In der Strafkolonie - 2

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irgendeine Eigennützigkeit des Reisenden annehmen, denn der Verurteilte
war ihm fremd, kein Landsmann und ein zum Mitleid gar nicht
auffordernder Mensch. Der Reisende selbst hatte Empfehlungen hoher
Ämter, war hier mit grosser Höflichkeit empfangen worden, und dass er zu
dieser Exekution eingeladen worden war, schien sogar darauf
hinzudeuten, dass man sein Urteil über dieses Gericht verlangte. Dies
war aber um so wahrscheinlicher, als der Kommandant, wie er jetzt
überdeutlich gehört hatte, kein Anhänger dieses Verfahrens war und sich
gegenüber dem Offizier fast feindselig verhielt.
Da hörte der Reisende einen Wutschrei des Offiziers. Er hatte gerade,
nicht ohne Mühe, dem Verurteilten den Filzstumpf in den Mund geschoben,
als der Verurteilte in einem unwiderstehlichen Brechreiz die Augen
schloss und sich erbrach. Eilig riss ihn der Offizier vom Stumpf in die
Höhe und wollte den Kopf zur Grube hindrehen; aber es war zu spät, der
Unrat floss schon an der Maschine hinab. »Alles Schuld des
Kommandanten!« schrie der Offizier und rüttelte besinnungslos vorn an
den Messingstangen, »die Maschine wird mir verunreinigt wie ein Stall.«
Er zeigte mit zitternden Händen dem Reisenden, was geschehen war. »Habe
ich nicht stundenlang dem Kommandanten begreiflich zu machen gesucht,
dass einen Tag vor der Exekution kein Essen mehr verabfolgt werden
soll. Aber die neue milde Richtung ist anderer Meinung. Die Damen des
Kommandanten stopfen dem Mann, ehe er abgeführt wird, den Hals mit
Zuckersachen voll. Sein ganzes Leben hat er sich von stinkenden Fischen
genährt und muss jetzt Zuckersachen essen! Aber es wäre ja möglich, ich
würde nichts einwenden, aber warum schafft man nicht einen neuen Filz
an, wie ich ihn seit einem Vierteljahr erbitte. Wie kann man ohne Ekel
diesen Filz in den Mund nehmen, an dem mehr als hundert Männer im
Sterben gesaugt und gebissen haben?«
Der Verurteilte hatte den Kopf niedergelegt und sah friedlich aus, der
Soldat war damit beschäftigt, mit dem Hemd des Verurteilten die Maschine
zu putzen. Der Offizier ging zum Reisenden, der in irgendeiner Ahnung
einen Schritt zurücktrat, aber der Offizier fasste ihn bei der Hand und
zog ihn zur Seite. »Ich will einige Worte im Vertrauen mit Ihnen
sprechen,« sagte er, »ich darf das doch?« »Gewiss,« sagte der Reisende
und hörte mit gesenkten Augen zu.
»Dieses Verfahren und diese Hinrichtung, die Sie jetzt zu bewundern
Gelegenheit haben, hat gegenwärtig in unserer Kolonie keinen offenen
Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter, gleichzeitig der einzige
Vertreter des Erbes des alten Kommandanten. An einen weiteren Ausbau des
Verfahrens kann ich nicht mehr denken, ich verbrauche alle meine Kräfte,
um zu erhalten, was vorhanden ist. Als der alte Kommandant lebte, war
die Kolonie von seinen Anhängern voll; die Überzeugungskraft des alten
Kommandanten habe ich zum Teil, aber seine Macht fehlt mir ganz;
infolgedessen haben sich die Anhänger verkrochen, es gibt noch viele,
aber keiner gesteht es ein. Wenn Sie heute, also an einem
Hinrichtungstag, ins Teehaus gehen und herumhorchen, werden Sie
vielleicht nur zweideutige Äusserungen hören. Das sind lauter Anhänger,
aber unter dem gegenwärtigen Kommandanten und bei seinen gegenwärtigen
Anschauungen für mich ganz unbrauchbar. Und nun frage ich Sie: Soll
wegen dieses Kommandanten und seiner Frauen, die ihn beeinflussen, ein
solches Lebenswerk« -- er zeigte auf die Maschine -- »zugrunde gehen?
