In St. Jürgen: Novelle - 3

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"Harre", sagte sie, "kommst du noch einmal!" Und dabei flog ein
glückliches Lächeln über ihr Gesicht.
"Ich dachte nicht, dich hier zu finden", erwiderte ich, "nun muß ich fort;
weshalb hast mich gestern so vergebens warten lassen?"
Da war alles Glück aus ihrem Antlitz verschwunden. "Ich konnte nicht,
Harre; mein Vater wollte mich nicht von sich lassen. Später bin ich in
den Garten hinabgelaufen; aber du warst schon fort, du kamst nicht; da bin
ich heute früh auf den Turm gestiegen--ich dachte, ich könnte dich doch
zum Tor hinauswandern sehen."
Die Zukunft lag verworren vor mir, aber doch hatte ich einen Plan gefaßt.
Schon früher war ich in einer Klavierfabrik beschäftigt gewesen; nun
wollte ich wieder diese Arbeit suchen, um dann mit Hülfe des zu
erwartenden Verdienstes vielleicht später selbst ein solches Geschäft zu
begründen; denn diese Instrumente begannen schon damals eine große
Verbreitung zu finden.--Das alles sagte ich jetzt dem Mädchen, und auch,
wohin ich mich zunächst zu wenden beabsichtigte.
Sie hatte sich auf das Geländer gelehnt und wie abwesend in den leeren
Himmelsraum hinausgeblickt. Jetzt wandte sie langsam den Kopf zurück.
"Harre", sagte sie leise, "geh nicht fort, Harre!"
Als ich sie aber ohne Antwort anblickte, rief sie wieder: "Nein, hör nicht
auf mich; ich bin ein Kind, ich weiß nicht, was ich rede." Der Morgenwind
hatte ein paar der blonden Haare gelöst und wehte sie über ihr blasses
Gesicht, das jetzt geduldig zu mir aufblickte.
"Wir müssen warten, Agnes", sagte ich, "das Glück liegt nun in weiter
Ferne; ich will versuchen, ob ich es wieder heimbringen kann. Schreiben
werd ich nicht; ich komme selber, wenn es Zeit ist."
Sie sah mich eine Weile mit großen Augen an; dann drückte sie mir die Hand.
"Ich warte", sagte sie mit fester Stimme; "geh denn mit Gott, Harre!"
Ich ging noch nicht. Der Turm, der uns beide trug, ragte so einsam in den
blauen Ätherraum; nur die Schwalben, auf deren stahlblauen Schwingen der
Sonnenschein wie Funken blitzte, schwebten um uns her und badeten in dem
Meer von Luft und Licht.--Ich hielt noch immer ihre Hand; mir war, als
könne ich nicht fort von hier, als wären wir beide, sie und ich, schon
jetzt hinausgehoben über alle Not der Welt.--Aber die Zeit drängte; unter
uns schlug dröhnend die Viertelglocke. Da, als noch die Schallwellen den
Turm umfluteten, kam eine Schwalbe geflogen, daß sie uns fast mit ihren
Flügeln streifte; furchtlos, nur auf Armeslänge von uns, setzte sie sich
auf den Rand des Geländers, und während wir wie gebannt in das kleine
glänzende Auge blickten, schmetterte sie plötzlich mit geschwellter Kehle
ihre Frühlingslaute in die Luft. Agnes warf sich an meine Brust. "Vergiß
das Wiederkommen nicht!" rief sie. Da breitete der Vogel seine Schwingen
aus und flog davon.--Wie ich durch den dunkeln Turm zur Erde gekommen bin,
das weiß ich nicht. Als ich draußen vor dem Stadttor auf der Landstraße
war, blieb ich stehen und blickte zurück. Da erkannte ich noch deutlich
auf dem von Sonnenglanze umflossenen Turm ihre liebe Gestalt; mir schien,
als lehne sie sich weit über den Rand des Geländers hinaus, so daß ich
unwillkürlich einen Schreckensruf ausstieß. Aber die Gestalt blieb
unbeweglich.
