In St. Jürgen: Novelle - 2

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"Du meinst doch nicht den Goldmacher? Das ist kein guter Helfer!"
"Es ist nichts Gottloses mit dem Rutenschlagen, mein Kind."
"Aber die es treiben, sind Betrüger."--Mein Vater hatte sich wieder auf den
Stuhl gesetzt und sah wie zweifelnd vor sich hin. Dann schüttelte er den
Kopf und sagte: "Der Spaten klang schon darauf; aber da geschah etwas";
--und sich unterbrechend, fuhr er fort: "Vor achtzehn Jahren starb deine
Mutter; als sie es inne wurde, daß sie uns verlassen müsse, brach sie in
ein bitteres Weinen aus, das kein Ende nehmen wollte, bis sie in ihren
Todesschlaf verfiel. Das waren die letzten Laute, die ich aus deiner
Mutter Mund vernahm." Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er zögernd,
als scheue er sich vor dem Laut seiner eignen Stimme: "Heute nacht, nach
achtzehn Jahren, da der Spaten auf die Kiste stieß, habe ich es wieder
gehört. Es war nicht bloß in meinem Ohr, wie es all die Jahre hindurch so
oft gewesen ist; unter mir, aus dem Grund der Erde kam es herauf.--Man
darf nicht sprechen bei solchem Werk; aber mir war, als schnitte das Eisen
in deiner toten Mutter Herz.--Ich schrie laut auf, da erlosch die Lampe,
und--siehst du", setzte er dumpf hinzu, "deshalb ist alles wieder
verschwunden."
Ich warf mich vor meinem Vater auf die Knie und legte meine Hände um
seinen Nacken. "Ich bin kein Kind mehr", sagte ich, "laß uns
zusammenhalten, Vater; ich weiß, das Unglück ist in unser Haus gekommen."
Er sagte nichts; aber er lehnte seine feuchte Stirn an meine Schulter; es
war das erste Mal, daß er an seinem Kinde eine Stütze suchte. Wie lange
wir so gesessen haben, weiß ich nicht. Da fühlte ich, daß meine Wangen
von heißen Tränen naß wurden, die aus seinen alten Augen flossen. Ich
klammerte mich an ihn. "Weine nicht, Vater", bat ich, "wir werden auch
die Armut ertragen können."
Er strich mit seiner zitternden Hand über mein Haar und sagte leise, so
leise, daß ich es kaum verstehen konnte: "Die Armut wohl, mein Kind, aber
nicht die Schuld."
Und nun, mein Junge, kam eine bittere Stunde; aber eine, die noch jetzt in
meinem Alter mir als die trostvollste meines Lebens erscheint. Denn zum
ersten Male konnte ich meinem Vater die Liebe seines Kindes geben; und von
jenem Augenblicke an blieb sie ihm das Teuerste und bald auch das letzte,
was er auf Erden noch sein nannte. Während ich neben ihm saß und heimlich
meine Tränen niederschluckte, schüttete mein Vater mir sein Herz aus. Ich
wußte nun, daß er vor dem Bankerott stand; aber das war das Schlimmste
nicht. In einer schlaflosen Nacht, da er vergebens auf seinem heißen
Kissen nach einem Ausweg aus dem Elend gesucht, war ihm die halbvergessene
Sage von dem Schatz in unserem Brunnen wieder in den Sinn gekommen. Der
Gedanke hatte ihn seitdem verfolgt; tags, wenn er über seinen Büchern saß,
des Nachts, wenn endlich ein schwerer Schlummer auf seiner Brust lag. In
seinen Träumen hatte er das Gold im dunkeln Wasser brennen sehen; und wenn
er morgens aufgestanden, immer wieder hatte es ihn hinaus an den Brunnen
getrieben, um wie gebannt in die geheimnisvolle Tiefe hinabzustarren. Da
hatte er sich dem argen Gehülfen anvertraut. Aber der war keineswegs
sogleich bereit gewesen, sondern hatte vor allem eine bedeutende Summe zu
den notwendigen Vorbereitungen des Werkes verlangt. Mein Armer Vater
hatte schon keinen Willen mehr; er gab sie hin, und bald eine zweite und
dritte. Das Traumgold verschlang das wirkliche, das noch in seinen Händen
