In St. Jürgen: Novelle - 1

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IN ST. JÜRGEN
von THEODOR STORM

Novelle (1867)

Es ist nur ein schmuckloses Städtchen, meine Vaterstadt; sie liegt in
einer baumlosen Küstenebene, und ihre Häuser sind alt und finster.
Dennoch habe ich sie immer für einen angenehmen Ort gehalten, und zwei den
Menschen heilige Vögel scheinen diese Meinung zu teilen. Bei hoher
Sommerluft schweben fortwährend Störche über der Stadt, die ihre Nester
unten auf den Dächern haben; und wenn im April die ersten Lüfte aus dem
Süden wehen, so bringen sie gewiß die Schwalben mit, und ein Nachbar
sagt's dem andern, daß sie gekommen sind.--So ist es eben jetzt. Unter
meinem Fenster im Garten blühen die ersten Veilchen, und drüben auf der
Planke sitzt auch schon die Schwalbe und zwitschert ihr altes Lied:
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm; und je länger sie singt,
je mehr gedenke ich einer längst Verstorbenen, der ich für manche gute
Stunde meiner Jugend zu danken habe.
Meine Gedanken gehen die lange Straße hinauf bis zum äußersten Ende, wo
das St.-Jürgens-Stift liegt; denn auch unsere Stadt hat ein solches, wie
im Norden die meisten Städte von einiger Bedeutung. Das jetzige Haus ist
im sechzehnten Jahrhundert von einem unserer Herzöge erbaut und durch den
Wohltätigkeitssinn der Bürger allmählich zu einem gewissen Reichtum
gediehen, so daß es nun für alte Menschen, die nach der Not des Lebens
noch vor der ewigen Ruhe den Frieden suchen, einen gar behaglichen
Aufenthaltsort bildet.--Mit der einen Seite streckt es sich an dem
St.-Jürgens-Kirchhof entlang, unter dessen mächtigen Linden schon die ersten
Reformatoren gepredigt haben; die andere liegt nach dem innern Hofe und
einem angrenzenden schmalen Gärtchen, aus dem in meiner Jugendzeit die
Pfründnerinnen sich ihr Sträußchen zum sonntäglichen Gottesdienste
pflückten. Unter zwei schweren gotischen Giebeln führt ein dunkler Torweg
von der Straße her in diesen Hof, von welchem aus man durch eine Reihe von
Türen in das Innere des Hauses, zu der geräumigen Kapelle und zu den
Zellen der Stiftsleute gelangt.
Durch jenes Tor bin ich als Knabe oft gegangen; denn seitdem, lange vor
meiner Erinnerung, die große St.-Marien-Kirche wegen Baufälligkeit
abgebrochen war, wurde der allgemeine Gottesdienst viele Jahre hindurch in
der Kapelle des St.-Jürgens-Stiftes gehalten.
Wie oft zur Sommerzeit, ehe ich in die Kapellentür trat, bin ich in der
Stille des Sonntagsmorgens zögernd auf dem sonnigen Hofe stehengeblieben,
den von dem nebenliegenden Gärtchen her, je nach der Jahreszeit, Goldlack-,
Nelken- oder Resedaduft erfüllte.--Aber dies war nicht das einzige,
weshalb mir derzeit der Kirchgang so lieblich schien; denn oftmals,
besonders wenn ich ein Stündchen früher auf den Beinen war, ging ich
weiter in den Hof hinab und lugte nach einem von der Morgensonne
beleuchteten Fensterchen im obern Stock, an dessen einer Seite zwei
Schwalben sich ihr Nest gebaut hatten. Der eine Fensterflügel stand
meistens offen; und wenn meine Schritte auf dem Steinpflaster laut wurden,
so bog sich wohl ein Frauenkopf mit grauem glattgescheiteltem Haar unter
einem schneeweißen Häubchen daraus hervor und nickte freundlich zu mir
herab. "Guten Morgen, Hansen", rief ich dann; denn nur bei diesem, ihrem
Familiennamen, nannten wir Kinder unsere alte Freundin; wir wußten kaum,
daß sie auch noch den wohlklingenden Namen "Agnes" führte, der einst, da
ihre blauen Augen noch jung und das jetzt graue Haar noch blond gewesen,
gar wohl zu ihr gepaßt haben mochte. Sie hatte viele Jahre bei der
Großmutter gedient und dann, ich mochte damals in meinem zwölften Jahre
sein, als die Tochter eines Bürgers, der der Stadt Lasten getragen, im
Stifte Aufnahme gefunden. Seitdem war eigentlich für uns aus dem
großmütterlichen Hause die Hauptperson verschwunden; denn Hansen wußte uns
allezeit, und ohne daß wir es merkten, in behagliche Tätigkeit zu setzen;
meiner Schwester schnitt sie die Muster zu neuen Puppenkleidern, während
ich mit dem Bleistift in der Hand nach ihrer Angabe allerlei künstliche
Prendelschrift anfertigen oder auch wohl ein jetzt selten gewordenes Bild
der alten Kirche nachzeichnen mußte, das in ihrem Besitze war. Nur eines
ist mir später in diesem Verkehr aufgefallen; niemals hat sie uns ein
Märchen oder eine Sage erzählt, an welchen beiden doch unsere Gegend so
reich ist; sie schien es vielmehr als etwas Unnützes oder gar Schädliches
zu unterdrücken, wenn ein anderer von solchen Dingen anheben wollte. Und
doch war sie nichts weniger als eine kalte oder phantasielose Natur.