Darf man das zulassen? Selbst wenn man nur als Fremder ein paar Tage auf
unserer Insel ist? Es ist aber keine Zeit zu verlieren, man bereitet
etwas gegen meine Gerichtsbarkeit vor; es finden schon Beratungen in der
Kommandatur statt, zu denen ich nicht zugezogen werde; sogar Ihr
heutiger Besuch scheint mir für die ganze Lage bezeichnend; man ist feig
und schickt Sie, einen Fremden, vor. -- Wie war die Exekution anders in
früherer Zeit! Schon einen Tag vor der Hinrichtung war das ganze Tal von
Menschen überfüllt; alle kamen nur um zu sehen; früh am Morgen erschien
der Kommandant mit seinen Damen; Fanfaren weckten den ganzen Lagerplatz;
ich erstattete die Meldung, dass alles vorbereitet sei; die Gesellschaft
-- kein hoher Beamte durfte fehlen -- ordnete sich um die Maschine;
dieser Haufen Rohrsessel ist ein armseliges Überbleibsel aus jener Zeit.
Die Maschine glänzte frisch geputzt, fast zu jeder Exekution nahm ich
neue Ersatzstücke. Vor hunderten Augen -- alle Zuschauer standen auf
den Fussspitzen bis dort zu den Anhöhen -- wurde der Verurteilte vom
Kommandanten selbst unter die Egge gelegt. Was heute ein gemeiner Soldat
tun darf, war damals meine, des Gerichtspräsidenten, Arbeit und ehrte
mich. Und nun begann die Exekution! Kein Misston störte die Arbeit der
Maschine. Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit
geschlossenen Augen im Sand; alle wussten: Jetzt geschieht
Gerechtigkeit. In der Stille hörte man nur das Seufzen des Verurteilten,
gedämpft durch den Filz. Heute gelingt es der Maschine nicht mehr, dem
Verurteilten ein stärkeres Seufzen auszupressen, als der Filz noch
ersticken kann; damals aber tropften die schreibenden Nadeln eine
beizende Flüssigkeit aus, die heute nicht mehr verwendet werden darf.
Nun, und dann kam die sechste Stunde! Es war unmöglich, allen die Bitte,
aus der Nähe zuschauen zu dürfen, zu gewähren. Der Kommandant in seiner
Einsicht ordnete an, dass vor allem die Kinder berücksichtigt werden
sollten; ich allerdings durfte kraft meines Berufes immer dabeistehen;
oft hockte ich dort, zwei kleine Kinder rechts und links in meinen
Armen. Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem
gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser
endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was für Zeiten,
mein Kamerad!« Der Offizier hatte offenbar vergessen, wer vor ihm stand;
er hatte den Reisenden umarmt und den Kopf auf seine Schulter gelegt.
Der Reisende war in grosser Verlegenheit, ungeduldig sah er über den
Offizier hinweg. Der Soldat hatte die Reinigungsarbeit beendet und jetzt
noch aus einer Büchse Reisbrei in den Napf geschüttet. Kaum merkte dies
der Verurteilte, der sich schon vollständig erholt zu haben schien, als
er mit der Zunge nach dem Brei zu schnappen begann. Der Soldat stiess
ihn immer wieder weg, denn der Brei war wohl für eine spätere Zeit
bestimmt, aber ungehörig war es jedenfalls auch, dass der Soldat mit
seinen schmutzigen Händen hineingriff und vor dem gierigen Verurteilten
davon ass.