war; aber dieses Gold war nicht sein eigen; es war das anvertraute Erbe
seines Mündels. An Ersatz war nicht zu denken; wir rieten hin und wider;
Verwandte, die uns zu helfen vermocht, hatten wir nicht; dein Großvater
war nicht mehr; endlich gestanden wir uns, daß von außen keine Hülfe zu
hoffen sei.--Das Licht war ausgebrannt, ich hatte meinen Kopf an meines
Vaters Brust gelegt, meine Hand ruhte in der seinen; so blieben wir im
Dunkeln sitzen. Was dann weiter im geheimen Zwiesprach dieser Nacht
zwischen uns gesprochen wurde, ich weiß es nicht mehr. Aber niemals zuvor,
da noch mein Vater unfehlbar vor mir stand, wie fast nur unser Herrgott
selber, habe ich solch heilige Zärtlichkeit für ihn gefühlt wie in jener
Stunde, da er mir eine Tat vertraut hatte, die wohl nicht bloß vor den
Augen der Menschen ein Verbrechen war.--Allgemach erblichen am Himmel
draußen die Sterne, ein kleiner Vogel sang aus den Holunderbüschen, und
der erste Schein des Morgenrots fiel in das dämmerige Zimmer. Mein Vater
stand auf und trat an das Pult, auf dem seine großen Kontobücher lagen.
Das lebensgroße Ölbild des Großvaters, mit dem Haarbeutel und dem
lederfarbenen Kamisol, schien strenge auf den Sohn herabzusehen. "Ich
werde noch einmal rechnen", sagte mein Vater, "bleibt das Fazit dasselbe",
setzte er zögernd hinzu, indem er wie um Vergebung flehend zu dem Bilde
seines Vaters aufblickte, "dann werde ich einen schweren Gang tun; denn
ich bedarf der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen."
Auf seinen Wunsch verließ ich jetzt das Zimmer, und bald wurde es laut im
Hause; der Tag war angebrochen. Als ich die nötigen Geschäfte besorgt
hatte, ging ich in den Garten und durch das Hinterpförtchen auf den Weg
hinaus; Harre pflegte hier vorbeizukommen, wenn er morgens nach der
Werkstatt ging, in der er bis jetzt noch arbeitete.
Ich brauchte nicht lange zu warten; als die Uhr sechs geschlagen, sah ich
ihn kommen. "Harre, einen Augenblick!" sagte ich und winkte ihm, mit mir
in den Garten zu treten.
Er sah mich befremdet an; denn meine böse Botschaft war wohl auf meinem
Gesicht geschrieben; auch stand ich, als ich ihn in eine Ecke des Gartens
gezogen hatte, eine ganze Zeit und hatte seine Hand gefaßt, ohne daß ich
ein Wort hervorbringen konnte. Endlich aber sagte ich ihm alles, und dann
bat ich ihn: "Mein Vater will zu dir gehen; sei nicht zu hart mit ihm."
Er war totenblaß geworden, und in seine Augen trat ein Ausdruck,
vielleicht nur der Verzweiflung, der mich erschreckte.
"Harre, Harre, was willst du mit dem alten Mann beginnen?" rief ich.
Er drückte die Hand gegen seine Brust. "Nichts, Agnes", sagte er, indem
er mich traurig lächelnd ansah; "aber ich muß nun fort von hier."
Ich erschrak.--"Weshalb?" fragte ich stammelnd.
"Ich darf deinen Vater nicht wiedersehen."
"Du wirst ihm ja doch vergeben, Harre!"
"Das wohl, Agnes; ich schulde ihm mehr als das; aber--er soll sein graues
Haupt vor mir nicht demütigen. Und dann"--das setzte er wie beiläufig
noch hinzu--, "ich glaube auch, es geht jetzt mit dem Meisterwerden nicht."
Ich sagte nichts hierauf; ich sah nur, wie das Glück, nach dem ich gestern
schon die Hand gestreckt, in unsichtbare Ferne schwand; aber es war nichts
mehr zu ändern; es war jetzt am besten so, wie es Harre wollte. Nur das
sagte ich noch: "Wann wirst du gehen, Harre?" Ich wußte selbst kaum, was
ich sprach.
"Sorge nur, daß dein Vater mich heute nicht aufsucht", erwiderte er; "bis
morgen früh bin ich mit allem fertig, was ich noch hier zu tun habe.