--Dagegen hatte sie an allem Tierleben ihre Freude; besonders liebte sie
die Schwalben und wußte ihren Nesterbau erfolgreich gegen den Kehrbesen
der Großmutter zu verteidigen, deren fast holländische Sauberkeit sich
nicht wohl mit den kleinen Eindringlingen vertragen konnte. Auch schien
sie das Wesen dieser Vögel genauer beobachtet zu haben. So entsinne ich
mich, daß ich ihr einst eine Turmschwalbe brachte, die ich wie leblos auf
dem Steinpflaster des Hofes gefunden hatte. "Das schöne Tier wird
sterben", sagte ich, indem ich traurig das glänzende braunschwarze
Gefieder streichelte; aber Hansen schüttelte den Kopf. "Die?" sagte sie,
"das ist die Königin der Luft; ihr fehlt nichts als der freie Himmel! Die
Angst vor einem Habicht wird sie zu Boden geworfen haben; da hat sie mit
den langen Schwingen sich nicht helfen können." Dann gingen wir in den
Garten; ich mit der Schwalbe, die ruhig in meiner Hand lag, mich mit den
großen braunen Augen ansehend. "Nun wirf sie in die Luft!" rief Hansen.
Und staunend sah ich, wie, von meiner Hand geworfen, der scheinbar leblose
Vogel gedankenschnell seine Schwingen ausbreitete und mit hellem
Zwitscherlaut wie ein befiederter Pfeil in dem sonnigen Himmelsraum
dahinschoß. "Vom Turm aus", sagte Hansen, "solltest du sie fliegen sehen;
das heißt von dem Turm der alten Kirche, der noch ein Turm zu nennen war."
Dann, mit einem Seufzer meine Wangen streichelnd, ging sie ins Haus zurück
an die gewohnte Arbeit. "Weshalb seufzt denn Hansen so?" dachte ich.--Die
Antwort auf diese Frage erhielt ich erst viele Jahre später, aus einem mir
damals gänzlich fremden Munde.
Nun war sie in den Ruhestand versetzt, aber ihre Schwalben hatten sie zu
finden gewußt, und auch wir Kinder wußten sie zu finden. Wenn ich am
Sonntagmorgen vor der Kirchzeit in das saubere Stübchen der alten Jungfrau
trat, pflegte sie schon im feiertäglichen Anzuge vor ihrem Gesangbuche zu
sitzen. Wollte ich dann neben ihr auf dem kleinen Kanapee Platz nehmen,
so sagte sie wohl: "Ei was, da siehst du ja die Schwalben nicht!" Dann
räumte sie einen Geranien- oder einen Nelkenstock von der Fensterbank und
ließ mich in der tiefen Fensternische auf ihrem Lehnstuhl niedersetzen.