Der Offizier fasste sich schnell. »Ich wollte Sie nicht etwa rühren,«
sagte er, »ich weiss, es ist unmöglich, jene Zeiten heute begreiflich zu
machen. Im übrigen arbeitet die Maschine noch und wirkt für sich. Sie
wirkt für sich, auch wenn sie allein in diesem Tale steht. Und die
Leiche fällt zum Schluss noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in
die Grube, auch wenn nicht, wie damals, Hunderte wie Fliegen um die
Grube sich versammeln. Damals mussten wir ein starkes Geländer um die
Grube anbringen, es ist längst weggerissen.«
Der Reisende wollte sein Gesicht dem Offizier entziehen und blickte
ziellos herum. Der Offizier glaubte, er betrachte die Öde des Tales; er
ergriff deshalb seine Hände, drehte sich um ihn, um seine Blicke zu
fassen, und fragte: »Merken Sie die Schande?«
Aber der Reisende schwieg. Der Offizier liess für ein Weilchen von ihm
ab; mit auseinandergestellten Beinen, die Hände in den Hüften, stand er
still und blickte zu Boden. Dann lächelte er dem Reisenden aufmunternd
zu und sagte: »Ich war gestern in Ihrer Nähe, als der Kommandant Sie
einlud. Ich hörte die Einladung. Ich kenne den Kommandanten. Ich
verstand sofort, was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine
Macht gross genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es noch
nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines angesehenen
Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfältig; Sie sind den zweiten
Tag auf der Insel, Sie kannten den alten Kommandanten und seinen
Gedankenkreis nicht, Sie sind in europäischen Anschauungen befangen,
vielleicht sind Sie ein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe im
allgemeinen und einer derartigen maschinellen Hinrichtungsart im
besonderen, Sie sehen überdies, wie die Hinrichtung ohne öffentliche
Anteilnahme, traurig, auf einer bereits etwas beschädigten Maschine vor
sich geht -- wäre es nun, alles dieses zusammengenommen (so denkt der
Kommandant), nicht sehr leicht möglich, dass Sie mein Verfahren nicht
für richtig halten? Und wenn Sie es nicht für richtig halten, werden
Sie dies (ich rede noch immer im Sinne des Kommandanten) nicht
verschweigen, denn Sie vertrauen doch gewiss Ihren vielerprobten
Überzeugungen. Sie haben allerdings viele Eigentümlichkeiten vieler
Völker gesehen und achten gelernt, Sie werden daher wahrscheinlich sich
nicht mit ganzer Kraft, wie Sie es vielleicht in Ihrer Heimat tun
würden, gegen das Verfahren aussprechen. Aber dessen bedarf der
Kommandant gar nicht. Ein flüchtiges, ein bloss unvorsichtiges Wort
genügt. Es muss gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn es nur
scheinbar seinem Wunsche entgegenkommt. Dass er Sie mit aller Schlauheit
ausfragen wird, dessen bin ich gewiss. Und seine Damen werden im Kreis
herumsitzen und die Ohren spitzen; Sie werden etwa sagen: ›Bei uns ist
das Gerichtsverfahren ein anderes‹, oder ›Bei uns wird der Angeklagte
vor dem Urteil verhört‹, oder ›Bei uns erfährt der Verurteilte das
Urteil‹, oder ›Bei uns gibt es auch andere Strafen als Todesstrafen‹,
oder ›Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter‹. Das alles sind
Bemerkungen, die ebenso richtig sind, als sie Ihnen selbstverständlich
erscheinen, unschuldige Bemerkungen, die mein Verfahren nicht antasten.
Aber wie wird sie der Kommandant aufnehmen? Ich sehe ihn, den guten
Kommandanten, wie er sofort den Stuhl beiseite schiebt und auf den
Balkon eilt, ich sehe seine Damen, wie sie ihm nachströmen, ich höre
seine Stimme -- die Damen nennen sie eine Donnerstimme --, nun, und er
spricht: ›Ein grosser Forscher des Abendlandes, dazu bestimmt, das
Gerichtsverfahren in allen Ländern zu überprüfen, hat eben gesagt, dass
unser Verfahren nach altem Brauch ein unmenschliches ist. Nach diesem
Urteil einer solchen Persönlichkeit ist es mir natürlich nicht mehr
möglich, dieses Verfahren zu dulden. Mit dem heutigen Tage also ordne
ich an -- usw.‹ Sie wollen eingreifen, Sie haben nicht das gesagt, was
er verkündet, Sie haben mein Verfahren nicht unmenschlich genannt, im
Gegenteil, Ihrer tiefen Einsicht entsprechend halten Sie es für das
menschlichste und menschenwürdigste, Sie bewundern auch diese
Maschinerie -- aber es ist zu spät; Sie kommen gar nicht auf den Balkon,
der schon voll Damen ist; Sie wollen sich bemerkbar machen; Sie wollen
schreien; aber eine Damenhand hält Ihnen den Mund zu -- und ich und das
Werk des alten Kommandanten sind verloren.«
Der Reisende musste ein Lächeln unterdrücken; so leicht war also die
Aufgabe, die er für so schwer gehalten hatte. Er sagte ausweichend: »Sie
überschätzen meinen Einfluss; der Kommandant hat mein Empfehlungsschreiben
gelesen, er weiss, dass ich kein Kenner der gerichtlichen Verfahren bin.
