Kant's gesammelte Schriften. Band V. Kritik der praktischen Vernunft. - 01

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Herausgebers aufgeführt sind; diese Änderungen sind am Ende des
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Kant's gesammelte Schriften

Herausgegeben
von der
Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften

Band V
Erste Abtheilung: Werke
Fünfter Band

Berlin
Druck und Verlag von Georg Reimer
1913


Kant's Werke

Band _V_
Kritik der praktischen Vernunft.
Kritik der Urtheilskraft.

Berlin
Druck und Verlag von Georg Reimer
1913


Inhaltsübersicht des Bandes.

1788.
KRITIK DER PRAKTISCHEN VERNUNFT 1
=Vorrede.= 3
=Einleitung.= Von der Idee einer Kritik der praktischen Vernunft 15
ERSTER THEIL. ELEMENTARLEHRE DER REINEN PRAKTISCHEN VERNUNFT 17
ERSTES BUCH. DIE ANALYTIK DER REINEN PRAKTISCHEN VERNUNFT 19
=Erstes Hauptstück.= Von den Grundsätzen der reinen praktischen
Vernunft 19
_I._ Von der Deduction der Grundsätze der reinen praktischen
Vernunft 42
_II._ Von der Befugniß der reinen Vernunft im praktischen
Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im speculativen
für sich nicht möglich ist 50
=Zweites Hauptstück.= Von dem Begriffe eines Gegenstandes der
reinen praktischen Vernunft 57
Von der Typik der reinen praktischen Urtheilskraft 67
=Drittes Hauptstück.= Von den Triebfedern der reinen praktischen
Vernunft 71
Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen
Vernunft 89
ZWEITES BUCH. DIALEKTIK DER REINEN PRAKTISCHEN VERNUNFT 107
=Erstes Hauptstück.= Von einer Dialektik der reinen praktischen
Vernunft überhaupt 107
=Zweites Hauptstück.= Von der Dialektik der reinen Vernunft in
Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut 110
_I._ Die Antinomie der praktischen Vernunft 113
_II._ Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen
Vernunft 114
_III._ Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in
ihrer Verbindung mit der speculativen 119
_IV._ Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der reinen
praktischen Vernunft 122
_V._ Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen
Vernunft 124
_VI._ Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft
überhaupt 132
_VII._ Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer
Absicht, ohne damit ihr Erkenntniß als speculativ zugleich
zu erweitern, zu denken möglich sei? 134
_VIII._ Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen
Vernunft 142
_IX._ Von der der praktischen Bestimmung des Menschen
weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnißvermögen 146
ZWEITER THEIL. METHODENLEHRE DER REINEN PRAKTISCHEN VERNUNFT 149
Beschluß 161

_Anmerkungen_ 487


=Kritik= der praktischen Vernunft
von
Immanuel Kant.