"Aber so fechten mit den Armen darfst du nicht", fügte sie dann lächelnd
hinzu; "so junge muntere Gesellen sehen sie nicht alle Tage!" Und dann saß
ich ruhig und sah, wie die schlanken Vögel im Sonnenscheine ab und zu
flogen, ihr Nest bauten oder ihre Jungen fütterten, während Hansen mir
gegenüber von der Herrlichkeit der alten Zeit erzählte; von den Festen im
Hause meines Urgroßvaters, von den Aufzügen der alten Schützengilde
oder--und das war ihr Lieblingsthema--von der Bilder- und Altarpracht der
alten Kirche, in der sie selbst noch zur Enkelin des letzten Türmers
Gevatter gestanden hatte; bis dann endlich von der Kapelle her der erste
Orgelton zu uns herüberbrauste. Dann stand sie auf, und wir gingen
miteinander durch einen schmalen endlosen Korridor, welcher nur durch die
verhangenen Türfensterchen der zu beiden Seiten liegenden Zellen ein
karges Dämmerlicht empfing. Hier und dort öffnete sich eine dieser Türen,
und in dem Schein, der einige Augenblicke die Dunkelheit unterbrach, sah
ich alte, seltsam gekleidete Männer und Frauen auf den Gang
hinausschlurfen, von denen die meisten wohl schon vor meiner Geburt aus
dem Leben der Stadt entschwunden waren. Gern hätte ich dann dies oder
jenes gefragt; aber auf dem Wege zur Kirche hatte ich von Hansen keine
Antwort zu erwarten; und so gingen wir denn schweigend weiter, am Ende des
Ganges Hansen mit der alten Gesellschaft auf einer Hintertreppe nach unten
zu den Plätzen der Stiftsleute, ich oben auf das Chor, wo ich träumend dem
sich drehenden Glockenspiel der Orgel zusah und, wenn unser Propst die
Kanzel bestiegen hatte--ich will es gestehen--, seine gewiß wohlgesetzte
Predigt meist nur wie ein eintöniges Wellengeräusch und wie aus weiter
Ferne an mein Ohr dringen fühlte; denn unter mir, gegenüber, hing das
lebensgroße Porträt eines alten Predigers mit langen schwarzkrausen Haaren
und seltsam geschorenem Schnurrbart, das bald meine ganze Aufmerksamkeit
in Anspruch zu nehmen pflegte. Mit den melancholischen schwarzen Augen
blickte es so recht wie aus der dumpfen Welt des Wunder- und Hexenglaubens
in die neue Zeit hinauf und erzählte mir weiter von der Stadt
Vergangenheit, wie es in den Chroniken zu lesen stand, bis hinab zu dem
bösen Stegreifjunker, dessen letzte Untat einst das Epitaphium des
Ermordeten in der alten Kirche berichtet hatte.--Freilich, wenn dann
plötzlich die Orgel das "Unsern Ausgang segne Gott" einsetzte, so schlich
ich mich meist verstohlen wieder ins Freie; denn es war kein Spaß, dem
Examen meiner alten Freundin über die gehörte Predigt standhalten zu
müssen.
Von ihrer eigenen Vergangenheit pflegte Hansen nicht zu erzählen; ich war
schon ein paar Jahre lang Student gewesen, als ich bei einem Ferienbesuch
in der Heimat darüber zum ersten Mal etwas von ihr erfuhr.
Es war im April, an ihrem fünfundsechzigsten Geburtstage. Wie in früheren
Jahren, so hatte ich ihr auch heute die beiden hergebrachten Dukaten von
der Großmutter und einige kleine Geschenke von uns Geschwistern überbracht
und war von ihr mit einem Gläschen Malaga bewirtet worden, den sie für
solche Tage in ihrem Wandschränkchen aufbewahrte. Nachdem wir ein
Weilchen geplaudert hatten, bat ich sie, mir heute, wie ich schon lange
gewünscht, den Festsaal zu zeigen, in dem seit Jahrhunderten die Vorsteher
der Stiftung nach der jährlichen Rechnungsablage ihre Schmäuse zu feiern
pflegten. Hansen willigte ein, und wir gingen miteinander den dunkeln
Korridor entlang; denn der Saal lag jenseits der Kapelle am andern Ende
des Hauses. Als ich beim Hinabsteigen der Hintertreppe ausglitt und die
letzten Stufen hinabstolperte, wurde unten auf dem Flur eine Tür
aufgerissen, und der unheimliche nackte Kopf eines neunzigjährigen Mannes
reckte sich daraus hervor. Er murmelte ein paar halbverständliche
Scheltworte und stierte uns dann, bis wir durch die Tür der Kapelle traten,
mit den verglasten Augen nach.