Wenn ich eine Meinung aussprechen würde, so wäre es die Meinung eines
Privatmannes, um nichts bedeutender als die Meinung eines beliebigen
anderen, und jedenfalls viel bedeutungsloser als die Meinung des
Kommandanten, der in dieser Strafkolonie, wie ich zu wissen glaube, sehr
ausgedehnte Rechte hat. Ist seine Meinung über dieses Verfahren eine so
bestimmte, wie Sie glauben, dann, fürchte ich, ist allerdings das Ende
dieses Verfahrens gekommen, ohne dass es meiner bescheidenen Mithilfe
bedürfte.«
Begriff es schon der Offizier? Nein, er begriff noch nicht. Er
schüttelte lebhaft den Kopf, sah kurz nach dem Verurteilten und dem
Soldaten zurück, die zusammenzuckten und vom Reis abliessen, ging ganz
nahe an den Reisenden heran, blickte ihm nicht ins Gesicht, sondern
irgendwohin auf seinen Rock und sagte leiser als früher: »Sie kennen den
Kommandanten nicht; Sie stehen ihm und uns allen -- verzeihen Sie den
Ausdruck -- gewissermassen harmlos gegenüber; Ihr Einfluss, glauben Sie
mir, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich war ja glückselig,
als ich hörte, dass Sie allein der Exekution beiwohnen sollten. Diese
Anordnung des Kommandanten sollte mich treffen, nun aber wende ich sie
zu meinen Gunsten. Unabgelenkt von falschen Einflüsterungen und
verächtlichen Blicken -- wie sie bei grösserer Teilnahme an der
Exekution nicht hätten vermieden werden können -- haben Sie meine
Erklärungen angehört, die Maschine gesehen und sind nun im Begriffe,
die Exekution zu besichtigen. Ihr Urteil steht gewiss schon fest;
sollten noch kleine Unsicherheiten bestehen, so wird sie der Anblick der
Exekution beseitigen. Und nun stelle ich an Sie die Bitte: helfen Sie
mir gegenüber dem Kommandanten!«
Der Reisende liess ihn nicht weiter reden. »Wie könnte ich denn das,«
rief er aus, »das ist ganz unmöglich. Ich kann Ihnen ebensowenig nützen
als ich Ihnen schaden kann.«
»Sie können es,« sagte der Offizier. Mit einiger Befürchtung sah der
Reisende, dass der Offizier die Fäuste ballte. »Sie können es,«
wiederholte der Offizier noch dringender. »Ich habe einen Plan, der
gelingen muss. Sie glauben, Ihr Einfluss genüge nicht. Ich weiss, dass
er genügt. Aber zugestanden, dass Sie recht haben, ist es denn nicht
notwendig, zur Erhaltung dieses Verfahrens alles, selbst das
möglicherweise Unzureichende zu versuchen? Hören Sie also meinen Plan.
Zu seiner Ausführung ist es vor allem nötig, dass Sie heute in der
Kolonie mit Ihrem Urteil über das Verfahren möglichst zurückhalten.
Wenn man Sie nicht geradezu fragt, dürfen Sie sich keinesfalls äussern;
Ihre Äusserungen aber müssen kurz und unbestimmt sein; man soll merken,
dass es Ihnen schwer wird, darüber zu sprechen, dass Sie verbittert
sind, dass Sie, falls Sie offen reden sollten, geradezu in
Verwünschungen ausbrechen müssten. Ich verlange nicht, dass Sie lügen
sollen; keineswegs; Sie sollen nur kurz antworten, etwa: ›Ja, ich habe
die Exekution gesehen,‹ oder ›Ja, ich habe alle Erklärungen gehört.‹ Nur
das, nichts weiter. Für die Verbitterung, die man Ihnen anmerken soll,
ist ja genügend Anlass, wenn auch nicht im Sinne des Kommandanten. Er
natürlich wird es vollständig missverstehen und in seinem Sinne deuten.