Vorrede. #3#

Warum diese Kritik nicht eine Kritik der =reinen= praktischen, sondern
schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird, obgleich
der Parallelism derselben mit der speculativen das erstere zu erfordern
scheint, darüber giebt diese Abhandlung hinreichenden Aufschluß. Sie
soll blos |3.5| darthun, =daß es reine praktische Vernunft gebe=,
und kritisirt in dieser Absicht ihr ganzes =praktisches Vermögen=.
Wenn es ihr hiemit gelingt, so bedarf sie das =reine Vermögen selbst=
nicht zu kritisiren, um zu sehen, ob sich die Vernunft mit einem
solchen als einer bloßen Anmaßung nicht =übersteige= (wie es wohl mit
der speculativen geschieht). Denn |3.10| wenn sie als reine Vernunft
wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe
Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit,
es zu sein, ist vergeblich.
Mit diesem Vermögen steht auch die transscendentale =Freiheit= nunmehr
#4# fest, und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin
|3.15| die speculative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der
Causalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten, darin
sie unvermeidlich geräth, wenn sie in der Reihe der Causalverbindung
sich das =Unbedingte= denken will, welchen Begriff sie aber nur
problematisch, als nicht unmöglich zu denken, aufstellen konnte, ohne
ihm seine objective Realität zu |3.20| sichern, sondern allein um nicht
durch vorgebliche Unmöglichkeit dessen, was sie doch wenigstens als
denkbar gelten lassen muß, in ihrem Wesen angefochten und in einen
Abgrund des Scepticisms gestürzt zu werden.
Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein
apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun
den =Schlußstein= |3.25| von dem ganzen Gebäude eines Systems der
reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe
(die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser
ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm
und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die =Möglichkeit=
derselben wird dadurch #5# =bewiesen=, daß Freiheit wirklich ist; denn
diese Idee offenbart sich |4.5| durchs moralische Gesetz.
Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der speculativen
Vernunft, wovon wir die Möglichkeit _a priori_ =wissen=, ohne sie
doch einzusehen, weil sie die Bedingung[1] des moralischen Gesetzes
ist, welches wir wissen. Die Ideen von =Gott= und =Unsterblichkeit=
sind aber nicht Bedingungen |4.10| des moralischen Gesetzes, sondern
nur Bedingungen des nothwendigen Objects eines durch dieses Gesetz
bestimmten Willens, d. i. des #6# bloß praktischen Gebrauchs unserer
reinen Vernunft; also können wir von jenen Ideen auch, ich will nicht
bloß sagen, nicht die Wirklichkeit, sondern auch nicht einmal die
Möglichkeit zu =erkennen= und =einzusehen= behaupten. |4.15| Gleichwohl
aber sind die Bedingungen der Anwendung des moralisch bestimmten
Willens auf sein ihm _a priori_ gegebenes Object (das höchste Gut).
Folglich kann und muß ihre Möglichkeit in dieser praktischen Beziehung
=angenommen= werden, ohne sie doch theoretisch zu erkennen und
einzusehen. Für die letztere Forderung ist in praktischer Absicht
|4.20| genug, daß sie keine innere Unmöglichkeit (Widerspruch)
enthalten. Hier ist nun ein in Vergleichung mit der speculativen
Vernunft bloß =subjectiver= Grund des Fürwahrhaltens, der doch einer
eben so reinen, aber praktischen Vernunft =objectiv= gültig ist,
dadurch den Ideen von Gott und Unsterblichkeit vermittelst des Begriffs
der Freiheit objective Realität |4.25| und Befugniß, ja subjective
Nothwendigkeit (Bedürfniß der reinen Vernunft) sie anzunehmen
verschafft wird, ohne daß dadurch doch die Vernunft im theoretischen
Erkenntnisse erweitert, sondern nur die Möglichkeit, die vorher nur
=Problem= war, hier =Assertion= wird, gegeben und so der praktische #7#
Gebrauch der Vernunft mit den Elementen des theoretischen verknüpft
