In der Strafkolonie - 1

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FRANZ KAFKA
IN DER STRAFKOLONIE



1919
KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG

Copyright by Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1919


»Es ist ein eigentümlicher Apparat,« sagte der Offizier zu dem
Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermassen
bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende
schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt zu
sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten
beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten
verurteilt worden war. Das Interesse für diese Exekution war wohl auch
in der Strafkolonie nicht sehr gross. Wenigstens war hier in dem tiefen,
sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal ausser
dem Offizier und dem Reisenden nur der Verurteilte, ein stumpfsinniger,
breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht und ein Soldat
zugegen, der die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten
ausliefen, mit denen der Verurteilte an den Fuss- und Handknöcheln sowie
am Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten
zusammenhingen. Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus,
dass es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen
herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit
er käme.
Der Reisende hatte wenig Sinn für den Apparat und ging hinter dem
Verurteilten fast sichtbar unbeteiligt auf und ab, während der Offizier
die letzten Vorbereitungen besorgte, bald unter den tief in die Erde
eingebauten Apparat kroch, bald auf eine Leiter stieg, um die oberen
Teile zu untersuchen. Das waren Arbeiten, die man eigentlich einem
Maschinisten hätte überlassen können, aber der Offizier führte sie mit
einem grossen Eifer aus, sei es, dass er ein besonderer Anhänger dieses
Apparates war, sei es, dass man aus anderen Gründen die Arbeit sonst
niemandem anvertrauen konnte. »Jetzt ist alles fertig!« rief er endlich
und stieg von der Leiter hinunter. Er war ungemein ermattet, atmete mit
weit offenem Mund und hatte zwei zarte Damentaschentücher hinter den
Uniformkragen gezwängt. »Diese Uniformen sind doch für die Tropen zu
schwer,« sagte der Reisende, statt sich, wie es der Offizier erwartet
hatte, nach dem Apparat zu erkundigen. »Gewiss,« sagte der Offizier und
wusch sich die von Öl und Fett beschmutzten Hände in einem
bereitstehenden Wasserkübel, »aber sie bedeuten die Heimat; wir wollen
nicht die Heimat verlieren. -- Nun sehen Sie aber diesen Apparat,« fügte
er gleich hinzu, trocknete die Hände mit einem Tuch und zeigte
gleichzeitig auf den Apparat. »Bis jetzt war noch Händearbeit nötig, von
jetzt aber arbeitet der Apparat ganz allein.« Der Reisende nickte und
folgte dem Offizier. Dieser suchte sich für alle Zwischenfälle zu
sichern und sagte dann: »Es kommen natürlich Störungen vor; ich hoffe
zwar, es wird heute keine eintreten, immerhin muss man mit ihnen
rechnen. Der Apparat soll ja zwölf Stunden ununterbrochen im Gang sein.
Wenn aber auch Störungen vorkommen, so sind es doch nur ganz kleine und
sie werden sofort behoben sein.«
»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte er schliesslich, zog aus einem
Haufen von Rohrstühlen einen hervor und bot ihn dem Reisenden an; dieser
konnte nicht ablehnen. Er sass nun am Rande einer Grube, in die er einen
flüchtigen Blick warf. Sie war nicht sehr tief. Zur einen Seite der
Grube war die ausgegrabene Erde zu einem Wall aufgehäuft, zur anderen
Seite stand der Apparat. »Ich weiss nicht,« sagte der Offizier, »ob
Ihnen der Kommandant den Apparat schon erklärt hat.« Der Reisende machte
eine ungewisse Handbewegung; der Offizier verlangte nichts Besseres,
denn nun konnte er selbst den Apparat erklären. »Dieser Apparat,« sagte
er und fasste eine Kurbelstange, auf die er sich stützte, »ist eine
Erfindung unseres früheren Kommandanten. Ich habe gleich bei den
allerersten Versuchen mitgearbeitet und war auch bei allen Arbeiten bis
zur Vollendung beteiligt. Das Verdienst der Erfindung allerdings
gebührt ihm ganz allein. Haben Sie von unserem früheren Kommandanten
gehört? Nicht? Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, dass die
