Immensee - 2

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gebracht, so kam Reinhard einige Stunden später wieder, um mit
Elisabeth den gemeinschaftlichen Fund zu teilen.
In solcher Absicht trat er eines Nachmittags ins Zimmer, als Elisabeth
am Fenster stand und ein vergoldetes Vogelbauer, das er sonst dort
nicht gesehen, mit frischem Hühnerschwarm besteckte. Im Bauer saß ein
Kanarienvogel, der mit den Flügeln schlug und kreischend nach
Elisabeths Finger pickte. Sonst hatte Reinhards Vogel an dieser Stelle
gehangen.
»Hat mein armer Hänfling sich nach seinem Tode in einen Goldfinken
verwandelt?« fragte er heiter.
»Das pflegen die Hänflinge nicht,« sagte die Mutter, welche spinnend im
Lehnstuhl saß. »Ihr Freund Erich hat ihn heut’ Mittag für Elisabeth von
seinem Hofe hereingeschickt.«
»Von welchem Hofe?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Was denn?«
»Daß Erich seit einem Monat den zweiten Hof seines Vaters am Immensee
[Fußnote: Der See der Immen, d. h. der Bienen.] angetreten hat?«
»Aber Sie haben mir kein Wort davon gesagt.«
»Ei,« sagte die Mutter, »Sie haben sich auch noch mit keinem Worte nach
Ihrem Freunde erkundigt. Er ist ein gar lieber, verständiger junger
Mann.«
Die Mutter ging hinaus, um den Kaffee zu besorgen; Elisabeth hatte
Reinhard den Rücken zugewandt und war noch mit dem Bau ihrer kleinen
Laube beschäftigt.
»Bitte, nur ein kleines Weilchen,« sagte sie; »gleich bin ich fertig.«
Da Reinhard wider seine Gewohnheit nicht antwortete, so wandte sie sich
um. In seinen Augen lag ein plötzlicher Ausdruck von Kummer, den sie
nie darin gewahrt hatte.
»Was fehlt dir, Reinhard?« fragte sie, indem sie nahe zu ihm trat.
»Mir?« sagte er gedankenlos und ließ seine Augen träumerisch in den
ihren ruhen.
»Du siehst so traurig aus.«
»Elisabeth,« sagte er, »ich kann den gelben Vogel nicht leiden.«
Sie sah ihn staunend an, sie verstand ihn nicht. »Du bist so
sonderbar,« sagte sie.
Er nahm ihre beiden Hände, die sie ruhig in den seinen ließ. Bald trat
die Mutter wieder herein. Nach dem Kaffee setzte diese sich an ihr
Spinnrad; Reinhard und Elisabeth gingen ins Nebenzimmer, um ihre
Pflanzen zu ordnen.
Nun wurden Staubfäden gezählt, Blätter und Blüten sorgfältig
ausgebreitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trocknen zwischen die
Blätter eines großen Folianten gelegt.
Es war sonnige Nachmittagsstille; nur nebenan schnurrte der Mutter
Spinnrad, und von Zeit zu Zeit wurde Reinhards gedämpfte Stimme gehört,
wenn er die Ordnungen der Klassen der Pflanzen nannte oder Elisabeths
ungeschickte Aussprache der lateinischen Namen korrigierte.
»Mir fehlt noch von neulich die Maiblume,« sagte sie jetzt, als der
ganze Fund bestimmt und geordnet war.
Reinhard zog einen kleinen weißen Pergamentband aus der Tasche. »Hier
ist ein Maiblumenstengel für dich,« sagte er, indem er die
halbgetrocknete Pflanze herausnahm.
Als Elisabeth die beschriebenen Blätter sah, fragte sie: »Hast du
wieder Märchen gedichtet?«
»Es sind keine Märchen,« antwortete er und reichte ihr das Buch.
Es waren lauter Verse, die meisten füllten höchstens eine Seite.
Elisabeth wandte ein Blatt nach dem andern um; sie schien nur die
Überschriften zu lesen. »Als sie vom Schulmeister gescholten war.« »Als
sie sich im Walde verirrt hatten.« »Mit dem Ostermärchen.« »Als sie mir
zum erstenmal geschrieben hatte;« in der Weise lauteten fast alle.
Reinhard blickte forschend zu ihr hin, und indem sie immer weiter
blätterte, sah er, wie zuletzt auf ihrem klaren Antlitz ein zartes Rot
hervorbrach und es allmählich ganz überzog. Er wollte ihre Augen sehen,
aber Elisabeth sah nicht auf und legte das Buch am Ende schweigend vor
ihn hin.