Kränke dich auch nicht um mich, ich finde leicht ein Unterkommen."
Nach diesen Worten trennten wir uns; das Herz war wohl zu voll, als daß
wir Weiteres hätten sprechen können."--Die Erzählerin schwieg eine Weile.
Dann sagte sie: "Am andern Morgen sah ich ihn noch einmal, und dann nicht
mehr; das ganze lange Leben niemals mehr."
Sie ließ den Kopf auf ihre Brust sinken; die Hände, die auf ihrem Schoß
geruht hatten, wand sie leise umeinander, als müsse sie damit das Weh
beschwichtigen, das, wie einst das Herz des jungen blonden Mädchens, so
noch jetzt den gebrechlichen Leib der Greisin zittern machte.
Doch sie blieb nicht lange in dieser gebrochenen Stellung; sich gewaltsam
aufraffend, erhob sie sich vom Stuhl und trat ans Fenster. "Was will ich
klagen!" sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die Scheibe, die ihres
Vaters Namen trug. "Der Mann hat mehr gelitten als ich. Laß mich auch
das dir noch erzählen."--Harre war fort; er hatte von meinem Vater in einem
herzlichen guten Briefe Abschied genommen; gesehen haben sie sich nicht
mehr. Bald darauf waren die letzten gerichtlichen Schritte gegen uns
getan, und die Eröffnung des Konkurses sollte in nächster Zeit erfolgen.
Es war damals Sitte in unserer Stadt, daß alle öffentlichen
Bekanntmachungen nicht wie jetzt durch den Prediger in der Kirche, sondern
aus dem offenen Fenster des Ratssitzungssaales durch den Stadtsekretär
verlesen wurden; bevor aber dies geschah, wurde eine halbe Stunde lang mit
der kleinen Glocke vom Turm geläutet. Da unser Haus dem Rathause
gegenüber lag, so hatte ich dies oft beobachtet, und auch, wie sich unter
dem Glockenschall Kinder und müßige Leute vor den Rathausfenstern und auf
der Treppe über dem Ratskeller versammelten. Das nämliche geschah bei der
Publizierung eines Konkursurtels; aber die Leute legten dann der Sache
eine üble Bedeutung unter, und das Wort "Die Glocke hat über ihn geläutet",
galt für einen Schimpf.--Ich hatte auch in solchen Fällen ohne viel
Gedanken hingehört; jetzt zitterte ich vor dem Eindruck, den dieser
Vorgang auf das Gemüt meines ohnehin tiefgebeugten Vaters machen würde.
Er hatte mir vertraut, daß er sich deshalb durch einen befreundeten
Ratsherrn an den Bürgermeister gewandt habe; und der Ratsherr, ein
gutmütiger Schwätzer, hatte ihm die Zusicherung gegeben, daß die
Publikation diesmal ohne die Glocke geschehen würde. Ich selbst aber
wußte aus sicherer Quelle, daß diese Zusicherung eine grundlose war.
Dennoch ließ ich meinen Vater in seinem arglosen Glauben und bemühte mich
nur, ihn für diesen Tag zu einer kleinen Reise aufs Land zu unsern
Verwandten zu bereden. Aber er wollte, wie er mit schmerzlichem Lächeln
sagte, sein sinkendes Schiff nicht vor dem völligen Untergang verlassen.
Da, in meiner Angst, fiel mir ein, daß ich in dem hintersten Verschlage
unseres sehr tiefen und gewölbten Kellers die Glocke niemals hatte
schlagen hören. Darauf baute ich meinen Plan. Es gelang mir auch, meinen
Vater zu bereden, mit mir gemeinschaftlich ein Verzeichnis über die dort
lagernden Waren aufzunehmen, wodurch, wenn später die Gerichtspersonen zur
Aufnahme des Inventars kämen, eine Abkürzung dieses traurigen Geschäfts
herbeigeführt würde.
Als die verhängnisvolle Stunde kam, waren wir schon längst unter der Erde
bei unserer Arbeit. Mein Vater sortierte die Waren, ich beim Schein einer
Laterne schrieb auf ein Blatt Papier, was er mir diktierte. Ein paarmal
war mir wohl gewesen, als hörte ich von fern das Summen einer Glocke; dann
sprach ich ein paar laute Worte, bis das Schieben und Rücken mit den
Fässern und Kisten allen von außen eindringenden Schall wieder verschlang.