Einrichtung der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde,
wussten schon bei seinem Tod, dass die Einrichtung der Kolonie so in
sich geschlossen ist, dass sein Nachfolger, und habe er tausend neue
Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts von dem Alten wird
ändern können. Unsere Voraussage ist auch eingetroffen; der neue
Kommandant hat es erkennen müssen. Schade, dass Sie den früheren
Kommandanten nicht gekannt haben! -- Aber,« unterbrach sich der
Offizier, »ich schwätze, und sein Apparat steht hier vor uns. Er
besteht, wie Sie sehen, aus drei Teilen. Es haben sich im Laufe der Zeit
für jeden dieser Teile gewissermassen volkstümliche Bezeichnungen
ausgebildet. Der untere heisst das Bett, der obere heisst der Zeichner,
und hier der mittlere, schwebende Teil heisst die Egge.« »Die Egge?«
fragte der Reisende. Er hatte nicht ganz aufmerksam zugehört, die Sonne
verfing sich allzustark in dem schattenlosen Tal, man konnte schwer
seine Gedanken sammeln. Um so bewundernswerter erschien ihm der
Offizier, der im engen, parademässigen, mit Epauletten beschwerten, mit
Schnüren behängten Waffenrock so eifrig seine Sache erklärte und
ausserdem, während er sprach, mit einem Schraubendreher noch hier und da
an einer Schraube sich zu schaffen machte. In ähnlicher Verfassung wie
der Reisende schien der Soldat zu sein. Er hatte um beide Handgelenke
die Kette des Verurteilten gewickelt, stützte sich mit einer Hand auf
sein Gewehr, liess den Kopf im Genick hinunterhängen und kümmerte sich
um nichts. Der Reisende wunderte sich nicht darüber, denn der Offizier
sprach französisch und französisch verstand gewiss weder der Soldat noch
der Verurteilte. Um so auffallender war es allerdings, dass der
Verurteilte sich dennoch bemühte, den Erklärungen des Offiziers zu
folgen. Mit einer Art schläfriger Beharrlichkeit richtete er die Blicke
immer dorthin, wohin der Offizier gerade zeigte, und als dieser jetzt
vom Reisenden mit einer Frage unterbrochen wurde, sah auch er, ebenso
wie der Offizier, den Reisenden an.
»Ja, die Egge,« sagte der Offizier, »der Name passt. Die Nadeln sind
eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt, wenn
auch bloss auf einem Platz und viel kunstgemässer. Sie werden es
übrigens gleich verstehen. Hier auf das Bett wird der Verurteilte
gelegt. -- Ich will nämlich den Apparat zuerst beschreiben und dann erst
die Prozedur selbst ausführen lassen. Sie werden ihr dann besser folgen
können. Auch ist ein Zahnrad im Zeichner zu stark abgeschliffen; es
kreischt sehr, wenn es im Gang ist; man kann sich dann kaum
verständigen; Ersatzteile sind hier leider nur schwer zu beschaffen. --
Also hier ist das Bett, wie ich sagte. Es ist ganz und gar mit einer
Watteschicht bedeckt; den Zweck dessen werden Sie noch erfahren. Auf
diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt;
hier sind für die Hände, hier für die Füsse, hier für den Hals Riemen,
um ihn festzuschnallen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann, wie
ich gesagt habe, zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine
Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, dass er dem Mann gerade
in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeissen der
Zunge zu hindern. Natürlich muss der Mann den Filz aufnehmen, da ihm
sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird.« »Das ist Watte?«
fragte der Reisende und beugte sich vor. »Ja gewiss,« sagte der Offizier
lächelnd, »befühlen Sie es selbst.« Er fasste die Hand des Reisenden und
führte sie über das Bett hin. »Es ist eine besonders präparierte Watte,
darum sieht sie so unkenntlich aus; ich werde auf ihren Zweck noch zu
sprechen kommen.« Der Reisende war schon ein wenig für den Apparat
gewonnen; die Hand zum Schutz gegen die Sonne über den Augen, sah er an
dem Apparat in die Höhe. Es war ein grosser Aufbau. Das Bett und der
Zeichner hatten gleichen Umfang und sahen wie zwei dunkle Truhen aus.
Der Zeichner war etwa zwei Meter über dem Bett angebracht; beide waren
in den Ecken durch vier Messingstangen verbunden, die in der Sonne fast
Strahlen warfen. Zwischen den Truhen schwebte an einem Stahlband die
Egge.