Und endlich wandte ich mich und ging, ohne noch einmal wieder umzusehen,
mit raschen Schritten auf der Landstraße fort."
Der Alte schwieg eine Weile. Dann sagte er: "Sie hat vergebens auf mich
gewartet; ich bin niemals wieder heimgekommen.--Ich will Ihnen nun
erzählen, wie das geschehen konnte.
Meine erste Arbeit fand ich in Wien, wo damals die besten Klavierfabriken
waren; von da kam ich nach anderthalb Jahren ins Württembergische, nach
meinem jetzigen Wohnort. Ein Nebengeselle von mir hatte dort einen Bruder,
von dem er um die Besorgung eines zuverlässigen Gehülfen gebeten war.--Es
war ein noch junges Ehepaar, zu dem ich ins Haus kam. Das Geschäft war
klein, aber der Inhaber ein freundlicher und geschickter Mann, bei dem ich
bald mehr in diesen Dingen lernte als in der großen Fabrik, wo ich immer
nur zu einzelnen Arbeiten gelassen wurde. Da ich mich der Sache nach
Kräften annahm und doch auch aus meinen Wiener Erfahrungen manches
hinzubrachte, so gewann ich bald das Vertrauen dieser guten Leute.
Besondere Freude machte es ihnen, daß ich in meinen Freistunden den
ältesten ihrer beiden Knaben in der deutschen Sprache unterrichtete; denn
ihnen gefiel meine damals noch norddeutsche Aussprache, und sie wünschten,
daß die Kinder auch einmal, wie sie meinten, so reines Deutsch sprechen
möchten. Bald wurde auch der jüngere Bruder in den Unterricht
hineingezogen, und nun blieb es nicht bei der trockenen Grammatik; ich
wußte mir Bücher zu verschaffen, aus denen ich ihnen allerlei
Unterhaltendes und Wissenswertes vorzulegen pflegte. So kam es, daß auch
die Kinder mit großer Liebe an mir hingen. Als ich nach Jahresfrist zum
ersten Mal ohne Beihülfe ein Klavier von besonders schönem Klang zustande
gebracht hatte, gab es eine Freude im ganzen Hause, als habe der liebste
Angehörige sein Meisterstück gemacht.--Ich aber dachte nun an die Heimkehr.
Da erkrankte mein junger Meister. Aus einer Erkältung entwickelte sich
endlich ein ernstliches Brustübel, dessen Keim schon lange in ihm gelegen
haben mochte. Die Leitung der Geschäfte kam wie selbstverständlich fast
ganz in meine Hände. Ich konnte jetzt nicht fort. Dabei sah ich tiefer
in die Verhältnisse der Familie, mit der mich eine immer innigere
Freundschaft verband. Eintracht und Fleiß wohnten unter ihrem Dache.
Aber es war dennoch ein böses Ding, der dritte Hausgenosse, das diese
guten Geister nicht zu vertreiben vermocht hatten. In jedem Winkel, wohin
nicht gerade die Sonne schien, sah der kranke Mann es sitzen.--Dieses Ding
war die Sorge.--"Nimm den Kehrbesen und feg es weg", sagte ich oft zu
meinem Freunde, "ich will dir helfen, Martin!" Dann drückte er mir wohl
die Hand, und eine wehmütige Heiterkeit flog für einen Augenblick über
sein blasses Gesicht, bald aber sah er wieder die schwarzen Spinngewebe
auf allen Dingen.
Leider waren es keine bloßen Hirngespinste. Das Kapital, womit er sein
Geschäft begonnen, war von vornherein zu gering gewesen. In den ersten
Jahren hatte er durch schlechte Arbeiter Verluste erlitten, die nicht in
Rechnung genommen waren, und auch der Absatz der fertigen Ware wollte
nicht so rasch erfolgen, wie es solche Umstände erforderten; nun kam ein
aussichtsloser Krankheitszustand noch dazu. Auf mir lag endlich nicht nur
die ganze Sorge für den Unterhalt der Familie, ich mußte auch noch der
Tröster der Gesunden sein. Die Knaben ließen meine Hand nicht los, wenn
wir am Bette des Vaters saßen, das er bald nicht mehr verlassen konnte.