Alles schien gut zu gehen, mein Vater war ganz in seine Arbeit vertieft.
Da hörte ich plötzlich droben die Kellertür aufreißen; die alte Magd rief,
ich weiß nicht mehr weshalb, nach mir, und zugleich drangen auch die
klaren Schallwellen der Glocke zu uns herab. Mein Vater horchte auf und
setzte die Kiste, die er in den Händen hatte, auf den Boden. "Die
Schandglocke!" stöhnte er und fiel wie kraftlos gegen die Wand. "Es wird
mir nichts erspart."--Aber nur einen Augenblick; dann richtete er sich auf,
und ehe ich noch Zeit bekam, ein Wort zu reden, hatte er schon den Raum
verlassen, und gleich darauf hörte ich ihn die Kellertreppe hinaufsteigen.
Auch ich ging jetzt in das Haus hinauf und fand meinen Vater, nachdem ich
ihn vergebens in der Schreibstube gesucht, im Wohnzimmer mit gefalteten
Händen am offnen Fenster stehen. In diesem Augenblick hörte das
Glockenläuten auf; im Rathaus drüben, das von der hellen Morgensonne
beleuchtet war, wurden die drei Fensterflügel aufgestoßen, und ich sah den
Stadtdiener die roten Polster auf die Fensterbänke legen; an dem
Eisengeländer der Ratstreppe hing schon ein ganzer Schwarm von
halberwachsenen Buben. Mein Vater stand unbeweglich und sah mit
gespannten Augen zu. Ich wollte ihn mit sanften Worten fortziehen. Aber
er wehrte mir. "Laß nur, mein Kind", sagte er, "das geht mich an, ich muß
das hören."
So blieb er denn. Der alte Stadtsekretär mit seinem weißgepuderten Kopf
erschien drüben in dem Mittelfenster, und während ihm zur Seite zwei
Ratsherren auf den roten Kissen lehnten, verlas er mit seiner scharfen
Stimme aus einem Blatt Papier, das er in beiden Händen vor sich hielt, das
Konkursurtel. Bei der klaren Frühlingsluft drang jedes Wort verständlich
zu uns herüber. Als mein Vater seinen vollen Namen über den Markt
hinaussprechen hörte, sah ich ihn zusammenzucken; aber er hielt dennoch
stand, bis alles vorüber war. Dann zog er seine goldene Uhr, die er von
seinem Vater ererbt hatte, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
"Sie gehört zur Konkursmasse", sagte er, "Schließe sie in die Schatulle,
damit sie morgen mit versiegelt werde."
Am andern Tage kamen die Herren zur Versiegelung; aber mein Vater konnte
das Bett nicht verlassen; er war in der Nacht vom Schlage getroffen worden.
--Als einige Monate später unser Haus verkauft war, wurde er in einem
Tragkorb, den wir aus dem Krankenhause geliehen, nach der kleinen Wohnung
gebracht, die wir am Ende der Stadt für uns gemietet hatten. Dort hat er
noch neun Jahre gelebt; ein gelähmter und gebrochener Mann. In seinen
guten Stunden besorgte er kleine Rechnungen und Schreibereien für andere;
das meiste habe ich mit meiner Hände Arbeit verdienen müssen. Dann aber
ist er in fester Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes in meinen Armen
sanft verschieden.--Nach seinem Tode kam ich zu guten Leuten; es war das
Haus deiner Großeltern."
Meine alte Freundin schwieg. Ich aber dachte an Harre.--"Und hast du denn",
fragte ich, "während der ganzen Zeit auch niemals eine Nachricht von
deinem Jugendfreunde erhalten?"
"Niemals, mein Kind", erwiderte sie.
"Weißt du, Hansen", sagte ich, "dein Harre gefällt mir nicht, er war kein
Mann von Wort!"
Sie legte die Hand auf meinen Arm. "So darfst du nicht sprechen, Kind.
Ich habe ihn gekannt; es gibt noch andere Dinge als den Tod, die des
Menschen Willen zwingen.--Aber wir wollen nach meinem Zimmer gehen; du
hast deinen Hut noch dort, und es mag bald Mittag werden."