Der Offizier hatte die frühere Gleichgültigkeit des Reisenden kaum
bemerkt, wohl aber hatte er für sein jetzt beginnendes Interesse Sinn;
er setzte deshalb in seinen Erklärungen aus, um dem Reisenden zur
ungestörten Betrachtung Zeit zu lassen. Der Verurteilte ahmte den
Reisenden nach; da er die Hand nicht über die Augen legen konnte,
blinzelte er mit freien Augen zur Höhe.
»Nun liegt also der Mann,« sagte der Reisende, lehnte sich im Sessel
zurück und kreuzte die Beine.
»Ja,« sagte der Offizier, schob ein wenig die Mütze zurück und fuhr sich
mit der Hand über das heisse Gesicht, »nun hören Sie! Sowohl das Bett,
als auch der Zeichner haben ihre eigene elektrische Batterie; das Bett
braucht sie für sich selbst, der Zeichner für die Egge. Sobald der Mann
festgeschnallt ist, wird das Bett in Bewegung gesetzt. Es zittert in
winzigen, sehr schnellen Zuckungen gleichzeitig seitlich, wie auch auf
und ab. Sie werden ähnliche Apparate in Heilanstalten gesehen haben; nur
sind bei unserem Bett alle Bewegungen genau berechnet; sie müssen
nämlich peinlich auf die Bewegungen der Egge abgestimmt sein. Dieser
Egge aber ist die eigentliche Ausführung des Urteils überlassen.«
»Wie lautet denn das Urteil?« fragte der Reisende. »Sie wissen auch das
nicht?« sagte der Offizier erstaunt und biss sich auf die Lippen:
»Verzeihen Sie, wenn vielleicht meine Erklärungen ungeordnet sind; ich
bitte Sie sehr um Entschuldigung. Die Erklärungen pflegte früher nämlich
der Kommandant zu geben; der neue Kommandant aber hat sich dieser
Ehrenpflicht entzogen; dass er jedoch einen so hohen Besuch« -- der
Reisende suchte die Ehrung mit beiden Händen abzuwehren, aber der
Offizier bestand auf dem Ausdruck -- »einen so hohen Besuch nicht
einmal von der Form unseres Urteils in Kenntnis setzt, ist wieder eine
Neuerung, die --,« er hatte einen Fluch auf den Lippen, fasste sich aber
und sagte nur: »Ich wurde nicht davon verständigt, mich trifft nicht die
Schuld. Übrigens bin ich allerdings am besten befähigt, unsere
Urteilsarten zu erklären, denn ich trage hier« -- er schlug auf seine
Brusttasche -- »die betreffenden Handzeichnungen des früheren
Kommandanten.«
»Handzeichnungen des Kommandanten selbst?« fragte der Reisende: »Hat er
denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur,
Chemiker, Zeichner?«
»Jawohl,« sagte der Offizier kopfnickend, mit starrem, nachdenklichem
Blick. Dann sah er prüfend seine Hände an; sie schienen ihm nicht rein
genug, um die Zeichnungen anzufassen; er ging daher zum Kübel und wusch
sie nochmals. Dann zog er eine kleine Ledermappe hervor und sagte:
»Unser Urteil klingt nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das
er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben. Diesem
Verurteilten zum Beispiel« -- der Offizier zeigte auf den Mann -- »wird
auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!«
Der Reisende sah flüchtig auf den Mann hin; er hielt, als der Offizier
auf ihn gezeigt hatte, den Kopf gesenkt und schien alle Kraft des Gehörs
anzuspannen, um etwas zu erfahren. Aber die Bewegungen seiner wulstig
aneinander gedrückten Lippen zeigten offenbar, dass er nichts verstehen
konnte. Der Reisende hatte Verschiedenes fragen wollen, fragte aber im
Anblick des Mannes nur: »Kennt er sein Urteil?« »Nein,« sagte der
Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der
Reisende unterbrach ihn: »Er kennt sein eigenes Urteil nicht?« »Nein,«
sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange
er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann:
»Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem
Leib.« Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der
Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er
den geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der
Reisende, der sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte
noch: »Aber dass er überhaupt verurteilt wurde, das weiss er doch?«
»Auch nicht,« sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als
erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. »Nein,« sagte
der Reisende und strich sich über die Stirn hin, »dann weiss also der
Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde?«
»Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen,« sagte der
Offizier und sah abseits, als rede er zu sich selbst und wolle den
Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht
beschämen. »Er muss doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen,«
sagte der Reisende und stand vom Sessel auf.