Bei diesem aber schien das Erlöschen der Körperkraft die Unruhe des
Geistes nur zu steigern; grübelnd lag er auf seinem Kissen und baute Pläne
für die Zukunft. Mitunter, wenn die Schauer des nahenden Todes ihn
anwehten, richtete er sich plötzlich auf und rief: "Ich kann nicht sterben,
ich will nicht sterben!" und dann wieder leise mit gefalteten Händen:
"Mein Gott, mein Gott, ich will auch, wenn du willst!"
Und endlich kam die Stunde der Erlösung. Wir waren alle an seinem Bette;
er dankte mir, er nahm von uns allen Abschied. Dann aber, als sähe er vor
sich etwas, vor dem er sie beschützen müsse, riß er seine Frau und die
beiden Knaben hastig an sich, blickte sie mit trostlosen Augen an und
stöhnte laut. Und als ich ihm zuredete: "Wirf deine Sorgen auf den Herrn,
Martin!", da rief er verzweifelnd: "Harre, Harre, das sind nicht mehr die
Sorgen, das ist die Armut selbst! Bald wird sie über meine Leiche
wegkriechen; mein Weib, o meine lieben Kinder, sie werden ihr nicht
entrinnen!"
Es ist ein eigen Ding um ein Sterbebett; ich weiß nicht, ob Sie es kennen,
mein junger Freund. Aber in diesem Augenblick versprach ich meinem
sterbenden Meister, bei den Seinen auszuhalten, bis das Gespenst, das
seine letzte Stunde störte, sie nicht mehr würde erreichen können. Und
als ich das versprochen, ließ auch der Tod nicht mehr auf sich warten.
Leise schritt er zur Tür herein. Martin streckte die Hand aus; ich meinte,
er wolle sie mir noch reichen, aber es war der unsichtbare Bote des Herrn,
der sie ergriff; denn ehe ich sie berührte, hatte das Leben meines jungen
Meisters aufgehört."
Mein Reisegefährte nahm seinen Hut ab und legte ihn vor sich auf den Schoß;
sein weißes Haar wehte in der lauen Mittagsluft. So saß er schweigend,
als weihe er diese Augenblicke dem Andenken des längst verstorbenen
Freundes.--Ich aber mußte der Worte gedenken, die meine alte Hansen einst
zu mir gesprochen: "Es gibt noch andere Dinge als den Tod, die des
Menschen Willen zwingen." Es war dennoch der Tod gewesen, der die Lebenden
getrennt hatte. Denn es versteht sich, daß ich über die Person dessen,
der an meiner Seite saß, nicht mehr in Zweifel sein konnte. Nach einiger
Zeit begann der Alte seine Erzählung wieder, indem er langsam sein Haupt
bedeckte.
"Ich habe mein gegebenes Wort gehalten", sagte er, "aber da ich es gab,
brach ich ein anderes; denn ich habe nun nicht wieder fort gekonnt. Es
zeigte sich bald, daß die Verhältnisse noch zerrütteter waren, als ich
bisher gewußt. Einige Monate nach dem Tode des Mannes wurde noch ein
drittes Kind, ein Mädchen, geboren; unter diesen Umständen eine neue Sorge
zu den alten. Ich tat das Meinige; aber Jahr auf Jahr verging, und das
Glück wollte immer noch nicht einkehren. Unerachtet ich nicht nur meine
ganze Kraft, sondern auch die Ersparnisse der letzten Jahre hingab, gelang
es mir noch immer nicht, den Kampf mit jenem Gespenste der Armut siegreich
zu beendigen; ich sah es klar, wenn eine auch nur etwas weniger treue und
sorgsame Hand an meine Stelle trat, so waren meine Schutzbefohlenen ihm
verfallen.