So schlossen wir denn den einsamen Festsaal wieder ab und gingen denselben
Weg zurück, den wir gekommen waren. Diesmal öffnete sich die Tür des
Spökenkiekers nicht; nur hinter derselben, auf den sandigen Dielen, hörten
wir seinen schlurfenden Schritt.
Als wir in Hansens Zimmer waren, wo noch der letzte Strahl der
Vormittagssonne in die Fenster schien, zog sie eine Schublade ihrer
Schatulle auf und nahm daraus ein Mahagonikästchen, sauber poliert, aber
im Geschmack einer vergangenen Zeit. Es mochte einst ein Geschenk des
jungen Tischlers an einem Geburtstage ihrer Jugend gewesen sein.
"Das mußt du auch noch sehen", sagte Hansen, indem sie das Kästchen
aufschloß. Es lagen Wertpapiere darin, welche sämtlich auf Harre Jensen,
"Sohn des verstorbenen Tischlermeisters Harre Christian Jensen dahier",
lauteten, deren Datum aber nicht über die letzten zehn Jahre hinabreichte.
"Wie kommst du zu diesen Papieren?" fragte ich.
Sie lächelte. "Ich habe nicht umsonst gedient."
"Aber die Papiere lauten nicht auf deinen Namen!"
"Es ist die Schuld meines Vaters, die ich zurückerstatte. Deshalb, und
weil mein Nachlaß, wie aller, die hier versterben, an das Stift fällt,
habe ich das Geld sofort auf Harre Jensens Namen schreiben lassen."--Einen
Augenblick noch, ehe sie es wieder einschloß, wog sie das Kästchen auf der
Hand. "Der Schatz ist wieder beisammen", sagte sie, "aber das Glück, mein
Kind, das Glück, das einst darin gewesen ist. Das ist nicht mehr darin."
Als sie diese Worte sprach, schoß draußen ein Schwalbenzug mit lautem
Geschrei vorüber, und gleich darauf flatterten zwei dieser Vögel bis nahe
an die Scheiben und setzten sich dann zwitschernd auf den offnen
Fensterflügel. Es waren die ersten Schwalben, die ich in diesem Frühjahr
sah.
"Hörst du die kleinen Gratulanten, Hansen?" rief ich, "just zu deinem
Geburtstag sind sie heimgekommen!"
Hansen nickte nur. Ihre noch immer schönen blauen Augen blickten traurig
auf die kleinen singenden Freunde. Dann legte sie die Hände auf meinen
Arm und sagte freundlich: "Geh nun, mein Kind; ich danke allen, daß sie an
mich gedacht. Ich möchte nun allein sein."
Es war mehrere Jahre später, als ich mich von einer Reise nach dem
mittleren Deutschland auf dem Heimwege nach meiner Vaterstadt befand. Auf
einer Hauptstation der Eisenbahn--denn die Zeit des Dampfes war damals
schon hereingebrochen--stieg ein alter Mann mit weißem Haar zu mir in das
Coupé, worin ich mich bisher allein befunden hatte. Er ließ sich einen
kleinen Reisekoffer nachreichen, den ich ihm unter den Sitz schieben half,
und setzte sich dann mit den freundlichen Worten: "Wir haben auch noch nie
beisammengesessen", mir gegenüber. Als er dies sagte, erschien um den
Mund und um die braunen Augen ein Ausdruck der Güte, ich möchte sagen der
Teilnahme, der unwillkürlich zu traulichem Gespräche einlud. Die
Sauberkeit seiner äußern Erscheinung, die sich nicht bloß in dem braunen
Tuchrock und dem weißen Halstuch ausprägte, das feinbürgerliche Wesen des
Mannes, alles heimelte mich an, und es dauerte nicht lange, so hatten wir
uns in gegenseitige Mitteilungen über unsere Familienverhältnisse vertieft.
Ich erfuhr, daß er ein Klaviermacher und in einer mittelgroßen Stadt
Schwabens ansässig sei. Dabei fiel mir eines auf; mein Reisegefährte
sprach den süddeutschen Dialekt, und doch hatte ich auf seinem Koffer den
Namen "Jensen" gelesen, der meines Wissens nur dem nördlichsten
Deutschland angehörte.