Der Offizier erkannte, dass er in Gefahr war, in der Erklärung des
Apparates für lange Zeit aufgehalten zu werden; er ging daher zum
Reisenden, hing sich in seinen Arm, zeigte mit der Hand auf den
Verurteilten, der sich jetzt, da die Aufmerksamkeit so offenbar auf ihn
gerichtet war, stramm aufstellte -- auch zog der Soldat die Kette an --,
und sagte: »Die Sache verhält sich folgendermassen. Ich bin hier in der
Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner Jugend. Denn ich stand
auch dem früheren Kommandanten in allen Strafsachen zur Seite und kenne
auch den Apparat am besten. Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist:
Die Schuld ist immer zweifellos. Andere Gerichte können diesen Grundsatz
nicht befolgen, denn sie sind vielköpfig und haben auch noch höhere
Gerichte über sich. Das ist hier nicht der Fall, oder war es wenigstens
nicht beim früheren Kommandanten. Der neue hat allerdings schon Lust
gezeigt, in mein Gericht sich einzumischen, es ist mir aber bisher
gelungen, ihn abzuwehren, und wird mir auch weiter gelingen. -- Sie
wollten diesen Fall erklärt haben; er ist so einfach, wie alle. Ein
Hauptmann hat heute morgens die Anzeige erstattet, dass dieser Mann, der
ihm als Diener zugeteilt ist und vor seiner Türe schläft, den Dienst
verschlafen hat. Er hat nämlich die Pflicht, bei jedem Stundenschlag
aufzustehen und vor der Tür des Hauptmanns zu salutieren. Gewiss keine
schwere Pflicht und eine notwendige, denn er soll sowohl zur Bewachung
als auch zur Bedienung frisch bleiben. Der Hauptmann wollte in der
gestrigen Nacht nachsehen, ob der Diener seine Pflicht erfülle. Er
öffnete Schlag zwei Uhr die Tür und fand ihn zusammengekrümmt schlafen.
Er holte die Reitpeitsche und schlug ihm über das Gesicht. Statt nun
aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, fasste der Mann seinen Herrn
bei den Beinen, schüttelte ihn und rief: ›Wirf die Peitsche weg, oder
ich fresse dich.‹ -- Das ist der Sachverhalt. Der Hauptmann kam vor
einer Stunde zu mir, ich schrieb seine Angaben auf und anschliessend
gleich das Urteil. Dann liess ich dem Mann die Ketten anlegen. Das alles
war sehr einfach. Hätte ich den Mann zuerst vorgerufen und ausgefragt,
so wäre nur Verwirrung entstanden. Er hätte gelogen, hätte, wenn es mir
gelungen wäre, die Lügen zu widerlegen, diese durch neue Lügen ersetzt
und so fort. Jetzt aber halte ich ihn und lasse ihn nicht mehr. -- Ist
nun alles erklärt? Aber die Zeit vergeht, die Exekution sollte schon
beginnen, und ich bin mit der Erklärung des Apparates noch nicht
fertig.« Er nötigte den Reisenden auf den Sessel nieder, trat wieder zu
dem Apparat und begann: »Wie Sie sehen, entspricht die Egge der Form des
Menschen; hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen für
die Beine. Für den Kopf ist nur dieser kleine Stichel bestimmt. Ist
Ihnen das klar?« Er beugte sich freundlich zu dem Reisenden vor, bereit
zu den umfassendsten Erklärungen.