»Gib mir es nicht so zurück!« sagte er.
Sie nahm ein braunes Reis aus der Blechkapsel. »Ich will dein
Lieblingskraut hineinlegen,« sagte sie und gab ihm das Buch in seine
Hände.
Endlich kam der letzte Tag der Ferienzeit und der Morgen der Abreise.
Auf ihre Bitte erhielt Elisabeth von der Mutter die Erlaubnis, ihren
Freund an den Postwagen zu begleiten, der einige Straßen von ihrer
Wohnung seine Station hatte.
Als sie vor die Haustür traten, gab Reinhard ihr den Arm; so ging er
schweigend neben dem schlanken Mädchen her. Je näher sie ihrem Ziele
kamen, desto mehr war es ihm, er habe ihr, ehe er auf so lange Abschied
nehme, etwas Notwendiges mitzuteilen, etwas, wovon aller Wert und alle
Lieblichkeit seines künftigen Lebens abhänge, und doch konnte er sich
des erlösenden Wortes nicht bewußt werden. Das ängstigte ihn; er ging
immer langsamer.
»Du kommst zu spät,« sagte sie, »es hat schon zehn geschlagen auf St.
Marien.«
Er ging aber darum nicht schneller. Endlich sagte er stammelnd:
»Elisabeth, du wirst mich nun in zwei Jahren gar nicht sehen—wirst du
mich wohl noch eben so lieb haben wie jetzt, wenn ich wieder da bin?«
Sie nickte und sah ihm freundlich ins Gesicht.
»Ich habe dich auch verteidigt;« sagte sie nach einer Pause.
»Mich? Gegen wen hattest du es nötig?«
»Gegen meine Mutter. Wir sprachen gestern abend, als du weggegangen
warst, noch lange über dich. Sie meinte, du seiest nicht mehr so gut,
wie du gewesen.«
Reinhard schwieg einen Augenblick; dann aber nahm er ihre Hand in die
seine, und indem er ihr ernst in ihre Kinderaugen blickte, sagte er:
»Ich bin noch eben so gut, wie ich gewesen bin; glaube du das nur fest!
Glaubst du es, Elisabeth?«
»Ja,« sagte sie.
Er ließ ihre Hand los und ging rasch mit ihr durch die letzte Straße.
Je näher ihm der Abschied kam, desto freudiger war sein Gesicht; er
ging ihr fast zu schnell.
»Was hast du, Reinhard?« fragte sie.
»Ich habe ein Geheimnis, ein schönes!« sagte er und sah sie mit
leuchtenden Augen an. »Wenn ich nach zwei Jahren wieder da bin, dann
sollst du es erfahren.«
Mittlerweile hatten sie den Postwagen erreicht; es war noch eben Zeit
genug. Noch einmal nahm Reinhard ihre Hand. »Leb wohl!« sagte er, »leb
wohl, Elisabeth! Vergiß es nicht!«
Sie schüttelte mit dem Kopf. »Leb wohl!« sagte sie. Reinhard stieg
hinein, und die Pferde zogen an. Als der Wagen um die Straßenecke
rollte, sah er noch einmal ihre liebe Gestalt, wie sie langsam den Weg
zurückging.


EIN BRIEF

Fast zwei Jahre nachher saß Reinhard vor seiner Lampe zwischen Büchern
und Papieren in Erwartung eines Freundes, mit welchem er
gemeinschaftliche Studien übte. Man kam die Treppe herauf. »Herein!« Es
war die Wirtin. »Ein Brief für Sie, Herr Werner!« Dann entfernte sie
sich wieder.
Reinhard hatte seit seinem Besuch in der Heimat nicht an Elisabeth
geschrieben und von ihr keinen Brief mehr erhalten. Auch dieser war
nicht von ihr; es war die Hand seiner Mutter.
Reinhard brach und las, und bald las er folgendes:
»In Deinem Alter, mein liebes Kind, hat noch fast jedes Jahr sein
eigenes Gesicht: denn die Jugend läßt sich nicht ärmer machen. Hier ist
auch manches anders geworden, was Dir wohl erstan weh tun wird, wenn
ich Dich sonst recht verstanden habe. Erich hat sich gestern endlich
das Jawort von Elisabeth geholt, nachdem er in dem letzten Vierteljahr
zweimal vergebens angefragt hatte. Sie hatte sich immer nicht dazu
entschließen können; nun hat sie es endlich doch getan; sie ist auch
noch gar zu jung. Die Hochzeit wird bald sein, und die Mutter wird dann
mit ihnen fortgehen.«


IMMENSEE

Wiederum waren Jahre vorüber.—Auf einem abwärts führenden schattigen
Waldwege wanderte an einem warmen Frühlingsnachmittage ein junger Mann
mit kräftigem, gebräuntem Antlitz.