Ich kannte ihn wohl; die Stiftsleute hießen ihn den "Spökenkieker"; denn
sie behaupteten, er könne "was sehen".
"Die Augen könnten einen fürchten machen", sagte ich zu Hansen, als wir
durch die Kapelle gingen.
Sie meinte: "Er sieht dich gar nicht; er sieht nur noch rückwärts in sein
eignes törichtes und sündhaftes Leben."
"Aber", erwiderte ich scherzend, "er sieht doch dort in der Ecke die
offenen Särge stehen, während die darin liegen, noch lebend unter euch
umherwandern."
"Das sind auch nur Schatten, mein Kind; er tut nichts Arges mehr.
Freilich", setzte sie hinzu, "ins Stift gehörte er nicht und hat auch nur
auf eine der Freistellen des Amtmanns hineinschlüpfen können; denn wir
andern müssen unsere bürgerliche Reputation nachweisen, ehe wir hier
angenommen werden."
Wir hatten inzwischen den Schlüssel bei der Wirtschafterin abgelangt und
stiegen nun die Treppe zu dem Festsaal hinauf.--Es war nur ein mäßig
großes, niedriges Gemach, das wir betraten. An der einen Wand sah man
eine altertümliche Stutzuhr aus dem Nachlaß einer hier Verstorbenen, an
der gegenüberstehenden hing das lebensgroße Bild eines Mannes in einfachem
rotem Wams; sonst war das Zimmer ohne Schmuck. "Das ist der gute Herzog,
der das Stift gebaut hat", sagte Hansen; "aber die Menschen genießen seine
Gaben und denken nicht mehr an ihn, wie er es doch bei seiner Lebzeit wohl
gewünscht hat."
"Aber du gedenkst ja seiner, Hansen."
Sie sah mich mit ihren sanften Augen an. "Ja, mein Kind", sagte sie, "das
liegt so in meiner Natur; ich kann nur schwer vergessen."
Die Wände nach der Straße und nach dem Kirchhofe hatten eine Reihe Fenster
mit kleinen in Blei gefaßten Scheiben; und in jeder fast war ein Name,
meist aus mir bekannten angesehenen Bürgerfamilien, mit schwarzer Farbe
eingebrannt; darunter: "Speisemeister dahier Anno--", und dann folgte die
betreffende Jahreszahl.
"Siehst du, das ist dein Urgroßvater", sagte Hansen, indem sie auf eine
dieser Scheiben wies; "den vergesse ich auch nicht; mein Vater hat bei ihm
die Handlung gelernt und später oft Rat und Tat bei ihm geholt; leider, in
der schwersten Zeit, da hatte er schon seine Augen zugetan."
Ich las einen andern Namen: "Liborius Michael Hansen, Speisemeister Anno
1799."
"Das war mein Vater!" sagte Hansen.
"Dein Vater? Wie kam es denn eigentlich--?"
"Daß ich mein halbes Leben gedient habe, meinst du, während ich doch zu
den Honoratiorentöchtern gehörte?"
"Ich meine, was war es eigentlich wodurch das Unglück über deine Familie
kam?"
Hansen hatte sich auf einen der alten Lederstühle gesetzt. "Das war
nichts Besonderes, mein Kind", sagte sie; "es war Anno sieben, zur Zeit
der Kontinentalsperre; damals florierten die Spitzbuben, und die ehrlichen
Leute gingen zugrunde. Und ein ehrlicher Mann war mein Vater!--Er hat den
Namen auch mit ins Grab genommen", fuhr sie nach einem kurzen Schweigen
fort. "Ich sehe es noch, wie er mir einst, da wir miteinander durch die
Krämerstraße gingen, ein altes, nun längst verschwundenes Haus zeigte.
"Merke dir das", sagte er zu mir, "hier wohnte Anno 1549, da am Sonntage
Jubilate die große Feuersbrunst ausbrach, der fromme Kaufmann Meinke
Graveley. Da die Flammen heranbrausten, sprang er mit Elle und Waage auf
die Gasse und flehte zu Gott, wenn er je mit Wissen und Willen seinen
Nächsten um eines Körnleins Wert geschädiget, so möge sein Haus nicht
verschont bleiben. Aber die Flamme sprang darüber hin, während alles
rings in Asche fiel.