wird. Und dieses Bedürfniß ist nicht etwa ein hypothetisches einer
=beliebigen= Absicht der Speculation, daß man etwas annehmen müsse,
wenn |5.5| man zur Vollendung des Vernunftgebrauchs in der Speculation
hinaufsteigen =will=, sondern ein =gesetzliches=, etwas anzunehmen,
ohne welches nicht geschehen kann, was man sich zur Absicht seines
Thuns und Lassens unnachlaßlich setzen =soll=.
[1] Damit man hier nicht =Inconsequenzen= anzutreffen wähne, wenn
ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes
nenne und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische
Gesetz die Bedingung sei, unter der wir |4.30| uns allererst der
Freiheit =bewußt werden= können, so will ich nur erinnern, daß
die Freiheit allerdings die _ratio essendi_ des moralischen
Gesetzes, das moralische Gesetz aber die _ratio cognoscendi_ der
Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer
Vernunft =eher= deutlich gedacht, so würden wir uns niemals
berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich
sich nicht widerspricht), |4.35| =anzunehmen=. Wäre aber keine
Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar =nicht
anzutreffen= sein.
Es wäre allerdings befriedigender für unsere speculative Vernunft,
|5.10| ohne diesen Umschweif jene Aufgaben für sich aufzulösen und sie
als Einsicht zum praktischen Gebrauche aufzubewahren; allein es ist
einmal mit unserem Vermögen der Speculation nicht so gut bestellt.
Diejenige, welche sich solcher hohen Erkenntnisse rühmen, sollten
damit nicht zurückhalten, sondern sie öffentlich zur Prüfung und
Hochschätzung darstellen. Sie wollen |5.15| =beweisen=; wohlan! so
mögen sie denn beweisen, und die Kritik legt ihnen als Siegern ihre
ganze Rüstung zu Füßen. _Quid statis? Nolint. Atqui licet esse beatis._
-- Da sie also in der That nicht wollen, vermuthlich weil sie nicht
können, so müssen wir jene doch nur wiederum zur Hand #8# nehmen,
um die Begriffe von =Gott=, =Freiheit= und =Unsterblichkeit=, für
|5.20| welche die Speculation nicht hinreichende Gewährleistung ihrer
=Möglichkeit= findet, in moralischem Gebrauche der Vernunft zu suchen
und auf demselben zu gründen.
Hier erklärt sich auch allererst das Räthsel der Kritik, wie man dem
übersinnlichen =Gebrauche der Kategorien= in der Speculation objective
|5.25| =Realität absprechen= und ihnen doch in Ansehung der Objecte
der reinen praktischen Vernunft diese =Realität zugestehen= könne;
denn vorher muß dieses nothwendig =inconsequent= aussehen, so lange
man einen solchen praktischen Gebrauch nur dem Namen nach kennt. Wird
man aber jetzt durch eine vollständige Zergliederung des letzteren
inne, daß |5.30| gedachte Realität hier gar auf keine theoretische
=Bestimmung der Kategorien= und Erweiterung des Erkenntnisses zum
Übersinnlichen hinausgehe, sondern nur hiedurch gemeint sei, daß ihnen
in dieser Beziehung überall =ein Object= zukomme, weil sie entweder
in der nothwendigen Willensbestimmung _a priori_ enthalten, oder mit
dem Gegenstande derselben |5.35| unzertrennlich verbunden sind, so
verschwindet jene Inconsequenz, weil man #9# einen anderen Gebrauch
von jenen Begriffen macht, als speculative Vernunft bedarf. Dagegen
eröffnet sich nun eine vorher kaum zu erwartende und sehr befriedigende
Bestätigung der =consequenten Denkungsart= der speculativen Kritik
darin, daß, da diese die Gegenstände der Erfahrung als solche und
darunter selbst unser eigenes Subject nur für =Erscheinungen= gelten zu
lassen, ihnen aber gleichwohl Dinge an sich selbst zum |6.5| Grunde zu
legen, also nicht alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen Begriff
für leer an Inhalt zu halten einschärfte: praktische Vernunft jetzt für
sich selbst, und ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu
haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität,
nämlich der =Freiheit=, Realität verschafft (obgleich als praktischem