Oft freilich mitten in der Arbeit überfiel mich das Heimweh und nagte und
zehrte an mir; mehr als einmal, wenn der Meißel, ohne daß ich darum gewahr
wurde, müßig in meiner Hand lag, bin ich erschreckt vor der Stimme der
guten Frau zusammengefahren; denn meine Gedanken waren fort in die Heimat,
und eine ganze andere Stimme war in meinen Ohren. In meinen Träumen sah
ich den Turm unserer Vaterstadt; anfänglich im hellen Sonnenschein,
umkreist von einem Heer von Schwalben; später, wenn der Traum mir
wiederkam, sah ich ihn schwarz und drohend in den leeren Himmel ragen, der
Herbststurm tobte, und ich hörte die großen Glocken anschlagen; aber immer,
auch dann, lehnte Agnes oben auf dem Geländer der Plattform; sie trug
noch das blaue Kleid, worin sie dort von mir Abschied genommen hatte; nur
war es ganz zerrissen, die leichten Fetzen flatterten in der Luft. "Wann
kommen die Schwalben wieder?" hörte ich es rufen. Ich erkannte ihre
Stimme, aber sie klang trostlos in dem Wehen des Sturmes.--Wenn ich nach
solchen Träumen erwachte, so hörte ich wohl im Zwielicht die Schwalben auf
der Dachrinne über meinem Fenster zwitschern. In den ersten Jahren hatte
ich den Kopf aufgestützt und mir das Herz vollsingen lassen von Sehnsucht
und Heimweh; später konnt ich's nimmer ertragen. Mehr als einmal, wenn
das Gezwitscher kein Ende nehmen wollte, habe ich das Fenster aufgerissen
und die lieben Vögel fortgejagt.
An einem solchen Morgen erklärte ich einmal, daß ich nun fort müsse, daß
es jetzt endlich Zeit sei, auch an mein eignes Leben zu denken. Aber die
beiden Knaben brachen in laute Wehklagen aus, und die Mutter setzte, ohne
ein Wort zu sagen, ihr Töchterchen auf meinen Schoß, das sogleich die
kleinen Arme fest um meinen Hals schlang.--Mein Herz hing an den Kindern,
lieber Herr; ich konnte die Kinder nicht verlassen. Ich dachte. "Bleib
denn noch ein Jahr." Der Abgrund zwischen mir und meiner Jugend wurde
immer tiefer; zuletzt lag alles wie unerreichbar hinter mir, wie Träume,
an die ich nicht mehr denken dürfe.--Ich war schon über die Vierzig hinaus,
da schloß ich auf den Wunsch der schon herangewachsenen Kinder das
Ehebündnis mit der Frau, deren einzige Stütze ich so lange gewesen war.
Und nun geschah mir etwas Seltsames. Ich war der Frau, wie sie es auch
gar wohl verdiente, stets von Herzen gut gewesen; nun aber, seit sie mir
unauflöslich angehörte, begann in mir ein Widerwille, ja fast ein Haß
gegen sie zu wachsen, den ich oft nur mit Mühe zu verbergen wußte. So
sind wir Menschen; ich warf in meinem Herzen auf sie die Schuld von allem,
was doch nur die Folge meiner eignen Schwäche war. Da führte Gott zu
meinem Heil mich in Versuchung.
Es war eines Sonntags in der Hochsommerzeit. Wir machten eine Landpartie
nach dem benachbarten Gebirgsdorfe, wo ein Verwandter der Familie wohnte.
Die beiden Söhne mit ihrem Schwesterchen waren uns beiden Alten weit
voraus; ihr Plaudern und Lachen war in dem Walde, durch den der Weg führte,
schon ganz verschollen. Da machte meine Frau mir den Vorschlag, einen
ihr bekannten Richtsteig entlang eines Steinbruches einzuschlagen, um so
wo möglich den Jungen auf dem Hauptwege noch zuvorzukommen. "Ich bin als
Braut mit Martin hier gegangen", sagte sie, als wir seitwärts in die
Tannen bogen; "etwas weiterhin pflückten wir damals eine dunkelblaue Blume;
ich möchte wissen, ob sie noch dort zu finden ist."