Darauf gründet sich mein Plan. Morgen findet in der Kommandatur unter
dem Vorsitz des Kommandanten eine grosse Sitzung aller höheren
Verwaltungsbeamten statt. Der Kommandant hat es natürlich verstanden,
aus solchen Sitzungen eine Schaustellung zu machen. Es wurde eine
Galerie gebaut, die mit Zuschauern immer besetzt ist. Ich bin gezwungen
an den Beratungen teilzunehmen, aber der Widerwille schüttelt mich. Nun
werden Sie gewiss auf jeden Fall zu der Sitzung eingeladen werden; wenn
Sie sich heute meinem Plane gemäss verhalten, wird die Einladung zu
einer dringenden Bitte werden. Sollten Sie aber aus irgendeinem
unerfindlichen Grunde doch nicht eingeladen werden, so müssten Sie
allerdings die Einladung verlangen; dass Sie sie dann erhalten, ist
zweifellos. Nun sitzen Sie also morgen mit den Damen in der Loge des
Kommandanten. Er versichert sich öfters durch Blicke nach oben, dass Sie
da sind. Nach verschiedenen gleichgültigen, lächerlichen, nur für die
Zuhörer berechneten Verhandlungsgegenständen -- meistens sind es
Hafenbauten, immer wieder Hafenbauten! -- kommt auch das
Gerichtsverfahren zur Sprache. Sollte es von seiten des Kommandanten
nicht oder nicht bald genug geschehen, so werde ich dafür sorgen, dass
es geschieht. Ich werde aufstehen und die Meldung von der heutigen
Exekution erstatten. Ganz kurz, nur diese Meldung. Eine solche Meldung
ist zwar dort nicht üblich, aber ich tue es doch. Der Kommandant dankt
mir, wie immer, mit freundlichem Lächeln und nun, er kann sich nicht
zurückhalten, erfasst er die gute Gelegenheit. ›Es wurde eben,‹ so oder
ähnlich wird er sprechen, ›die Meldung von der Exekution erstattet. Ich
möchte dieser Meldung nur hinzufügen, dass gerade dieser Exekution der
grosse Forscher beigewohnt hat, von dessen unsere Kolonie so
ausserordentlich ehrendem Besuch Sie alle wissen. Auch unsere heutige
Sitzung ist durch seine Anwesenheit in ihrer Bedeutung erhöht. Wollen
wir nun nicht an diesen grossen Forscher die Frage richten, wie er die
Exekution nach altem Brauch und das Verfahren, das ihr vorhergeht,
beurteilt?‹ Natürlich überall Beifallklatschen, allgemeine Zustimmung,
ich bin der lauteste. Der Kommandant verbeugt sich vor Ihnen und sagt:
›Dann stelle ich im Namen aller die Frage.‹ Und nun treten Sie an die
Brüstung. Legen Sie die Hände für alle sichtbar hin, sonst fassen sie
die Damen und spielen mit den Fingern. -- Und jetzt kommt endlich Ihr
Wort. Ich weiss nicht, wie ich die Spannung der Stunden bis dahin
ertragen werde. In Ihrer Rede müssen Sie sich keine Schranken setzen,
machen Sie mit der Wahrheit Lärm, beugen Sie sich über die Brüstung,
brüllen Sie, aber ja, brüllen Sie dem Kommandanten Ihre Meinung, Ihre
unerschütterliche Meinung zu. Aber vielleicht wollen Sie das nicht, es
entspricht nicht Ihrem Charakter, in Ihrer Heimat verhält man sich
vielleicht in solchen Lagen anders, auch das ist richtig, auch das
genügt vollkommen, stehen Sie gar nicht auf, sagen Sie nur ein paar
Worte, flüstern Sie sie, dass sie gerade noch die Beamten unter Ihnen
hören, es genügt, Sie müssen gar nicht selbst von der mangelnden
Teilnahme an der Exekution, von dem kreischenden Rad, dem zerrissenen
Riemen, dem widerlichen Filz reden, nein, alles weitere übernehme ich,
und glauben Sie, wenn meine Rede ihn nicht aus dem Saale jagt, so wird
sie ihn auf die Knie zwingen, dass er bekennen muss: Alter Kommandant,
vor dir beuge ich mich. -- Das ist mein Plan; wollen Sie mir zu seiner
Ausführung helfen? Aber natürlich wollen Sie, mehr als das, Sie
müssen.« Und der Offizier fasste den Reisenden an beiden Armen und sah
ihm schweratmend ins Gesicht. Die letzten Sätze hatte er so geschrien,
dass selbst der Soldat und der Verurteilte aufmerksam geworden waren;
trotzdem sie nichts verstehen konnten, hielten sie doch im Essen inne
und sahen kauend zum Reisenden hinüber.