Als ich ihm das bemerkte, lächelte er. "Ich mag schon ziemlich
eingeschwäbelt sein", sagte er, "denn ich wohne nun seit über vierzig
Jahren in diesem guten Lande und habe es in dieser Zeit niemals verlassen;
meine Heimat aber liegt im Norden, und daher stammt denn auch mein Name."
Und nun nannte er meine eigene Vaterstadt als seinen Geburtsort.
"So sind wir Landsleute so sehr als möglich", rief ich, "dort bin auch ich
geboren und eben im Begriff, dahin zurückzukehren."
Der alte Herr ergriff meine beiden Hände und sah mich liebevoll an. "Das
hat der liebe Gott gut gemacht", sagte er, "so reisen wir, wenn es Ihnen
recht ist, zusammen. Auch mein Ziel ist unsere Vaterstadt; ich hoffe auf
ein Wiedersehen dort--wenn Gott es zuläßt."
Ich nahm mit Freuden diesen Vorschlag an.
Nachdem wir den derzeitigen Endpunkt der Eisenbahn erreicht hatten, lagen
noch fünf Meilen Weges vor uns, und bald saßen wir zusammen in den
bequemen Kissen eines Federwagens, dessen Bedachung wir bei dem schönen
Herbstwetter zurückgeschlagen hatten. Die Gegend wurde allmählich
heimatlicher; die Wälder verschwanden, bald auch die lebendigen Zäune zur
Seite des Weges, ja sogar die Wälle, auf denen sie standen, und die weite
baumlose Ebene tat sich vor uns auf. Mein Gefährte blickte still vor sich
hinaus. "Ich bin dieser Unendlichkeit des Raumes so entwöhnt", sagte er
einmal; "mir ist jetzt hier, als sähe ich nach allen Seiten in die
Ewigkeit." Dann schwieg er wieder, und ich störte ihn nicht.
Als wir etwa auf der Mitte des Weges aus einem Dorfe, durch das die
Landstraße führte, wieder ins Freie kamen, bemerkte ich, daß er den Kopf
vorbeugte und eifrig auszulugen schien. Dann beschattete er die Augen mit
seiner Hand und wurde sichtbar unruhig. "Ich sehe doch sonst noch so gut
in die Ferne", sagte er endlich, "aber ich bemühe mich umsonst, unsern
Turm von hier in Sicht zu bekommen, und doch hab ich ihn in meiner Jugend
von hier aus immer zuerst begrüßt, wenn ich von einer Wanderung heimkehrte."
"Sie müssen sich irren", erwiderte ich, "der niedrige Turm kann in solcher
Entfernung noch nicht sichtbar sein."
"Niedrig!" rief der Alte fast unwillig, "der Turm hat seit Jahrhunderten
auf viele Meilen in die See hinaus den Schiffern zum Wahrzeichen gedient!"
Da fiel es mir bei. "Sie denken am Ende", sagte ich zögernd, "noch an den
Turm der alten Kirche, die vor reichlich vierzig Jahren abgebrochen wurde."
Der Alte sah mich mit seinen großen Augen an, als ob ich faselte. "Die
Kirche abgebrochen--und vor über vierzig Jahren! Mein Gott, wie lange bin
ich fort gewesen; ich habe niemals etwas davon erfahren!"
Er faltete seine Hände und saß eine ganze Weile wie mutlos in sich
zusammengesunken. Dann sagte er: "Auf jenem schönen Turm, der also nur in
meinen Gedanken noch vorhanden war, habe ich vor nun bald fünfzig Jahren
der das Wiederkommen versprochen, um deren willen ich jetzt diese weite
Reise mache. Ich will Ihnen, wenn Sie hören mögen, dies Stück meines
Lebens mitteilen; vielleicht, daß Sie mir dann über die Hoffnung, die ich
hege, eine Auskunft zu geben vermögen."