Begriffe |6.10| auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige,
was dort bloß =gedacht= werden konnte, durch ein Factum bestätigt.
Hiebei erhält nun zugleich die befremdliche, obzwar unstreitige,
Behauptung der speculativen Kritik, daß sogar =das denkende Subject ihm
selbst= IN DER INNEREN ANSCHAUUNG =bloß Erscheinung sei=, in der Kritik
der praktischen Vernunft |6.15| auch ihre volle Bestätigung, so gut,
daß man auf sie kommen muß, #10# wenn die erstere diesen Satz auch gar
nicht bewiesen hätte[2].
[2] Die Vereinigung der Causalität als Freiheit mit ihr als
Naturmechanism, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite
durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjecte, dem
Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung
auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber
als |6.35| Erscheinung, jenes im =reinen=, dieses im =empirischen=
Bewußtsein vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der
Vernunft mit sich selbst unvermeidlich.
Hiedurch verstehe ich auch, warum die erheblichsten Einwürfe wider die
Kritik, die mir bisher noch vorgekommen sind, sich gerade um diese
zwei Angel drehen: nämlich =einerseits= im theoretischen Erkenntniß
geleugnete |6.20| und im praktischen behauptete objective Realität
der auf Noumenen angewandten Kategorien, =andererseits= die paradoxe
Forderung, sich als Subject der Freiheit zum Noumen, zugleich aber auch
in Absicht auf die Natur zum Phänomen in seinem eigenen empirischen
Bewußtsein zu machen. Denn so lange man sich noch keine bestimmte
Begriffe von |6.25| Sittlichkeit und Freiheit machte, konnte man nicht
errathen, was man #11# einerseits der vorgeblichen Erscheinung als
Noumen zum Grunde legen wolle, und andererseits, ob es überall auch
möglich sei, sich noch von ihm einen Begriff zu machen, wenn man vorher
alle Begriffe des reinen Verstandes im theoretischen Gebrauche schon
ausschließungsweise den bloßen |6.30| Erscheinungen gewidmet hätte.
Nur eine ausführliche Kritik der praktischen Vernunft kann alle diese
Mißdeutung heben und die consequente Denkungsart, welche eben ihren
größten Vorzug ausmacht, in ein helles Licht setzen.
So viel zur Rechtfertigung, warum in diesem Werke die Begriffe
und Grundsätze der reinen speculativen Vernunft, welche doch ihre
besondere |7.5| Kritik schon erlitten haben, hier hin und wieder
nochmals der Prüfung unterworfen werden, welches dem systematischen
Gange einer zu errichtenden Wissenschaft sonst nicht wohl geziemt
(da abgeurtheilte Sachen billig nur angeführt und nicht wiederum in
Anregung gebracht werden müssen), doch =hier= erlaubt, ja nöthig war:
weil die Vernunft mit jenen Begriffen |7.10| im Übergange zu einem
ganz anderen Gebrauche betrachtet wird, als den sie =dort= von ihnen
machte. Ein solcher Übergang macht aber eine Vergleichung #12# des
älteren mit dem neuern Gebrauche nothwendig, um das neue Gleis von dem
vorigen wohl zu unterscheiden und zugleich den Zusammenhang derselben
bemerken zu lassen. Man wird also Betrachtungen |7.15| dieser Art,
unter andern diejenige, welche nochmals auf den Begriff der Freiheit,
aber im praktischen Gebrauche der reinen Vernunft, gerichtet worden,
nicht wie Einschiebsel betrachten, die etwa nur dazu dienen sollen, um
Lücken des kritischen Systems der speculativen Vernunft auszufüllen
(denn dieses ist in seiner Absicht vollständig) und, wie es bei einem
übereilten |7.20| Baue herzugehen pflegt, hintennach noch Stützen
und Strebepfeiler anzubringen, sondern als wahre Glieder, die den
Zusammenhang des Systems bemerklich machen, um Begriffe, die dort
nur problematisch vorgestellt werden konnten, jetzt in ihrer realen
Darstellung einsehen zu lassen. Diese Erinnerung geht vornehmlich den
Begriff der Freiheit an, von dem |7.25| man mit Befremdung bemerken
muß, daß noch so viele ihn ganz wohl einzusehen und die Möglichkeit