Nach kurzer Zeit hörte an unserer einen Seite der Wald auf, und der Fußweg
lief nun dicht an dem Rande des abschüssigen Gesteins hin, während von der
andern Seite sich Brombeerranken und anderes Gebüsch dicht herandrängte.
--Meine Frau schritt rüstig vor mir auf. Ich folgte langsam und war bald
in meine alten Träumereien versunken. Wie die verlorne Seligkeit lag die
Heimat vor meinen Sinnen, und grübelnd, aber vergebens suchte ich nach
einem Weg dahin. Nur wie durch einen Schleier sah ich, daß es nach dem
Bruche zu ganz blau von Genzianen wurde und daß meine Frau sich ein Mal um
das andere nach diesen Blumen bückte. Was kümmerte mich das alles!--Da
hör ich plötzlich einen Schrei und sehe, wie sie mit den Händen in die
Luft greift; ich sehe auch schon, wie unter ihren Füßen das Geröll sich
löst und zwischen den Klippen fortpoltert, und zehn Schritt weiter abwärts
steht der Fels lotrecht über dem Abgrund.
Ich stand wie gelähmt. Es brauste mir in den Ohren: "Bleib; laß sie
stürzen; du bist frei!" Aber Gott half mir. Nur einen Sekundenschlag, da
war ich bei ihr; und mich über den Rand des Felsens werfend, ergriff ich
ihre Hand und hatte sie glücklich zu mir heraufgezogen. "Harre, mein
guter Harre", rief sie weinend, "schon wieder hat deine Hand mich vom
Abgrund gerettet!"
Wie glühende Tropfen fielen diese Worte in meine Seele. In all den Jahren
war kein Wort der Vergangenheit über meine Lippen gekommen; zuerst aus
jugendlicher Scheu, das Heiligste hinauszugeben, später wohl in dem
unbewußten Bedürfnis, den innern Zwiespalt zu verhehlen. Jetzt plötzlich
drängte es mich, alles ohne Rücksicht zu offenbaren. Und am Rande des
Abgrundes sitzend, schüttete ich mein Herz aus vor der Frau, die ich kurz
zuvor darin begraben gewünscht hatte. Auch das verschwieg ich ihr nicht.
Sie brach in heftige Tränen aus; sie weinte über mich, über sich selbst,
am lautesten klagte sie über Agnes. "Harre, Harre", rief sie, aber sie
legte ihren Kopf an meine Brust; "das habe ich nicht gewußt, aber es ist
nun zu spät, und niemand kann diese Sünde von uns nehmen!"
Es war nun an mir, sie zu beruhigen; und erst mehrere Stunden später
trafen wir in dem Dorfe ein, wo unsere Kinder uns schon längst erwartet
hatten. Aber seit jener Zeit war meine Frau mit ihrem milden und
gerechten Herzen meine beste Freundin und kein Geheimnis mehr zwischen uns.
--So gingen die Jahre hin. Allmählich schien sie es vergessen zu haben,
daß ich ihre und der Kinder Wohlfahrt mit einem fremden Glück bezahlt
hatte, und auch in mir wurde es stiller. Nur wenn im Frühling die
Schwalben wiederkamen, oder auch später im Jahr, wenn sie in der Dämmerung
noch so allein von allen Vögeln ins Abendrot hineinsangen, dann überfiel's
mich mit der alten Pein, und ich hörte noch immer die liebe junge Stimme,
noch immer klang es mir in den Ohren: "Vergiß das Wiederkommen nicht!"
So war's auch heuer eines Abends. Ich saß vor unserer Haustür auf der
Bank und blickte in den vergehenden Tagesschein, der durch eine Lücke der
Straße über den jenseitigen Rebhügeln sichtbar war. Ein Töchterchen
unseres jüngsten Sohnes war mir auf den Schoß geklettert und hatte es sich
spielmüde in Großvaters Arm bequem gemacht. Bald fielen die kleinen Augen
zu, und auch das Abendrot verschwand, aber drüben auf des Nachbars Dach
saß noch im Dunkeln eine Schwalbe und zwitscherte leise wie von
vergangener Zeit.