Ich versicherte den alten Herrn meiner Teilnahme; und während unser
Postillion in der warmen Mittagssonne auf seinem Sitze einnickte und die
Räder langsam durch den Sand mahlten, begann er seine Erzählung:
"In meiner Jugend hätte ich gern den Weg einer gelehrten Bildung
eingeschlagen; da aber nach dem frühzeitigen Tode meiner Eltern die Mittel
dazu nicht vorhanden waren, so blieb ich bei dem Handwerk meines Vaters,
das heißt, ich wurde Tischler. Schon während ich als Geselle auf der
Wanderschaft war, hatte ich nicht übel Lust, mich draußen anzusiedeln;
denn es fehlte mir nicht ganz an Mitteln; aus dem Verkauf des väterlichen
Hauses war mir ein rundes Sümmchen übriggeblieben, das für den Anfang
schon genügte. Aber ich kehrte doch wieder heim, und das geschah um eines
jungen blonden Mädchens willen.--Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder
so blaue Augen gesehen habe. Eine Freundin sagte einmal im Scherz zu ihr:
"Agnes, ich pflück dir die Veilchen aus den Augen!" Die Worte hab ich
nimmer vergessen können."--Der Alte schwieg eine Weile und blickte
verklärt vor sich hin, als sähe er noch einmal in diese Veilchenaugen
seiner Jugend. Darauf, während ich fast unwillkürlich den Namen meiner
alten Freundin in St. Jürgen bei mir selber sprach, begann er wieder: "Sie
war die Tochter eines Krämers, meines Vormundes. Wir wuchsen als
Nachbarkinder miteinander auf, während das Mädchen von dem früh
verwitweten Vater ziemlich streng und einsam erzogen wurde. Daher mag es
gekommen sein, daß sie sich immer mehr dem einzigen Jugendgespielen
anschloß. Bald nach meiner Rückkehr waren wir unter uns beiden so gut als
verlobt, und es war schon ausgemacht, daß ich in unserer Vaterstadt ein
Geschäft begründen sollte, als ich durch einen unerwarteten Zufall mein
ganzes kleines Vermögen verlor.--Es kam so, daß ich wieder fort mußte.
Am letzten Tage hatte Agnes mir versprochen, abends noch einmal auf den
Weg hinter ihrem Garten hinauszukommen und dort ein letztes Wort mit mir
zu reden. Als ich mich aber mit dem bestimmten Glockenschlage einfand,
war sie nicht dort. Ich stand lauschend an der Planke unter dem
überhängenden Lindengezweig, aber ich wartete vergebens. Das Haus ihres
Vaters konnte ich damals nicht betreten; nicht daß ein Zwiespalt zwischen
uns gewesen wäre, ich glaube im Gegenteil, daß er mir die Hand seiner
Tochter ohne großes Bedenken würde gegeben haben; denn er hielt etwas auf
mich und war kein hochmütiger Mann. Es hatte einen andern Grund, den ich
nicht gern der Vergessenheit entreißen möchte.--Ich weiß es noch gar wohl.
Es war ein dunkler, stürmischer Aprilabend; mehrmals täuschte mich die
Wetterfahne auf dem Dache, daß ich glaubte, die mir wohlbekannte Hoftür
öffnen zu hören, aber es kam kein Schritt den Gartensteig herab. Noch
lehnte ich an der Planke und sah die schwarzen Wolken am Himmel
vorüberfliegen; endlich ging ich schweren Herzens fort.--Am andern Morgen
hatte es eben fünf vom Turme geschlagen, als ich nach einer schlaflosen
Nacht die Treppe von meiner Kammer hinabstieg und von meinen Hauswirten
Abschied nahm. In den engen, schlecht gepflasterten Straßen war noch die
Dunkelheit und der Schmutz des Winters. Die Stadt schien noch im Schlaf
zu liegen; von allen bekannten Gesichtern wollte mir keins begegnen, und
so ging ich einsam und trübselig meinen Weg. Da, als ich eben nach dem
Kirchhof einbiegen wollte, brach ein scharfer Sonnenstrahl hervor, und das
alte Haus der Ratsapotheke, das unten mit seinem Löwenschnitzbild noch in
dem Dunst der Gasse stand, war oben mit der Spitze des Treppengiebels auf
einmal wie in Frühlingsschein gebadet. Zugleich, als ich eben aufschaue,
schallt über mir hoch in der Luft ein langgezogener Ton; dann noch einmal
und noch einmal, als riefe es weit in die Welt hinaus.
Ich war auf den Kirchhof hinausgetreten und blickte an dem Turm hinauf; da
sah ich oben auf der Galerie den Türmer stehen und sah, wie er sein langes
Horn noch in der Hand hielt. Ich wußte es nun wohl; die ersten Schwalben
waren gekommen, und der alte Jakob hatte ihnen den Willkommen geblasen und
es laut über die Stadt gerufen, daß der Frühling ins Land gekommen sei.