derselben erklären zu können sich rühmen, indem sie ihn bloß in
psychologischer Beziehung betrachten, indessen daß, wenn sie ihn vorher
in transscendentaler genau erwogen hätten, sie sowohl #13# seine
=Unentbehrlichkeit= als problematischen Begriffs in vollständigem
|7.30| Gebrauche der speculativen Vernunft, als auch die völlige
=Unbegreiflichkeit= desselben hätten erkennen und, wenn sie nachher
mit ihm zum praktischen Gebrauche gingen, gerade auf die nämliche
Bestimmung des letzteren in Ansehung seiner Grundsätze von selbst
hätten kommen müssen, zu welcher sie sich sonst so ungern verstehen
wollen. Der Begriff der Freiheit ist |7.35| der Stein des Anstoßes
für alle =Empiristen=, aber auch der Schlüssel zu den erhabensten
praktischen Grundsätzen für =kritische= Moralisten, die dadurch
einsehen, daß sie nothwendig =rational= verfahren müssen. Um deswillen
ersuche ich den Leser, das, was zum Schlusse der Analytik über diesen
Begriff gesagt wird, nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen.
Ob ein solches System, als hier von der reinen praktischen Vernunft aus
der Kritik der letzeren entwickelt wird, viel oder wenig Mühe gemacht
|8.5| habe, um vornehmlich den rechten Gesichtspunkt, aus dem das Ganze
derselben richtig vorgezeichnet werden kann, nicht zu verfehlen, muß
ich den Kennern einer dergleichen Arbeit zu beurtheilen überlassen. Es
setzt zwar #14# die =Grundlegung zur Metaphysik der Sitten= voraus,
aber nur in so fern, als diese mit dem Princip der Pflicht vorläufige
Bekanntschaft |8.10| macht und eine bestimmte Formel derselben angiebt
und rechtfertigt[3]; sonst besteht es durch sich selbst. Daß die
=Eintheilung= aller praktischen Wissenschaften zur =Vollständigkeit=
nicht mit beigefügt worden, wie es die Kritik der speculativen Vernunft
leistete, dazu ist auch gültiger Grund in der Beschaffenheit dieses
praktischen Vernunftvermögens anzutreffen. Denn |8.15| die besondere
Bestimmung der Pflichten als Menschenpflichten, um sie einzutheilen,
ist nur möglich, wenn vorher das Subject dieser Bestimmung #15# (der
Mensch) nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist, obzwar nur
so viel als in Beziehung auf Pflicht überhaupt nöthig ist, erkannt
worden; diese aber gehört nicht in eine Kritik der praktischen Vernunft
überhaupt, |8.20| die nur die Principien ihrer Möglichkeit, ihres
Umfanges und Grenzen vollständig ohne besondere Beziehung auf die
menschliche Natur angeben soll. Die Eintheilung gehört also hier zum
System der Wissenschaft, nicht zum System der Kritik.
[3] Ein Recensent, der etwas zum Tadel dieser Schrift sagen
wollte, hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben
mag, indem er sagt: daß darin kein neues Princip der Moralität,
sondern nur eine =neue Formel= aufgestellt |8.30| worden. Wer
wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit
einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob
vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in
durchgängigem Irrthume gewesen wäre. Wer aber weiß, was dem
Mathematiker eine =Formel= bedeutet, die das, was zu thun sei,
um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht
verfehlen läßt, wird |8.35| eine Formel, welche dieses in Ansehung
aller Pflicht überhaupt thut, nicht für etwas Unbedeutendes und
Entbehrliches halten.
Ich habe einem gewissen wahrheitliebenden und scharfen, dabei also
|8.25| doch immer achtungswürdigen Recensenten jener =Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten= auf seinen Einwurf, =daß der Begriff des Guten
dort nicht= (wie es seiner Meinung nach nöthig gewesen wäre) =vor dem
moralischen Princip festgesetzt worden=[4], in dem zweiten Hauptstücke
der Analytik, wie ich hoffe, Genüge gethan; eben so auch auf #16#
manche andere Einwürfe Rücksicht genommen, die mir von Männern zu #17#
Händen gekommen sind, die den Willen blicken lassen, daß die Wahrheit