Da trat meine Frau aus dem Hause. Sie stand eine Weile schweigend neben
mir, und als ich nicht aufblickte, fragte sie mich sanft: "Alter, was ist
dir?", und da ich nicht antwortete und nur der Vogelgesang aus der
Dämmerung herübertönte: "Ist's denn wieder einmal die Schwalbe?"
"Du weißt's ja, Mutter", sagte ich, "du hast ja allezeit mit mir Geduld
gehabt."
Aber ich kannte sie noch nicht ganz; sie hatte mehr als das für mich getan.
Sie legte beide Hände auf meine Schultern. "Was meinst?" rief sie,
indem sie mich mit ihren alten guten Augen anblickte. "Wir können's jetzt
ja leisten, du mußt die Agnes wiedersehen, du hättest ja sonst keine Ruh
im Grab bei mir!"
Ich war fast erschreckt durch diesen Vorschlag und wollte Einwendungen
machen, sie aber sagte: "Stell's Gott anheim!"--Das hab ich denn getan; und
so ist es gekommen, daß ich noch einmal heimkehre; aber wenn wir durchs
Tor fahren, der alte Jakob wird wohl nicht mehr blasen."
Mein Reisegefährte schwieg. Ich aber hielt nun nicht länger zurück, denn
ich war im Innersten bewegt. "Ich kenne Sie", sagte ich, "ich kenne Sie
sehr wohl, Harre Jensen; auch Agnes kenne ich; sie hat viele Jahre im
Hause meiner Großmutter gelebt, sie ist mir selbst wie meiner Mutter
Mutter. Aus ihrem eignen Munde habe ich alles erfahren, auch das, was Sie
verschwiegen haben." Der Alte faltete die Hände. "Großer, gnädiger Gott!"
sagte er, "so lebt sie noch und kann mir noch vergeben!"
Mir ahnte wenig, daß ich eine Hoffnung angeregt hatte, deren Erfüllung
schon im Reiche der Schatten lag. Ich erwiderte nur: "Sie kannte ihren
Jugendfreund; sie hat ihn niemals angeklagt."--Und nun erzählte ich. Er
hörte in atemlosem Schweigen und nahm begierig jedes Wort von meinen
Lippen.
Da klatschte der Postillion mit seiner Peitsche. Der stumpfe Turm unserer
Vaterstadt war am Horizonte aufgetaucht. Als ich mit dem Finger dahin
wies, faßte der Alte meine Hand. "Mein junger Freund", sagte er, "ich
zittre vor der nächsten Stunde."
Nicht lange, so rasselte unser Wagen über das Steinpflaster der Stadt.
Bei dem schönen Herbstwetter waren viele Leute auf den Straßen, und da ich
lange fort gewesen, so erhielt ich als allbekanntes Stadtkind fortwährend
lebhafte Grüße von den Vorübergehenden. Den fremden Greis an meiner Seite
streifte höchstens ein Blick der Verwunderung oder wohl auch der Neugierde.
Endlich hielten wir am Gasthofe, und hier dachte ich für heute von
meinem Freunde Abschied zu nehmen, denn er wünschte, seinen ersten Gang
nach St. Jürgen allein zu machen.
Ein paar Minuten später war ich zu Hause, umringt von Eltern und
Geschwistern. "Alles wohl?" war meine erste Frage.
"Du siehst es, hier ist alles gesund", erwiderte meine Mutter, "sonst
aber--eine findest du nicht mehr."
"Hansen!" rief ich; denn an wen anders hätte ich denken sollen.
Meine Mutter nickte. "Aber was erschreckt dich so, mein Kind? Ihre Jahre
waren daher; heut in der Frühe ist sie in meinen Armen sanft entschlafen."
Ich erzählte, wen ich mitgebracht, in fliegenden Worten, und während alle
noch tief erschüttert standen, verließ ich ohne meine Kleider zu wechseln,
das Haus; jetzt durfte ich den alten Mann nicht allein lassen. Ich ging
zuerst nach dem Gasthofe und, nachdem ich dort erfahren, daß er fort sei,
gradeswegs die Straße hinauf nach St. Jürgen.