Mit seinen ernsten dunkeln Augen sah er gespannt in die Ferne, als
erwarte er endlich eine Veränderung des einförmigen Weges, die jedoch
immer nicht eintreten wollte. Endlich kam ein Karrenfuhrwerk langsam
von unten herauf.
»Hollah! guter Freund!« rief der Wanderer dem nebengehenden Bauer zu,
»geht’s hier recht nach Immensee?«
»Immer gerad’ aus,« antwortete der Mann, und rückte an seinem Rundhute.
»Hat’s denn noch weit dahin?«
»Der Herr ist dicht davor. Keine halbe Pfeif’ Tabak, so haben’s den
See; das Herrenhaus liegt hart daran.«
Der Bauer fuhr vorüber; der andere ging eiliger unter den Bäumen
entlang. Nach einer Viertelstunde hörte ihm zur Linken plötzlich der
Schatten auf; der Weg führte an einen Abhang, aus dem die Gipfel
hundertjähriger Eichen nur kaum hervorragten. Über sie hinweg öffnete
sich eine weite, sonnige Landschaft. Tief unten lag der See, ruhig,
dunkelblau, fast ringsum von grünen, sonnenbeschienenen Wäldern
umgeben; nur an einer Stelle traten sie auseinander und gewährten eine
tiefe Fernsicht, bis auch diese durch blaue Berge geschlossen wurde.
Quer gegenüber, mitten in dem grünen Laub der Wälder, lag es wie Schnee
darüber her; das waren blühende Obstbäume, und daraus hervor auf dem
hohen Ufer erhob sich das Herrenhaus, weiß mit roten Ziegeln. Ein
Storch flog vom Schornstein auf und kreiste langsam über dem Wasser.
»Immensee!« rief der Wanderer.
Es war fast, als hätte er jetzt das Ziel seiner Reise erreicht, denn er
stand unbeweglich und sah über die Gipfel der Bäume zu seinen Füßen
hinüber ans andere Ufer, wo das Spiegelbild des Herrenhauses leise
schaukelnd auf dem Wasser schwamm. Dann setzte er plötzlich seinen Weg
fort.
Es ging jetzt fast steil den Berg hinab, so daß die unten stehenden
Bäume wieder Schatten gewährten, zugleich aber die Aussicht auf den See
verdeckten, der nur zuweilen zwischen den Lücken der Zweige
hindurchblitzte. Bald ging es wieder sanft empor, und nun verschwand
rechts und links die Holzung; statt dessen streckten sich dichtbelaubte
Weinhügel am Wege entlang; zu beiden Seiten desselben standen blühende
Obstbäume voll summender wühlender Bienen. Ein stattlicher Mann in
braunem Überrock kam dem Wanderer entgegen. Als er ihn fast erreicht
hatte, schwenkte er seine Mütze und rief mit heller Stimme:
»Willkommen, willkommen, Bruder Reinhard! Willkommen auf Gut Immensee!«
»Gott grüß’ dich, [Fußnote: Dieser Gruß wird besonders in
Suddeutschland gebraucht.] Erich, und Dank für dein Willkommen!« rief
ihm der andere entgegen.
Dann waren sie zu einander gekommen und reichten sich die Hände.
»Bist du es denn aber auch?« sagte Erich, als er so nahe in das ernste
Gesicht seines alten Schulkameraden sah.
»Freilich bin ich’s, Erich, und du bist es auch; nur siehst du fast
noch heiterer aus, als du schon sonst immer getan hast.«
Ein frohes Lächeln machte Erichs einfache Züge bei diesen Worten noch
um vieles heiterer.
»Ja, Bruder Reinhard,« sagte er, diesem noch einmal seine Hand
reichend, »ich habe aber auch seitdem das große Los gezogen; du weißt
es ja.«
Dann rieb er sich die Hände und rief vergnügt: »Das wird eine
Überraschung! Den erwartet sie nicht, in alle Ewigkeit nicht!«
»Eine Überraschung?« fragte Reinhard. »Für wen denn?«
»Für Elisabeth.«
»Elisabeth! Du hast ihr nicht von meinem Besuch gesagt?«
»Kein Wort, Bruder Reinhard; sie denkt nicht an dich, die Mutter auch
nicht. Ich hab’ dich ganz im geheimen verschrieben, damit die Freude
desto größer sei. Du weißt, ich hatte immer so meine stillen Plänchen.«
Reinhard wurde nachdenklich; der Atem schien ihm schwer zu werden, je
näher sie dem Hofe kamen.