"Siehst du, mein Kind", setzte mein Vater hinzu, indem er seine Hände in
die Höhe hob, "das könnte auch ich tun; und auch über unser Haus würde die
Strafe des Herrn hinweggehen."--Hansen sah mich an. "Der Mensch soll sich
nicht rühmen", sagte sie dann. "Du bist nun alt genug, daß ich dir es
wohl erzählen mag; du mußt doch von mir wissen, wenn ich nicht mehr bin.
--Mein guter Vater hatte eine Schwäche; er war abergläubig. Diese
Schwäche brachte ihn dahin, daß er in den Tagen der äußersten Not etwas
beging, das ihm bald das Herz brach; denn er konnte seitdem die Geschichte
von dem frommen Kaufmann nicht mehr erzählen.
In dem Hause neben uns wohnte ein Tischlermeister. Als er mit seiner Frau
frühzeitig verstarb, wurde mein Vater der Vormund seines nachgelassenen
Sohnes. Harre--diesen friesischen Namen führte der Knabe--las gern in den
Büchern und war auch schon in der Tertia unserer Lateinischen Schule; aber
die Mittel reichten doch nicht zum Studieren; und so blieb er denn bei dem
Handwerk seines Vaters. Als er später Geselle wurde und nach zweijähriger
Wanderung wieder eine Zeitlang bei einem Meister gearbeitet hatte, wurde
es auch bald bekannt, daß er zu den feineren Arbeiten in seinem Fach ein
besonderes Geschick habe. Wir beide waren miteinander aufgewachsen; als
er noch in der Lehre war, las er mir oft aus den Büchern vor, die er sich
von seinen früheren Schulkameraden geliehen hatte. Du weißt, wir wohnten
am Markt in dem Erkerhause dem Rathause gegenüber; da steht noch jetzt ein
mächtiger Buchsbaum im Garten. Wie oft haben wir mit unserem Buche unter
diesem Baum gesessen, während über uns die Bienen in den kleinen grünen
Blüten summten!--Nach seiner Rückkehr war das nicht anders geworden, er
kam oft in unser Haus; mit einem Wort, mein lieber Junge, wir beiden
hatten uns gern und suchten das auch nicht zu verbergen.
Meine Mutter lebte nicht mehr; was mein Vater dazu dachte und ob er
überhaupt etwas darüber gedacht, das hab ich nie erfahren. Auch kam es
nicht so weit, daß es ein rechtes Verlöbnis wurde.
Eines Morgens in den ersten Frühlingstagen war ich in unsern Garten
gegangen; die Krokus und die roten Leberblumen schickten sich schon an zu
blühen, es war alles ringsumher so jung und frisch; aber mir selbst war
schwer zu Sinne; die Sorgen meines Vaters drückten auch mich. Obwohl er
niemals über seine Angelegenheiten zu mir geredet, so fühlte ich doch, daß
es immer schneller abwärts ging. In den letzten Monaten hatte ich den
Stadtdiener oft und öfter in die Schreibstube gehen sehen; war er fort, so
verschloß mein Vater sich stundenlang; und von manchem Mittagessen stand
er auf, ohne die Speisen berührt zu haben. In der letzten Woche hatte er
einen ganzen Abend damit zugebracht, sich die Karten zu legen; auf meine
wie im Scherz hingeworfene Frage, worüber er denn Auskunft von seinem
Orakel erwarte, hatte er mich stumm mit der Hand zurückgewiesen und war
dann später mit einem kurzen "Gute Nacht" in seine Kammer gegangen.
Das alles lag mir auf dem Herzen; und meine Augen, die nach innen sahen,
wußten nichts von dem klaren Sonnenschein, der draußen die ganze Welt
verklärte. Da hörte ich unten von der Marsch herauf die Lerchen singen;
und du weißt es ja wohl, mein Kind, in der Jugend ist das Herz noch so
leicht, der kleinste Vogel trägt es mit empor. Mir war plötzlich, als
sähe ich über allen Dunst der Sorge hinweg in eine sonnige Zukunft; als
brauchte ich nur den Fuß hineinzusetzen. Ich weiß noch, wie ich an den
Beeten hinkniete und mit welcher Freude ich nun die Knospen und das junge
Grün betrachtete, das überall aus dem Schoß der Erde hervortrieb. Ich
dachte auch an Harre und zuletzt, glaub ich, nur an ihn. Indem hörte ich
die Gartentür aufklinken, und wie ich aufsah, kam er selber mir entgegen.