|9.5| auszumitteln ihnen am Herzen liegt (denn die, so nur ihr altes
System #18# vor Augen haben, und bei denen schon vorher beschlossen
ist, was gebilligt oder mißbilligt werden soll, verlangen doch keine
Erörterung, die ihrer Privatabsicht im Wege sein könnte); und so werde
ich es auch fernerhin halten.
[4] Man könnte mir noch den Einwurf machen, warum ich nicht auch
den Begriff des =Begehrungsvermögens=, oder des =Gefühls der
Lust= vorher erklärt |9.10| habe; obgleich dieser Vorwurf unbillig
sein würde, weil man diese Erklärung, als in der Psychologie
gegeben, billig sollte voraussetzen können. Es könnte aber
freilich die Definition daselbst so eingerichtet sein, daß das
Gefühl der Lust der Bestimmung des Begehrungsvermögens zum Grunde
gelegt würde (wie es auch wirklich gemeinhin so zu geschehen
pflegt), dadurch aber das oberste Princip der |9.15| praktischen
Philosophie nothwendig =empirisch= ausfallen müßte, welches
doch allererst auszumachen ist und in dieser Kritik gänzlich
widerlegt wird. Daher will ich diese Erklärung hier so geben,
wie sie sein muß, um diesen streitigen Punkt wie billig im
Anfange unentschieden zu lassen. -- LEBEN ist das Vermögen eines
Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das
BEGEHRUNGSVERMÖGEN |9.20| ist =das Vermögen= desselben, =durch
seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände
dieser Vorstellungen zu sein=. LUST ist die =Vorstellung der
Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den=
SUBJECTIVEN =Bedingungen des Lebens=, d. i. mit dem Vermögen
der =Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit
|9.25| ihres Objects= (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects
zur Handlung es hervorzubringen). Mehr brauche ich nicht zum
Behuf der Kritik von Begriffen, die aus der Psychologie entlehnt
werden, das übrige leistet die Kritik selbst. Man wird leicht
gewahr, daß die Frage, ob die Lust dem Begehrungsvermögen
jederzeit zum Grunde gelegt werden müsse, oder ob sie auch unter
gewissen |9.30| Bedingungen nur auf die Bestimmung desselben
folge, durch diese Erklärung unentschieden bleibt; denn sie ist
aus lauter Merkmalen des reinen Verstandes, d. i. Kategorien,
zusammengesetzt, die nichts Empirisches enthalten. Eine solche
Behutsamkeit ist in der ganzen Philosophie sehr empfehlungswürdig
und wird dennoch oft verabsäumt, nämlich seinen Urtheilen vor der
vollständigen Zergliederung des |9.35| Begriffs, die oft nur sehr
spät erreicht wird, durch gewagte Definition nicht vorzugreifen.
Man wird auch durch den ganzen Lauf der Kritik (der theoretischen
sowohl als praktischen Vernunft) bemerken, daß sich in demselben
mannigfaltige Veranlassung vorfinde, manche Mängel im alten
dogmatischen Gange der Philosophie zu ergänzen und Fehler
abzuändern, die nicht eher bemerkt werden, als wenn man von |9.40|
Begriffen einen Gebrauch der Vernunft macht, =der aufs Ganze
derselben geht=.
Wenn es um die Bestimmung eines besonderen Vermögens der menschlichen
Seele nach seinen Quellen, Inhalte und Grenzen zu thun ist, so kann man
zwar nach der Natur des menschlichen Erkenntnisses nicht |10.5| anders
als von den =Theilen= derselben, ihrer genauen und (so viel als nach
der jetzigen Lage unserer schon erworbenen Elemente derselben möglich
ist) vollständigen Darstellung anfangen. Aber es ist noch eine zweite
Aufmerksamkeit, die mehr philosophisch und =architektonisch= ist:
nämlich die =Idee des Ganzen= richtig zu fassen und aus derselben alle
jene Theile |10.10| in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander
vermittelst der Ableitung derselben von dem Begriffe jenes Ganzen in
einem reinen Vernunftvermögen ins Auge zu fassen. Diese Prüfung und
Gewährleistung ist nur #19# durch die innigste Bekanntschaft mit dem
System möglich, und die, welche in Ansehung der ersteren Nachforschung
verdrossen gewesen, also diese Bekanntschaft |10.15| zu erwerben