An der linken Seite des Weges hörten nun auch die Weingärten auf und
machten einem weitläufigen Küchengarten Platz, der sich bis fast an das
Ufer des Sees hinabzog. Der Storch hatte sich mittlerweile
niedergelassen und spazierte gravitätisch zwischen den Gemüsebeeten
umher.
»Hollah!« rief Erich, in die Hände klatschend, »stiehlt mir der
hochbeinige Ägypter schon wieder meine kurzen Erbsenstangen!«
Der Vogel erhob sich langsam und flog auf das Dach eines neuen
Gebäudes, das am Ende des Küchengartens lag und dessen Mauern mit
aufgebundenen Pfirsich- und Aprikosenbäumen überzweigt waren.
»Das ist die Spritfabrik,« sagte Erich; »ich habe sie erst vor zwei
Jahren angelegt. Die Wirtschaftsgebäude hat mein seliger Vater neu
aussetzen lassen; das Wohnhaus ist schon von meinem Großvater gebaut
worden. So kommt man immer ein bißchen weiter.«
Sie waren bei diesen Worten auf einen geräumigen Platz gekommen, der an
den Seiten durch die ländlichen Wirtschaftsgebäude, im Hintergrunde
durch das Herrenhaus begrenzt wurde, an dessen beide Flügel sich eine
hohe Gartenmauer anschloß; hinter dieser sah man die Züge dunkler
Taxuswände und hin und wieder ließen Syringenbäume ihre blühenden
Zweige in den Hofraum hinunterhängen. Männer mit sonnen- und
arbeitsheißen Gesichtern gingen über den Platz und grüßten die Freunde,
während Erich dem einen oder dem andern einen Auftrag oder eine Frage
über ihr Tagewerk entgegenrief.
Dann hatten sie das Haus erreicht. Ein hoher, kühler Hausflur nahm sie
auf, an dessen Ende sie links in einen etwas dunkleren Seitengang
einbogen.
Hier öffnete Erich eine Tür, und sie traten in einen geräumigen
Gartensaal, der durch das Laubgedränge, welches die gegenüberliegenden
Fenster bedeckte, zu beiden Seiten mit grüner Dämmerung erfüllt war;
zwischen diesen aber ließen zwei hohe, weit geöffnete Flügeltüren den
vollen Glanz der Frühlingssonne hereinfallen und gewährten die Aussicht
in einen Garten mit gezirkelten Blumenbeeten und hohen steilen
Laubwänden, geteilt durch einen geraden, breiten Gang, durch welchen
man auf den See und weiter auf die gegenüberliegenden Wälder hinaussah.
Als die Freunde hineintraten, trug die Zugluft ihnen einen Strom von
Duft entgegen.
Auf einer Terrasse vor der Gartentür saß eine weiße, mädchenhafte
Frauengestalt. Sie stand auf und ging den Eintretenden entgegen; auf
halbem Wege blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den Fremden
unbeweglich an. Er streckte ihr lächelnd die Hand entgegen.
»Reinhard!« rief sie, »Reinhard! Mein Gott, du bist es!—Wir haben uns
lange nicht gesehen.«
»Lange nicht,« sagte er und konnte nichts weiter sagen; denn als er
ihre Stimme hörte, fühlte er einen feinen körperlichen Schmerz am
Herzen, und wie er zu ihr aufblickte, stand sie vor ihm, dieselbe
leichte zärtliche Gestalt, der er vor Jahren in seiner Vaterstadt
Lebewohl gesagt hatte.
Erich war mit freudestrahlendem Antlitz an der Tür zurückgeblieben.
»Nun, Elisabeth?« sagte er; »gelt! den hättest du nicht erwartet, den
in alle Ewigkeit nicht!«
Elisabeth sah ihn mit schwesterlichen Augen an.
»Du bist so gut, Erich!« sagte sie.
Er nahm ihre schmale Hand liebkosend in die seinen. »Und nun wir ihn
haben,« sagte er, »nun lassen wir ihn so bald nicht wieder los. Er ist
so lange draußen gewesen; wir wollen ihn wieder heimisch machen. Schau
nur, wie fremd und vornehm aussehend er worden ist!«
Ein scheuer Blick Elisabeths streifte Reinhards Antlitz. »Es ist nur
die Zeit, die wir nicht beisammen waren,« sagte er.