Ob auch ihn die Lerche froh gemacht hatte--er sah aus wie die Hoffnung
selbst. "Guten Morgen, Agnes", rief er, "weiß du was Neues--?"
"Ist's denn was Gutes, Harre?"
"Versteht sich, was sollt es sonst wohl sein! Ich will Meister werden und
das in allernächster Zeit."
Kannst du wohl denken, daß ich ordentlich erschrak! Denn ich dachte doch
gleich: Mein Gott, nun braucht er auch die Frau Meisterin!
Ich mag wohl ganz verdutzt ausgesehen haben; denn Harre fragte mich:
"Fehlt dir etwas, Agnes?"
"Mir, Harre? Ich glaube nicht", sagte ich. "Der Wind wehte so kühl über
mich hin."--Das war nun wohl gelogen; allein der liebe Gott hat es nun
einmal so eingerichtet, daß wir in solchem Fall nicht sagen können, was
der andere eben hören will.
"Aber mir fehlt nun etwas", sagte Harre, "das Allerbeste fehlt mir!"
Ich antwortete nichts hierauf, kein Wörtlein. Auch Harren ging eine Weile
schweigend neben mir; dann fragte er auf einmal: "Was meinst du, Agnes, ob
es wohl schon geschehen ist, daß eine Krämerstochter einen Tischlermeister
geheiratet hat?"
Als ich aufsah und er mich mit seinen guten braunen Augen so bittend
anblickte, da gab ich ihm die Hand und sagte ebenso: "Das wird wohl nun
zum erstenmal geschehen."
"Agnes", rief Harre, "was werden die Leute sagen!"
"Ich weiß nicht, Harre.--Aber wenn nun die Krämerstochter arm wäre?"
"Arm, Agnes?" und er faßte mich so recht lustig bei beiden Händen, "ist
denn jung und hübsch noch nicht genug?"
Es war ein glücklicher Tag damals; die Frühlingssonne schien, wir gingen
Hand in Hand; und während wir schwiegen, sangen über uns die Lerchen aus
tausend hellen Kehlen. So waren wir unmerklich an den Brunnen gekommen,
der an der Holunderwand des Gartens dem Hause gegenüber lag. Ich blickte
über die Brettereinfassung in die Tiefe hinab. "Wie drunten das Wasser
glitzert!" sagte ich.
Das Glück macht mutwillig; Harre wollte mich necken. "Das Wasser?" sagte
er. "Das ist das Gold, das aus der Tiefe funkelt." Ich wußte nicht, was
er damit meinte.
"Weißt du denn nicht, daß ein Schatz in eurem Brunnen liegt?" fuhr er fort.
"Guck nur genau zu; es sitzt ein graues Männlein mit dreieckigem Hut auf
dem Grunde. Vielleicht ist's auch nur das brennende Licht in seiner Hand,
das drunten so seltsam glitzert; denn er ist der Hüter des Schatzes."
Mir flog die Not meines Vaters durch den Sinn. Harre hob einen Stein auf
und warf ihn hinab, und es dauerte eine Weile, ehe ein dumpfer Schall zu
uns zurückkam. "Hörst du, Agnes?" sagte er, "das traf auf die Kiste."
"Harre, red vernünftig!" rief ich, "was treibst du für Narrenspossen!"
"Ich spreche nur nach, was die Leute vorsprechen!" erwiderte er.
Aber meine Neugierde war geweckt, vielleicht auch die Begierde nach den
unterirdischen Reichtümern, die aller Not ein Ende machen konnten.
"Woher hast du das Gerede?" fragte ich nochmals, "ich habe doch nie davon
gehört."
Harre sah mich lachend an: "Was weiß ich! von Hans oder Kunz, ich glaub,
am letzten Ende kommt es von dem Halunken, dem Goldmacher."