Dafür bekam er seinen Ehrentrunk im Ratsweinkeller und einen blanken
Reichstaler vom Herrn Bürgermeister.--Ich kannte den Mann und war oft
droben bei ihm gewesen; als Knabe, um von dort aus meine Tauben fliegen zu
sehen, später auch wohl mit Agnes; denn der Alte hatte ein
Enkeltöchterchen bei sich, zu dem sie Pate gestanden und deren sie sich
auf allerlei Art anzunehmen pflegte. Einmal, am Christabend, hatte ich
ihr sogar ein vollständiges Weihnachtsbäumchen den hohen Turm
hinaufschleppen helfen.--Nun stand die wohlbekannte Eichentür offen;
unwillkürlich trat ich hinein, und in der Finsternis, die mich plötzlich
umgab, stieg ich langsam die Treppen und, wo diese aufhörten, die schmalen
leiterartigen Stiegen hinan. Nichts hörte ich als das Rasseln der großen
Turmuhr, die hier in der Einsamkeit ihr Wesen trieb. Ich weiß es noch gar
wohl, mir grauete dermalen vor diesem toten Dinge, und ich hätte, als ich
daran vorbeikam, in die eisernen Räder greifen mögen, nur um es
stillzumachen. Da hörte ich den alten Jakob von oben herabklettern. Er
schien mit einem Kinde zu sprechen, das er zur Vorsicht ermahnte. Ich
rief ihm einen "Guten Morgen" in die Dunkelheit hinauf und fragte, ob er
die kleine Meta bei sich habe.
"Bist du's, Harre?" rief der Alte zurück, "freilich, die muß mit zum Herrn
Bürgermeister."
Endlich kamen die beiden zu mir herab, während ich seitwärts in eine
Schalluke getreten war. Als Jakob mich so reisefertig neben sich sah,
rief er verwundert: "Was soll das bedeuten, Harre? Was steigst denn da
mit Knüttel und Wachstuchhut in meinen Turm hinauf? Bist doch nicht
wieder fremd geworden bei uns daheim?"
"Es ist nicht anders, Jakob", erwiderte ich, "'s wird hoffentlich nicht
auf lange sein."
"Hatt's mir ganz anders mit dir ausgedacht!" brummte der Alte. "Nun,
wenn's denn einmal sein muß, die Schwalben sind wieder da; es ist jetzt
schon die beste Zeit zum Wandern. Und hab auch Dank, daß du noch mal
gekommen bist!"
"So lebt wohl, Jakob!" sagte ich. "Und wenn Ihr mich von Eurem Turm herab
einmal im hellen Sonnenschein wieder ins Tor hineinwandern seht, so blast
auch mir einen Willkommen wie heute Euren Schwalben!"
Der Alte schüttelte mir die Hand, indem er sein Enkelchen auf den Arm nahm.
"Soll gelten, Meister Harre!" rief er lächelnd; er pflegte mich im
Scherze so zu nennen. Als ich mich aber anschickte, wieder mit ihm
hinabzusteigen, fügte er noch hinzu: "Wenn du einen guten Weg von der
Agnes haben willst, sie ist oben, schon seit früh; sie hat noch ihr
Gefallen an den Vögelchen."
Wohl niemals bin ich so schnell die letzten halsbrechenden Stiegen
hinaufgekommen, obgleich mir der Herzschlag fast den Atem versetzte. Als
ich aber oben auf die Plattform und in den blendenden Himmelsschein
hinaustrat, blieb ich unwillkürlich stehen und tat einen Blick über das
Eisengeländer. Da sah ich unter mir in der Tiefe meine Vaterstadt im
ersten Schmuck des Frühlings liegen; überall zwischen den Dächern standen
die Kirschbäume in Blüte, welche das warme Frühjahr so zeitig
hervorgetrieben hatte. Dort der Giebel, dem kleinen Turme des Rathauses
gegenüber, gehörte dem Hause meines Vormundes. Ich sah den Garten, den
Weg dahinter; mir quoll das Herz, und von Heimweh überwältigt, mag ich
unwillkürlich einen Laut ausgestoßen haben; denn ich fühlte plötzlich
meine Hand ergriffen, und als ich aufblickte, stand Agnes neben mir.
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