des Willens sein können, gänzlich
für gleichartig zu halten. =Consequent= zu sein, |24.25| ist
die größte Obliegenheit eines Philosophen und wird doch am
seltensten angetroffen. Die alten griechischen Schulen geben
uns davon mehr Beispiele, als wir in unserem =synkretistischen=
Zeitalter antreffen, wo ein gewisses =Coalitionssystem=
widersprechender Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit
erkünstelt wird, weil es sich einem Publicum besser empfiehlt,
das zufrieden ist, von allem |24.30| etwas und im ganzen
nichts zu wissen und dabei in alten Sätteln gerecht zu sein.
Das Princip der eignen Glückseligkeit, so viel Verstand und
Vernunft bei ihm auch gebraucht werden mag, würde doch für den
Willen keine andere Bestimmungsgründe, als die dem =unteren=
Begehrungsvermögen angemessen sind, in sich fassen, und es
giebt also entweder gar kein oberes Begehrungsvermögen, oder
=reine |24.35| Vernunft= muß für sich allein praktisch sein,
d. i. ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls, mithin ohne
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