Der Reisende sah mit gerunzelter Stirn die Egge an. Die Mitteilungen
über das Gerichtsverfahren hatten ihn nicht befriedigt. Immerhin musste
er sich sagen, dass es sich hier um eine Strafkolonie handelte, dass
hier besondere Massregeln notwendig waren und dass man bis zum letzten
militärisch vorgehen musste. Ausserdem aber setzte er einige Hoffnung
auf den neuen Kommandanten, der offenbar, allerdings langsam, ein neues
Verfahren einzuführen beabsichtigte, das dem beschränkten Kopf dieses
Offiziers nicht eingehen konnte. Aus diesem Gedankengang heraus fragte
der Reisende: »Wird der Kommandant der Exekution beiwohnen?« »Es ist
nicht gewiss,« sagte der Offizier, durch die unvermittelte Frage
peinlich berührt, und seine freundliche Miene verzerrte sich: »Gerade
deshalb müssen wir uns beeilen. Ich werde sogar, so leid es mir tut,
meine Erklärungen abkürzen müssen. Aber ich könnte ja morgen, wenn der
Apparat wieder gereinigt ist -- dass er so sehr beschmutzt wird, ist
sein einziger Fehler -- die näheren Erklärungen nachtragen. Jetzt also
nur das Notwendigste. -- Wenn der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins
Zittern gebracht ist, wird die Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt
sich von selbst so ein, dass sie nur knapp mit den Spitzen den Körper
berührt; ist die Einstellung vollzogen, strafft sich sofort dieses
Stahlseil zu einer Stange. Und nun beginnt das Spiel. Ein
Nichteingeweihter merkt äusserlich keinen Unterschied in den Strafen.
Die Egge scheint gleichförmig zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre
Spitzen in den Körper ein, der überdies vom Bett aus zittert. Um es nun
jedem zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen, wurde
die Egge aus Glas gemacht. Es hat einige technische Schwierigkeiten
verursacht, die Nadeln darin zu befestigen, es ist aber nach vielen
Versuchen gelungen. Wir haben eben keine Mühe gescheut. Und nun kann
jeder durch das Glas sehen, wie sich die Inschrift im Körper vollzieht.
Wollen Sie nicht näher kommen und sich die Nadeln ansehen?«
Der Reisende erhob sich langsam, ging hin und beugte sich über die Egge.
»Sie sehen,« sagte der Offizier, »zweierlei Nadeln in vielfacher
Anordnung. Jede lange hat eine kurze neben sich. Die lange schreibt
nämlich, und die kurze spritzt Wasser aus, um das Blut abzuwaschen und
die Schrift immer klar zu erhalten. Das Blutwasser wird dann hier in
kleine Rinnen geleitet und fliesst endlich in diese Hauptrinne, deren
Abflussrohr in die Grube führt.« Der Offizier zeigte mit dem Finger
genau den Weg, den das Blutwasser nehmen musste. Als er es, um es
möglichst anschaulich zu machen, an der Mündung des Abflussrohres mit
beiden Händen förmlich auffing, erhob der Reisende den Kopf und wollte,
mit der Hand rückwärts tastend, zu seinem Sessel zurückgehen. Da sah er
zu seinem Schrecken, dass auch der Verurteilte gleich ihm der Einladung
des Offiziers, sich die Einrichtung der Egge aus der Nähe anzusehen,
gefolgt war. Er hatte den verschlafenen Soldaten an der Kette ein wenig
vorgezerrt und sich auch über das Glas gebeugt. Man sah, wie er mit
unsicheren Augen auch das suchte, was die zwei Herren eben beobachtet
hatten, wie es ihm aber, da ihm die Erklärung fehlte, nicht gelingen
wollte. Er beugte sich hierhin und dorthin. Immer wieder lief er mit den
Augen das Glas ab. Der Reisende wollte ihn zurücktreiben, denn, was er
tat, war wahrscheinlich strafbar. Aber der Offizier hielt den Reisenden
mit einer Hand fest, nahm mit der anderen eine Erdscholle vom Wall und
warf sie nach dem Soldaten. Dieser hob mit einem Ruck die Augen, sah,
was der Verurteilte gewagt hatte, liess das Gewehr fallen, stemmte die
Füsse mit den Absätzen in den Boden, riss den Verurteilten zurück, dass
er gleich niederfiel, und sah dann auf ihn hinunter, wie er sich wand
und mit seinen Ketten klirrte. »Stell ihn auf!« schrie der Offizier,
denn er merkte, dass der Reisende durch den Verurteilten allzusehr
abgelenkt wurde. Der Reisende beugte sich sogar über die Egge hinweg,
ohne sich um sie zu kümmern, und wollte nur feststellen, was mit dem
Verurteilten geschehe. »Behandle ihn sorgfältig!« schrie der Offizier
wieder. Er umlief den Apparat, fasste selbst den Verurteilten unter den
Achseln und stellte ihn, der öfters mit den Füssen ausglitt, mit Hilfe
des Soldaten auf.
