Immensee - 3

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Während der Überfahrt ließ Elisabeth ihre Hand auf dem Rande des Kahnes
ruhen. Er blickte beim Rudern zu ihr hinüber; sie aber sah an ihm
vorbei in die Ferne. So glitt sein Blick herunter und blieb auf ihrer
Hand; und die blasse Hand verriet ihm, was ihr Antlitz ihm verschwiegen
hatte.
Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gern
schöner Frauenhände bemächtigt, die nachts auf krankem Herzen liegen.
Als Elisabeth sein Auge auf ihrer Hand ruhen fühlte, ließ sie sie
langsam über Bord ins Wasser gleiten.
Auf dem Hofe angekommen trafen sie einen Scherenschleiferkarren vor dem
Herrenhause; ein Mann mit schwarzen, niederhängenden Locken trat emsig
das Rad und summte eine Zigeunermelodie zwischen den Zähnen, während
ein eingeschirrter Hund schnaufend daneben lag. Auf dem Hausflur stand
in Lumpen gehüllt ein Mädchen mit verstörten schönen Zügen und streckte
bettelnd die Hand gegen Elisabeth aus.
Reinhard griff in seine Tasche, aber Elisabeth kam ihm zuvor und
schüttete hastig den ganzen Inhalt ihrer Börse in die offene Hand der
Bettlerin. Dann wandte sie sich eilig ab, und Reinhard hörte, wie sie
schluchzend die Treppe hinaufging.
Er wollte sie aufhalten, aber er besann sich und blieb an der Treppe
zurück. Das Mädchen stand noch immer auf dem Flur, unbeweglich, das
empfangene Almosen in der Hand.
»Was willst du noch?« fragte Reinhard.
Sie fuhr zusammen. »Ich will nichts mehr,« sagte sie; dann den Kopf
nach ihm zurückwendend, ihn anstarrend mit den verirrten Augen, ging
sie langsam gegen die Tür. Er rief einen Namen aus, aber sie hörte es
nicht mehr; mit gesenktem Haupte, mit über der Brust gekreuzten Armen
schritt sie über den Hof hinab:
Sterben, ach! sterben
Soll ich allein!

Ein altes Lied brauste ihm ins Ohr, der Atem stand ihm still; eine
kurze Weile, dann wandte er sich ab und ging auf sein Zimmer.
Er setzte sich hin, um zu arbeiten, aber er hatte keine Gedanken.
Nachdem er es eine Stunde lang vergebens versucht hatte, ging er ins
Familienzimmer hinab. Es war niemand da, nur kühle grüne Dämmerung; auf
Elisabeths Nähtisch lag ein rotes Band, das sie am Nachmittag um den
Hals getragen hatte. Er nahm es in die Hand, aber es tat ihm weh, und
er legte es wieder hin.
Er hatte keine Ruhe, er ging an den See hinab und band den Kahn los; er
ruderte hinüber und ging noch einmal alle Wege, die er kurz vorher mit
Elisabeth zusammen gegangen war. Als er wieder nach Hause kam, war es
dunkel; auf dem Hofe begegnete ihm der Kutscher, der die Wagenpferde
ins Gras bringen wollte; die Reisenden waren eben zurückgekehrt.
Bei seinem Eintritt in den Hausflur hörte er Erich im Gartensaal auf
und ab schreiten. Er ging nicht zu ihm hinein; er stand einen
Augenblick still und stieg dann leise die Treppe hinauf nach seinem
Zimmer. Hier setzte er sich in den Lehnstuhl ans Fenster; er tat vor
sich selbst, als wolle er die Nachtigall hören, die unten in den
Taxuswänden schlug; aber er hörte nur den Schlag seines eigenen
Herzens. Unter ihm im Hause ging alles zur Ruhe, die Nacht verrann, er
fühlte es nicht.
So saß er stundenlang. Endlich stand er auf und legte sich ins offene
Fenster. Der Nachttau rieselte zwischen den Blättern, die Nachtigall
hatte aufgehört zu schlagen. Allmählich wurde auch das tiefe Blau des
Nachthimmels vom Osten her durch einen blaßgelben Schimmer verdrängt;
ein frischer Wind erhob sich und streifte Reinhards heiße Stirne; die
erste Lerche stieg jauchzend in die Luft.
Reinhard kehrte sich plötzlich um und trat an den Tisch: er tappte nach
einem Bleistift, und als er diesen gefunden, setzte er sich und schrieb
damit einige Zeilen auf einen weißen Bogen Papier. Nachdem er hiermit
fertig war, nahm er Hut und Stock, und das Papier zurücklassend öffnete
er behutsam die Tür und stieg in den Flur hinab.
Die Morgendämmerung ruhte noch in allen Winkeln; die große Hauskatze
dehnte sich auf der Strohmatte und sträubte den Rücken gegen seine
Hand, die er gedankenlos entgegenhielt. Draußen im Garten aber
priesterten [Fußnote: d. h. »sangen schon die Sperlinge großartig, wie
Priester.« Das Wort scheint von Storm geschmiedet zu sein; es ist nicht
anderswo zu finden.] schon die Sperlinge von den Zweigen und sagten es
allen, daß die Nacht vorbei sei.
Da hörte er oben im Hause eine Tür gehen; es kam die Treppe herunter,
und als er aufsah, stand Elisabeth vor ihm. Sie legte die Hand auf
seinen Arm, sie bewegte die Lippen, aber er hörte keine Worte.
»Du kommst nicht wieder,« sagte sie endlich. »Ich weiß es, lüge nicht;
du kommst nie wieder.«
»Nie,« sagte er.
Sie ließ ihre Hand sinken und sagte nichts mehr. Er ging über den Flur
der Türe zu; dann wandte er sich noch einmal. Sie stand bewegungslos an
derselben Stelle und sah ihn mit toten Augen an. Er tat einen Schritt
vorwärts und streckte die Arme nach ihr aus. Dann kehrte er sich
gewaltsam ab und ging zur Tür hinaus.
Draußen lag die Welt im frischen Morgenlichte, die Tauperlen, die in
den Spinnengeweben hingen, blitzten in den ersten Sonnenstrahlen. Er
sah nicht rückwärts; er wanderte rasch hinaus; und mehr und mehr
versank hinter ihm das stille Gehöft, und vor ihm auf stieg die große
weite Welt.


DER ALTE

Der Mond schien nicht mehr in die Fensterscheiben; es war dunkel
geworden; der Alte aber saß noch immer mit gefalteten Händen in seinem
Lehnstuhl und blickte vor sich hin in den Raum des Zimmers.
Allmählich verzog sich vor seinen Augen die schwarze Dämmerung um ihn
her zu einem breiten dunkeln See; ein schwarzes Gewässer legte sich
hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so
fern, daß die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam
zwischen breiten Blättern eine weiße Wasserlilie.
Die Stubentür ging auf, und ein heller Lichtschimmer fiel ins Zimmer.
»Es ist gut, daß Sie kommen, Brigitte,« sagte der Alte. »Stellen Sie
das Licht auf den Tisch!«
Dann rückte er auch den Stuhl zum Tisch, nahm eines der aufgeschlagenen
Bücher und vertiefte sich in Studien, an denen er einst die Kraft
seiner Jugend geübt hatte.
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