Als ich dort anlangte, sah ich den Spökenkieker, den der Tod zu
verschmähen schien, mitten auf der Straße vor dem Stiftshause stehen. Die
Hände auf dem Rücken, wiegte er sich behaglich in den Knien, während er
unter dem breiten Schirme seiner Mütze nach dem einen Giebel hinaufstierte.
Als ich mit den Augen der Richtung folgte, sah ich dort auf den obersten
Treppen, ja sogar auf der Glocke, die oben in der durchbrochenen Mauer
hing, eine große Menge Schwalben eine neben der andern sitzen, während
einzelne um sie her schwärmten, sich hoch in die Luft erhoben und dann
wieder schreiend und zwitschernd zu ihnen zurückkehrten. Einige von
diesen schienen neue Gefährten mitzubringen, die dann neben den andern auf
den Mauerzinnen Platz zu finden suchten.
Es hielt mich unwillkürlich fest. Ich sah es wohl, sie rüsteten sich zur
Reise; die Sonne der Heimat war ihnen nicht mehr warm genug.--Der alte
Mensch neben mir riß die Mütze vom Kopf und schwenkte sie hin und her.
"Husch!" lallte er, "fort mit euch, ihr Sakermenters!"--Aber noch eine
Weile dauerte das Schauspiel dort oben auf dem Giebel. Da plötzlich, wie
emporgeweht, erhoben sich sämtliche Schwalben fast senkrecht in die Luft,
und in demselben Augenblick waren sie auch schon spurlos in dem blauen
Himmelsraum verschwunden.
Der Spökenkieker stand noch und murmelte unverständliche Worte, während
ich durch den dunkeln Torweg in den Hof des Stiftes ging.--Der eine
Fensterflügel von Hansens Stube stand wie einstens offen; auch das
Schwalbennest war noch da. Zögernd stieg ich die Treppe hinan und öffnete
die Stubentür. Da lag meine alte Hansen friedlich und still; das Leintuch,
womit man sie bedeckt hatte, war zur Hälfte zurückgeschlagen. Auf der
Kante des Bettes saß mein Reisegefährte, aber seine Augen waren über den
Leichnam weg auf die nackte Wand gerichtet. Ich sah es wohl, dieser
starre Blick ging über eine leere ungeheure Kluft; denn am jenseitigen
Ufer stand das unerreichbare Luftbild seiner Jugend, das jetzt mit
reißender Schnelle in Dunst zerfloß.
Ich hatte mich, anscheinend ohne von ihm bemerkt zu werden, in den
Lehnstuhl an das offene Fenster gesetzt und betrachtete das leere
Schwalbennest, aus dem noch die Halme und Federn hervorsahen, die einst
der nun flügge gewordenen Brut zum Schutze gedient hatten. Als ich wieder
ins Zimmer blickte, war der Kopf des alten Mannes dicht über dem der
Leiche. Er schien wie sinnverwirrt dies eingefallene Greisenantlitz zu
betrachten, das mit dem drohenden Ernst des Todes vor ihm lag. "Könnte
ich nur einmal noch die Augen sehen!" murmelte er. "Aber Gott hat sie
zugedeckt." Dann, als müsse er es sich beweisen, daß sie es dennoch selber
sei, nahm er eine Strähne des grauen glänzenden Haares, das zu beiden
Seiten vom Haupte auf das Leintuch herabfloß, und ließ es liebkosend durch
seine Hände gleiten.
"Wir sind zu spät gekommen, Harre Jensen", rief ich schmerzlich.
Er blickte auf und nickte. "Um fünfzig Jahre", sagte er, "das Leben ist
auch so vergangen." Dann, während er langsam aufstand, schlug er das Laken
zurück und deckte es über das stille Antlitz der Toten.
Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Mir war, als höre ich von draußen,
fern aus der höchsten Luftströmung, darin die Schwalben ziehen, die
letzten Worte ihres alten Liedes:
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War alles leer.
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