Die Antwort, die er zu geben hatte, war für den Reisenden von allem
Anfang an zweifellos; er hatte in seinem Leben zu viel erfahren, als
dass er hier hätte schwanken können; er war im Grunde ehrlich und hatte
keine Furcht. Trotzdem zögerte er jetzt im Anblick des Soldaten und des
Verurteilten einen Atemzug lang. Schliesslich aber sagte er, wie er
musste: »Nein.« Der Offizier blinzelte mehrmals mit den Augen, liess
aber keinen Blick von ihm. »Wollen Sie eine Erklärung?« fragte der
Reisende. Der Offizier nickte stumm. »Ich bin ein Gegner dieses
Verfahrens,« sagte nun der Reisende, »noch ehe Sie mich ins Vertrauen
zogen -- dieses Vertrauen werde ich natürlich unter keinen Umständen
missbrauchen -- habe ich schon überlegt, ob ich berechtigt wäre, gegen
dieses Verfahren einzuschreiten und ob mein Einschreiten auch nur eine
kleine Aussicht auf Erfolg haben könnte. An wen ich mich dabei zuerst
wenden müsste, war mir klar: an den Kommandanten natürlich. Sie haben es
mir noch klarer gemacht, ohne aber etwa meinen Entschluss erst befestigt
zu haben, im Gegenteil, Ihre ehrliche Überzeugung geht mir nahe, wenn
sie mich auch nicht beirren kann.«
Der Offizier blieb stumm, wendete sich der Maschine zu, fasste eine der
Messingstangen und sah dann, ein wenig zurückgebeugt, zum Zeichner
hinauf, als prüfe er, ob alles in Ordnung sei. Der Soldat und der
Verurteilte schienen sich miteinander befreundet zu haben; der
Verurteilte machte, so schwierig dies bei der festen Einschnallung
durchzuführen war, dem Soldaten Zeichen; der Soldat beugte sich zu ihm;
der Verurteilte flüsterte ihm etwas zu, und der Soldat nickte.
Der Reisende ging dem Offizier nach und sagte: »Sie wissen noch nicht,
was ich tun will. Ich werde meine Ansicht über das Verfahren dem
Kommandanten zwar sagen, aber nicht in einer Sitzung, sondern unter vier
Augen; ich werde auch nicht so lange hier bleiben, dass ich irgendeiner
Sitzung beigezogen werden könnte; ich fahre schon morgen früh weg oder
schiffe mich wenigstens ein.«
Es sah nicht aus, als ob der Offizier zugehört hätte. »Das Verfahren hat
Sie also nicht überzeugt,« sagte er für sich und lächelte, wie ein Alter
über den Unsinn eines Kindes lächelt und hinter dem Lächeln sein eigenes
wirkliches Nachdenken behält.
»Dann ist es also Zeit,« sagte er schliesslich und blickte plötzlich mit
hellen Augen, die irgendeine Aufforderung, irgendeinen Aufruf zur
Beteiligung enthielten, den Reisenden an.
»Wozu ist es Zeit?« fragte der Reisende unruhig, bekam aber keine
Antwort.
»Du bist frei,« sagte der Offizier zum Verurteilten in dessen Sprache.
Dieser glaubte es zuerst nicht. »Nun, frei bist du,« sagte der
Offizier. Zum erstenmal bekam das Gesicht des Verurteilten wirkliches
Leben. War es Wahrheit? War es nur eine Laune des Offiziers, die
vorübergehen konnte? Hatte der fremde Reisende ihm Gnade erwirkt? Was
war es? So schien sein Gesicht zu fragen. Aber nicht lange. Was immer es
sein mochte, er wollte, wenn er durfte, wirklich frei sein und er begann
sich zu rütteln, soweit es die Egge erlaubte.