"Von dem Goldmacher?"--Mir kamen allerlei Gedanken. Der Goldmacher war
ein herabgekommener Trödler; er konnte segnen und raten, Menschen und Vieh
besprechen und alle die andern Geheimnisse, womit derzeit noch bei den
Leichtgläubigen ein einträgliches Geschäft zu machen war. Es ist derselbe,
den sie jetzt den Spökenkieker nennen, welchen Namen er grade so gut wie
seinen damaligen verdient hat. Er war in den letzten Tagen, da ich eben
auf der Außendiele zu tun hatte, ein paarmal in meines Vaters Schreibstube
gegangen und hatte sich dann, ohne auf sein demütig gesprochenes "Herr
Hansen bei der Hand?" meine Antwort abzuwarten, mit scheuem Blick an mir
vorbeigeschoben. Einmal war er fast eine Stunde drinnen gewesen; kurz vor
seinem Fortgehen hatte ich das mir wohlbekannte Pult meines Vaters
aufschließen hören; dann war mir gewesen, als vernehme ich das Klirren von
Geldstücken. Das alles kam mir jetzt in den Sinn.
Aber Harre rüttelte mich auf. "Agnes, träumst du?" rief er, "Oder willst
du Schätze graben?" Ach, er kannte nicht die Not meines Vaters; ihm lag
nur die eigene Zukunft in Gedanken, in die auch ich hineingehörte. Er
ergriff meine beiden Hände und rief fröhlich: "Wir brauchen keine Schätze,
Agnes; mein kleines Erbteil hat dein Vater schon für mich erhoben; das
reicht hin, um Haus und Werkstatt einzurichten. Und für das Weitere",
fügte er lächelnd hinzu, "laß diese nicht ganz ungeschickten Hände sorgen!"
Ich vermochte seine hoffnungsreichen Worte nicht zu erwidern; der Schatz
und der Goldmacher lagen mir im Sinn; ich weiß nicht, war es eine
tollkühne Hoffnung oder der Schatten eines drohenden Unheils, was mir die
Brust beklemmte. Vielleicht ahnte es mir, daß kurz darauf der Schatz
meines ganzen Lebens in diesen Brunnen fallen würde.
Am andern Tage war ich nach einem benachbarten Dorfe hinausgefahren, wo
die uns verwandte Predigerfrau sich wegen Erkrankung eines Kindes meine
Hülfe erbeten hatte. Aber ich hatte keine Ruhe dort; mein Vater war in
den letzten Tagen so still und doch wieder so unruhig gewesen; ich hatte
ihn im Garten auf und ab rennen, dann wieder am Brunnen stehen und in die
Tiefe hinabstarren sehen; mir wurde angst, er könne sich ein Leides antun.
Am dritten Tage glaubte ich mich zu entsinnen, daß er mich auf eine
seltsam hastige Weise zu der Reise hingedrängt hatte; je mehr es gegen die
Nacht ging, je beklommener wurde mir. Da gegen zehn Uhr der Mond aufging,
so bat ich meinen Vetter, mich noch heute zur Stadt fahren zu lassen. Und
so geschah es; nachdem er mir vergebens meine Unruhe auszureden gesucht
hatte, wurde angespannt; und als es Mitternacht vom Turme schlug, hielt
der Wagen vor unserm Hause. Es schien alles zu schlafen; erst als ich
eine Zeitlang geklopft hatte, wurde drinnen die Kette abgehakt, und der
Lehrling, der seine Kammer unten auf dem Flur hatte, öffnete die Haustür.
Es war alles, wie es immer gewesen. "Ist der Herr zu Haus?" fragte ich.
"Der Herr ist schon um zehn Uhr schlafen gegangen", war die Antwort.
Ich stieg leichteren Herzens nach meiner Kammer hinauf, deren Fenster nach
dem Garten lagen.--Die Nacht draußen war so hell, daß ich, ohne Licht zu
machen, noch einmal ans Fenster trat. Der Mond stand über der
Holunderwand, deren noch unbelaubte Zweige sich scharf gegen den
Nachthimmel abzeichneten; und meine Gedanken gingen mit meinen Augen über
diese Erde hinaus zu dem großen liebreichen Gott, dem ich all meine Sorgen
anvertraute.--Da, wie ich eben in das Zimmer zurücktreten wollte, sah ich
plötzlich aus der Röhre des Brunnens, welcher dort im Schatten lag, eine
rote Glut emporlodern; ich sah die am Rande wuchernden Grasbüschel und
dann darüberher die Zweige des Gebüsches wie in goldenem Feuer schimmern.