»Nun weiss ich schon alles,« sagte der Reisende, als der Offizier wieder
zu ihm zurückkehrte. »Bis auf das Wichtigste,« sagte dieser, ergriff den
Reisenden am Arm und zeigte in die Höhe: »Dort im Zeichner ist das
Räderwerk, welches die Bewegung der Egge bestimmt, und dieses Räderwerk
wird nach der Zeichnung, auf welche das Urteil lautet, angeordnet. Ich
verwende noch die Zeichnungen des früheren Kommandanten. Hier sind sie,«
-- er zog einige Blätter aus der Ledermappe -- »ich kann sie Ihnen aber
leider nicht in die Hand geben, sie sind das Teuerste, was ich habe.
Setzen Sie sich, ich zeige sie Ihnen aus dieser Entfernung, dann werden
Sie alles gut sehen können.« Er zeigte das erste Blatt. Der Reisende
hätte gerne etwas Anerkennendes gesagt, aber er sah nur labyrinthartige,
einander vielfach kreuzende Linien, die so dicht das Papier bedeckten,
dass man nur mit Mühe die weissen Zwischenräume erkannte. »Lesen Sie,«
sagte der Offizier. »Ich kann nicht,« sagte der Reisende. »Es ist doch
deutlich,« sagte der Offizier. »Es ist sehr kunstvoll,« sagte der
Reisende ausweichend, »aber ich kann es nicht entziffern.« »Ja,« sagte
der Offizier, lachte und steckte die Mappe wieder ein, »es ist keine
Schönschrift für Schulkinder. Man muss lange darin lesen. Auch Sie
würden es schliesslich gewiss erkennen. Es darf natürlich keine einfache
Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich
erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der
Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zieraten die
eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur
in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für Verzierungen
bestimmt. Können Sie jetzt die Arbeit der Egge und des ganzen Apparates
würdigen? -- Sehen Sie doch!« Er sprang auf die Leiter, drehte ein Rad,
rief hinunter: »Achtung, treten Sie zur Seite!«, und alles kam in Gang.
Hätte das Rad nicht gekreischt, es wäre herrlich gewesen. Als sei der
Offizier von diesem störenden Rad überrascht, drohte er ihm mit der
Faust, breitete dann, sich entschuldigend, zum Reisenden hin die Arme
aus und kletterte eilig hinunter, um den Gang des Apparates von unten zu
beobachten. Noch war etwas nicht in Ordnung, das nur er merkte; er
kletterte wieder hinauf, griff mit beiden Händen in das Innere des
Zeichners, glitt dann, um rascher hinunterzukommen, statt die Leiter zu
benutzen, an der einen Stange hinunter und schrie nun, um sich im Lärm
verständlich zu machen, mit äusserster Anspannung dem Reisenden ins Ohr:
»Begreifen Sie den Vorgang? Die Egge fängt zu schreiben an; ist sie mit
der ersten Anlage der Schrift auf dem Rücken des Mannes fertig, rollt
die Watteschicht und wälzt den Körper langsam auf die Seite, um der Egge
neuen Raum zu bieten. Inzwischen legen sich die wundbeschriebenen
Stellen auf die Watte, welche infolge der besonderen Präparierung sofort
die Blutung stillt und zu neuer Vertiefung der Schrift vorbereitet. Hier
die Zacken am Rande der Egge reissen dann beim weiteren Umwälzen des
Körpers die Watte von den Wunden, schleudern sie in die Grube, und die
Egge hat wieder Arbeit. So schreibt sie immer tiefer die zwölf Stunden
lang. Die ersten sechs Stunden lebt der Verurteilte fast wie früher, er
leidet nur Schmerzen. Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt, denn
der Mann hat keine Kraft zum Schreien mehr. Hier in diesen elektrisch
geheizten Napf am Kopfende wird warmer Reisbrei gelegt, aus dem der
Mann, wenn er Lust hat, nehmen kann, was er mit der Zunge erhascht.
Keiner versäumt die Gelegenheit. Ich weiss keinen, und meine Erfahrung
ist gross. Erst um die sechste Stunde verliert er das Vergnügen am
Essen. Ich knie dann gewöhnlich hier nieder und beobachte diese
Erscheinung. Der Mann schluckt den letzten Bissen selten, er dreht ihn
nur im Mund und speit ihn in die Grube. Ich muss mich dann bücken, sonst
fährt es mir ins Gesicht. Wie still wird dann aber der Mann um die
sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt
es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen
könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter,
der Mann fängt bloss an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund,
als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit
den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen
Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer
Vollendung. Dann aber spiesst ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn
in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht.