»Du zerreisst mir die Riemen,« schrie der Offizier, »sei ruhig! Wir
öffnen sie schon.« Und er machte sich mit dem Soldaten, dem er ein
Zeichen gab, an die Arbeit. Der Verurteilte lachte ohne Worte leise vor
sich hin, bald wendete er das Gesicht links zum Offizier, bald rechts
zum Soldaten, auch den Reisenden vergass er nicht.
»Zieh ihn heraus,« befahl der Offizier dem Soldaten. Es musste hiebei
wegen der Egge einige Vorsicht angewendet werden. Der Verurteilte hatte
schon infolge seiner Ungeduld einige kleine Risswunden auf dem Rücken.
Von jetzt ab kümmerte sich aber der Offizier kaum mehr um ihn. Er ging
auf den Reisenden zu, zog wieder die kleine Ledermappe hervor, blätterte
in ihr, fand schliesslich das Blatt, das er suchte, und zeigte es dem
Reisenden. »Lesen Sie,« sagte er. »Ich kann nicht,« sagte der Reisende,
»ich sagte schon, ich kann diese Blätter nicht lesen.« »Sehen Sie das
Blatt doch genau an,« sagte der Offizier und trat neben den Reisenden,
um mit ihm zu lesen. Als auch das nichts half, fuhr er mit dem kleinen
Finger in grosser Höhe, als dürfe das Blatt auf keinen Fall berührt
werden, über das Papier hin, um auf diese Weise dem Reisenden das Lesen
zu erleichtern. Der Reisende gab sich auch Mühe, um wenigstens darin dem
Offizier gefällig sein zu können, aber es war ihm unmöglich. Nun begann
der Offizier die Aufschrift zu buchstabieren und dann las er sie noch
einmal im Zusammenhang. »›Sei gerecht!‹ -- heisst es,« sagte er, »jetzt
können Sie es doch lesen.« Der Reisende beugte sich so tief über das
Papier, dass der Offizier aus Angst vor einer Berührung es weiter
entfernte; nun sagte der Reisende zwar nichts mehr, aber es war klar,
dass er es noch immer nicht hatte lesen können. »›Sei gerecht!‹ --
heisst es,« sagte der Offizier nochmals. »Mag sein,« sagte der Reisende,
»ich glaube es, dass es dort steht.« »Nun gut,« sagte der Offizier,
wenigstens teilweise befriedigt, und stieg mit dem Blatt auf die Leiter;
er bettete das Blatt mit grosser Vorsicht im Zeichner und ordnete das
Räderwerk scheinbar gänzlich um; es war eine sehr mühselige Arbeit, es
musste sich auch um ganz kleine Räder handeln, manchmal verschwand der
Kopf des Offiziers völlig im Zeichner, so genau musste er das Räderwerk
untersuchen.
Der Reisende verfolgte von unten diese Arbeit ununterbrochen, der Hals
wurde ihm steif, und die Augen schmerzten ihn von dem mit Sonnenlicht
überschütteten Himmel. Der Soldat und der Verurteilte waren nur
miteinander beschäftigt. Das Hemd und die Hose des Verurteilten, die
schon in der Grube lagen, wurden vom Soldaten mit der Bajonettspitze
herausgezogen. Das Hemd war entsetzlich schmutzig, und der Verurteilte
wusch es in dem Wasserkübel. Als er dann Hemd und Hose anzog, musste der
Soldat wie der Verurteilte laut lachen, denn die Kleidungsstücke waren
doch hinten entzweigeschnitten. Vielleicht glaubte der Verurteilte
verpflichtet zu sein, den Soldaten zu unterhalten, er drehte sich in der
zerschnittenen Kleidung im Kreise vor dem Soldaten, der auf dem Boden
hockte und lachend auf seine Knie schlug. Immerhin bezwangen sie sich
noch mit Rücksicht auf die Anwesenheit der Herren.