Mich überfiel eine abergläubische Furcht; denn ich dachte an die Kerze des
grauen Männleins, das drunten auf dem Grunde hocken sollte. Als ich aber
schärfer hinblickte, bemerkte ich eine Leiter an der Brunnenwand, von der
jedoch nur das oberste Ende von hier aus sichtbar war. Im selben
Augenblicke hörte ich einen Schrei aus der Tiefe; dann ein Gepolter; und
ein dumpfes Getöse von Menschenstimmen scholl herauf. Mit einem Male
erlosch die Helligkeit; und ich hörte deutlich, wie es sprossenweise an
der Leiter emporklomm.
Die Gespensterfurcht verließ mich; aber statt dessen beschlich mich eine
unklare Angst um meinen Vater. Mit zitternden Knien ging ich nach seiner
Schlafkammer, die neben der meinen lag. Als ich behutsam die Gardine von
seinem Bette zurückzog, da beschien der Mond die leeren Kissen; sein armer
Kopf hatte wohl schon längst nicht mehr die Ruhe darauf gefunden; jetzt
waren sie gänzlich unberührt. In Todesangst lief ich die Treppe hinab
nach der Hoftür; aber sie war verschlossen und der Schlüssel abgezogen.
Ich ging in die Küche und zündete Licht an; dann nach der Schreibstube,
die ebenfalls ihre Fenster nach dem Garten hatte. Eine Zeitlang stand ich
ratlos am Fenster und starrte hinaus; ich hörte Tritte zwischen den
Holunderbüschen, aber ich konnte nichts unterscheiden; denn die
dahinterstehende Planke verbreitete trotz des Mondscheins tiefen Schatten.
Da hörte ich draußen die Hoftür aufschließen, und bald darauf wurde auch
die Stubentür geöffnet. Mein Vater trat herein.--Ich bin so alt geworden,
aber ich habe es nicht vergessen; sein langes graues Haar triefte von
Wasser oder Schweiß; seine Kleider, die er sonst so peinlich sauber hielt,
waren überall mit grünem Schlamm besudelt.
Er fuhr sichtbar zusammen, als er mich erblickte. "Was ist das! Wie
kommst du hieher?" sagte er hart.
"Der Vetter ließ mich herfahren, Vater!"
"Um Mitternacht?--Das hätte er können bleibenlassen."
Ich sah meinen Vater an; er hatte die Augen niedergeschlagen und stand
unbeweglich. "Es ließ mir keine Ruhe", sagte ich, "Mir war, ich sei hier
nötig, als müsse ich zu dir."
Der alte Mann ließ sich auf einen Stuhl sinken und bedeckte sein Gesicht
mit beiden Händen. "Geh in deine Kammer", murmelte er; "ich will allein
sein."
Aber ich ging nicht. "Laß mich bei dir bleiben", sagte ich leise. Mein
Vater hörte nicht auf mich; er erhob den Kopf und schien nach draußen
hinzuhorchen. Plötzlich sprang er auf. "Still!" rief er, "hörst du's?"
und sah mich mit weit offenen Augen an.
Ich war ans Fenster getreten und sah hinaus. Es war alles tot und stille;
nur die Holunderzweige schlugen, vom Nachtwinde bewegt, gegeneinander.
"Ich höre nichts!" sagte ich.
Mein Vater stand noch immer, als höre er auf etwas, das ihn mit Entsetzen
erfüllte. "Ich meinte, es sei keine Sünde", sprach er vor sich hin; "es
ist kein gottloses Wesen dabei, und der Brunnen steht, bis jetzt
wenigstens, auf meinem Grund." Dann wandte er sich zu mir. "Ich weiß, du
glaubst nicht daran, mein Kind", sagte er, "aber es ist dennoch gewiß; die
Rute hat dreimal geschlagen, und die Nachrichten, die ich nur zu teuer
habe bezahlen müssen, stimmen alle überein; es liegt ein Schatz in unserm
Brunnen, der zur Schwedenzeit darin vergraben ist. Warum sollte ich ihn
nicht heben!--Wir haben die Quelle abgedämmt und das Wasser ausgeschöpft,
und heute nacht haben wir gegraben."
"Wir?" fragte ich. "Von welchem andern sprichst du?"
"Es ist nur einer in der Stadt, der das versteht."
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