nicht der Mühe werth geachtet haben, gelangen nicht zur zweiten
Stufe, nämlich der Übersicht, welche eine synthetische Wiederkehr zu
demjenigen ist, was vorher analytisch gegeben worden, und es ist kein
Wunder, wenn sie allerwärts Inconsequenzen finden, obgleich die Lücken,
die diese vermuthen lassen, nicht im System selbst, |10.20| sondern
blos in ihrem eigenen unzusammenhängenden Gedankengange anzutreffen
sind.
Ich besorge in Ansehung dieser Abhandlung nichts von dem Vorwurfe,
eine =neue= Sprache einführen zu wollen, weil die Erkenntnißart sich
hier von selbst der Popularität nähert. Dieser Vorwurf konnte auch
niemanden |10.25| in Ansehung der ersteren Kritik beifallen, der sie
nicht blos durchgeblättert, sondern durchgedacht hatte. Neue Worte zu
künsteln, wo die Sprache schon so an Ausdrücken für gegebene Begriffe
keinen Mangel #20# hat, ist eine kindische Bemühung, sich unter der
Menge, wenn nicht durch neue und wahre Gedanken, doch durch einen
neuen Lappen auf dem alten |10.30| Kleide auszuzeichnen. Wenn daher die
Leser jener Schrift populärere Ausdrücke wissen, die doch dem Gedanken
eben so angemessen sind, als mir jene zu sein scheinen, oder etwa die
Nichtigkeit dieser Gedanken selbst, mithin zugleich jedes Ausdrucks,
der ihn bezeichnet, darzuthun sich getrauen: so würden sie mich durch
das erstere sehr verbinden, denn ich will |10.35| nur verstanden sein,
in Ansehung des zweiten aber sich ein Verdienst um die Philosophie
erwerben. So lange aber jene Gedanken noch stehen, zweifele ich sehr,
daß ihnen angemessene und doch gangbarere Ausdrücke dazu aufgefunden
werden dürften.[5]
[5] Mehr (als jene Unverständlichkeit) besorge ich hier hin
und wieder Mißdeutung in Ansehung einiger Ausdrücke, die ich
mit größter Sorgfalt aussuchte, um den Begriff nicht verfehlen
zu lassen, darauf sie weisen. So hat in der Tafel |11.5| der
Kategorien der =praktischen= Vernunft in dem Titel der Modalität
das =Erlaubte= und =Unerlaubte= (praktisch-objectiv Mögliche
und Unmögliche) mit der nächstfolgenden Kategorie der =Pflicht=
und des =Pflichtwidrigen= im gemeinen Sprachgebrauche beinahe
einerlei Sinn; hier aber soll das =erstere= dasjenige bedeuten,
was mit einer blos =möglichen= praktischen Vorschrift in
Einstimmung oder |11.10| Widerstreit ist (wie etwa die Auflösung
aller Probleme der Geometrie und Mechanik), das =zweite=, was in
solcher Beziehung auf ein in der Vernunft überhaupt =wirklich=
liegendes Gesetz steht; und dieser Unterschied der Bedeutung
ist auch dem gemeinen Sprachgebrauche nicht ganz fremd, wenn
gleich etwas ungewöhnlich. So ist es z. B. einem Redner als
solchem =unerlaubt=, neue Worte |11.15| oder Wortfügungen zu
schmieden; dem Dichter ist es in gewissem Maße =erlaubt=; in
keinem von beiden wird hier an Pflicht gedacht. Denn wer sich
um den Ruf eines Redners bringen will, dem kann es niemand
wehren. Es ist hier nur um den Unterschied der =Imperativen=
unter =problematischem=, =assertorischem= und =apodiktischem=
Bestimmungsgrunde zu thun. Eben so habe ich in derjenigen |11.20|
Note, wo ich die moralischen Ideen praktischer Vollkommenheit in
verschiedenen philosophischen Schulen gegen einander stellte,
die Idee der =Weisheit= von der der =Heiligkeit= unterschieden,
ob ich sie gleich selbst im Grunde und objectiv für einerlei
erklärt habe. Allein ich verstehe an diesem Orte darunter
nur diejenige Weisheit, die sich der Mensch (der Stoiker)
anmaßt, also =subjectiv= als Eigenschaft |11.25| dem Menschen
angedichtet. (Vielleicht könnte der Ausdruck =Tugend=, womit der
Stoiker auch großen Staat trieb, besser das Charakteristische
seiner Schule bezeichnen.) Aber der Ausdruck eines =Postulats=
der reinen praktischen Vernunft konnte noch am meisten
Mißdeutung veranlassen, wenn man damit die Bedeutung vermengte,
welche die Postulate der reinen Mathematik haben, und welche
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