Als der Offizier oben endlich fertiggeworden war, überblickte er noch
einmal lächelnd das Ganze in allen seinen Teilen, schlug diesmal den
Deckel des Zeichners zu, der bisher offen gewesen war, stieg hinunter,
sah in die Grube und dann auf den Verurteilten, merkte befriedigt, dass
dieser seine Kleidung herausgenommen hatte, ging dann zu dem
Wasserkübel, um die Hände zu waschen, erkannte zu spät den widerlichen
Schmutz, war traurig darüber, dass er nun die Hände nicht waschen
konnte, tauchte sie schliesslich -- dieser Ersatz genügte ihm nicht,
aber er musste sich fügen -- in den Sand, stand dann auf und begann
seinen Uniformrock aufzuknöpfen. Hiebei fielen ihm zunächst die zwei
Damentaschentücher, die er hinter den Kragen gezwängt hatte, in die
Hände. »Hier hast du deine Taschentücher,« sagte er und warf sie dem
Verurteilten zu. Und zum Reisenden sagte er erklärend: »Geschenke der
Damen.«
Trotz der offenbaren Eile, mit der er den Uniformrock auszog und sich
dann vollständig entkleidete, behandelte er doch jedes Kleidungsstück
sehr sorgfältig, über die Silberschnüre an seinem Waffenrock strich er
sogar eigens mit den Fingern hin und schüttelte eine Troddel zurecht.
Wenig passte es allerdings zu dieser Sorgfalt, dass er, sobald er mit
der Behandlung eines Stückes fertig war, es dann sofort mit einem
unwilligen Ruck in die Grube warf. Das letzte, was ihm übrig blieb, war
sein kurzer Degen mit dem Tragriemen. Er zog den Degen aus der Scheide,
zerbrach ihn, fasste dann alles zusammen, die Degenstücke, die Scheide
und den Riemen und warf es so heftig weg, dass es unten in der Grube
aneinander klang.
Nun stand er nackt da. Der Reisende biss sich auf die Lippen und sagte
nichts. Er wusste zwar, was geschehen würde, aber er hatte kein Recht,
den Offizier an irgend etwas zu hindern. War das Gerichtsverfahren, an
dem der Offizier hing, wirklich so nahe daran behoben zu werden --
möglicherweise infolge des Einschreitens des Reisenden, zu dem sich
dieser seinerseits verpflichtet fühlte -- dann handelte jetzt der
Offizier vollständig richtig; der Reisende hätte an seiner Stelle nicht
anders gehandelt.
Der Soldat und der Verurteilte verstanden zuerst nichts, sie sahen
anfangs nicht einmal zu. Der Verurteilte war sehr erfreut darüber, die
Taschentücher zurückerhalten zu haben, aber er durfte sich nicht lange
an ihnen freuen, denn der Soldat nahm sie ihm mit einem raschen, nicht
vorherzusehenden Griff. Nun versuchte wieder der Verurteilte dem
Soldaten die Tücher hinter dem Gürtel, hinter dem er sie verwahrt
hatte, hervorzuziehen, aber der Soldat war wachsam. So stritten sie in
halbem Scherz. Erst als der Offizier vollständig nackt war, wurden sie
aufmerksam. Besonders der Verurteilte schien von der Ahnung irgendeines
großen Umschwungs getroffen zu sein. Was ihm geschehen war, geschah nun
dem Offizier. Vielleicht würde es so bis zum Äussersten gehen.
Wahrscheinlich hatte der fremde Reisende den Befehl dazu gegeben. Das
war also Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er
doch bis zum Ende gerächt. Ein breites, lautloses Lachen erschien nun
auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr.
Der Offizier aber hatte sich der Maschine zugewendet. Wenn es schon
früher deutlich gewesen war, dass er die Maschine gut verstand, so
konnte es jetzt einen fast bestürzt machen, wie er mit ihr umging und
wie sie gehorchte. Er hatte die Hand der Egge nur genähert, und sie hob
und senkte sich mehrmals, bis sie die richtige Lage erreicht hatte um
ihn zu empfangen; er fasste das Bett nur am Rande, und es fing schon zu
zittern an; der Filzstumpf kam seinem Mund entgegen, man sah, wie der
Offizier ihn eigentlich nicht haben wollte, aber das Zögern dauerte nur
einen Augenblick, gleich fügte er sich und nahm ihn auf. Alles war
bereit, nur die Riemen hingen noch an den Seiten hinunter, aber sie
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