Dann ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn
ein.«
Der Reisende hatte das Ohr zum Offizier geneigt und sah, die Hände in
den Rocktaschen, der Arbeit der Maschine zu. Auch der Verurteilte sah
ihr zu, aber ohne Verständnis. Er bückte sich ein wenig und verfolgte
die schwankenden Nadeln, als ihm der Soldat, auf ein Zeichen des
Offiziers, mit einem Messer hinten Hemd und Hose durchschnitt, so dass
sie von dem Verurteilten abfielen; er wollte nach dem fallenden Zeug
greifen, um seine Blösse zu bedecken, aber der Soldat hob ihn in die
Höhe und schüttelte die letzten Fetzen von ihm ab. Der Offizier stellte
die Maschine ein, und in der jetzt eintretenden Stille wurde der
Verurteilte unter die Egge gelegt. Die Ketten wurden gelöst, und statt
dessen die Riemen befestigt; es schien für den Verurteilten im ersten
Augenblick fast eine Erleichterung zu bedeuten. Und nun senkte sich die
Egge noch ein Stück tiefer, denn es war ein magerer Mann. Als ihn die
Spitzen berührten, ging ein Schauer über seine Haut; er streckte,
während der Soldat mit seiner rechten Hand beschäftigt war, die linke
aus, ohne zu wissen wohin; es war aber die Richtung, wo der Reisende
stand. Der Offizier sah ununterbrochen den Reisenden von der Seite an,
als suche er von seinem Gesicht den Eindruck abzulesen, den die
Exekution, die er ihm nun wenigstens oberflächlich erklärt hatte, auf
ihn mache.
Der Riemen, der für das Handgelenk bestimmt war, riss; wahrscheinlich
hatte ihn der Soldat zu stark angezogen. Der Offizier sollte helfen, der
Soldat zeigte ihm das abgerissene Riemenstück. Der Offizier ging auch zu
ihm hinüber und sagte, das Gesicht dem Reisenden zugewendet: »Die
Maschine ist sehr zusammengesetzt, es muss hie und da etwas reissen oder
brechen; dadurch darf man sich aber im Gesamturteil nicht beirren
lassen. Für den Riemen ist übrigens sofort Ersatz geschafft; ich werde
eine Kette verwenden; die Zartheit der Schwingung wird dadurch für den
rechten Arm allerdings beeinträchtigt.« Und während er die Ketten
anlegte, sagte er noch: »Die Mittel zur Erhaltung der Maschine sind
jetzt sehr eingeschränkt. Unter dem früheren Kommandanten war eine mir
frei zugängliche Kassa nur für diesen Zweck bestimmt. Es gab hier ein
Magazin, in dem alle möglichen Ersatzstücke aufbewahrt wurden. Ich
gestehe, ich trieb damit fast Verschwendung, ich meine früher, nicht
jetzt, wie der neue Kommandant behauptet, dem alles nur zum Vorwand
dient, alte Einrichtungen zu bekämpfen. Jetzt hat er die Maschinenkassa
in eigener Verwaltung, und schicke ich um einen neuen Riemen, wird der
zerrissene als Beweisstück verlangt, der neue kommt erst in zehn Tagen,
ist dann aber von schlechterer Sorte und taugt nicht viel. Wie ich aber
in der Zwischenzeit ohne Riemen die Maschine betreiben soll, darum
kümmert sich niemand.«
Der Reisende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse
entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger der Strafkolonie, noch
Bürger des Staates, dem sie angehörte. Wenn er diese Exekution
verurteilen oder gar hintertreiben wollte, konnte man ihm sagen: Du bist
ein Fremder, sei still. Darauf hätte er nichts erwidern, sondern nur
hinzufügen können, dass er sich in diesem Falle selbst nicht begreife,
denn er reise nur mit der Absicht zu sehen und keineswegs etwa, um
fremde Gerichtsverfassungen zu ändern. Nun lagen aber hier die Dinge
allerdings sehr verführerisch. Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und
die Unmenschlichkeit der Exekution war zweifellos. Niemand konnte
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