In diesem Augenblick kam die Mutter, mit einem Schlüsselkörbchen am
Arm, zur Tür herein.
»Herr Werner!« sagte sie, als sie Reinhard erblickte; »ei, ein eben so
lieber als unerwarteter Gast.«
Und nun ging die Unterhaltung in Fragen und Antworten ihren ebenen
Tritt. Die Frauen setzten sich zu ihrer Arbeit, und während Reinhard
die für ihn bereiteten Erfrischungen genoß, hatte Erich seinen soliden
Meerschaumkopf angebrannt und saß dampfend und diskutierend an seiner
Seite.
Am andern Tage mußte Reinhard mit ihm hinaus auf die Äcker, in die
Weinberge, in den Hopfengarten, in die Spritfabrik. Es war alles wohl
bestellt; die Leute, welche auf dem Felde und bei den Kesseln
arbeiteten, hatten alle ein gesundes und zufriedenes Aussehen.
Zu Mittag kam die Familie im Gartensaal zusammen, und der Tag wurde
dann, je nach der Muße der Wirte, mehr oder minder gemeinschaftlich
verlebt. Nur die Stunden vor dem Abendessen, wie die ersten des
Vormittags, blieb Reinhard arbeitend auf seinem Zimmer.
Er hatte seit Jahren, wo er deren habhaft werden konnte, die im Volke
lebenden Reime und Lieder gesammelt und ging nun daran, seinen Schatz
zu ordnen und wo möglich mit neuen Aufzeichnungen aus der Umgegend zu
vermehren.
Elisabeth war zu allen Zeiten sanft und freundlich; Erichs immer
gleichbleibende Aufmerksamkeit nahm sie mit einer fast demütigen
Dankbarkeit auf, und Reinhard dachte mitunter, das heitere Kind von
ehedem habe wohl eine weniger stille Frau versprochen.
Seit dem zweiten Tage seines Hierseins pflegte er abends einen
Spaziergang an den Ufern des Sees zu machen. Der Weg führte hart unter
dem Garten vorbei. Am Ende desselben, auf einer vorspringenden Bastei,
stand eine Bank unter hohen Birken; die Mutter hatte sie die Abendbank
getauft, weil der Platz gegen Abend lag und des Sonnenuntergangs halber
um diese Zeit am meisten benutzt wurde.
Von einem Spaziergange auf diesem Wege kehrte Reinhard eines Abends
zurück, als er vom Regen überrascht wurde. Er suchte Schutz unter einer
am Wasser stehenden Linde, aber die schweren Tropfen schlugen bald
durch die Blätter. Durchnäßt, wie er war, ergab er sich darein und
setzte langsam seinen Rückweg fort.
Es war fast dunkel; der Regen fiel immer dichter. Als er sich der
Abendbank näherte, glaubte er zwischen den schimmernden Birkenstämmen
eine weiße Frauengestalt zu unterscheiden. Sie stand unbeweglich und,
wie er beim Näherkommen zu erkennen meinte, zu ihm hingewandt, als wenn
sie jemanden erwarte.
Er glaubte, es sei Elisabeth. Als er aber rascher zuschritt, um sie zu
erreichen und dann mit ihr zusammen durch den Garten ins Haus
zurückzukehren, wandte sie sich langsam ab und verschwand in den
dunkeln Seitengängen.
Er konnte das nicht reimen; er war aber fast zornig auf Elisabeth, und
dennoch zweifelte er, ob sie es gewesen sei; aber er scheute sich, sie
darnach zu fragen; ja, er ging bei seiner Rückkehr nicht in den
Gartensaal, nur um Elisabeth nicht etwa durch die Gartentür
hereintreten zu sehen.


MEINE MUTTER HAT’S GEWOLLT

Einige Tage nachher, es ging schon gegen Abend, saß die Familie, wie
gewöhnlich um diese Zeit, im Gartensaal zusammen. Die Türen standen
offen; die Sonne war schon hinter den Wäldern jenseits des Sees.
Reinhard wurde um die Mitteilung einiger Volkslieder gebeten, welche er
am Nachmittage von einem auf dem Lande wohnenden Freunde geschickt
bekommen hatte. Er ging auf sein Zimmer und kam gleich darauf mit einer
Papierrolle zurück, welche aus einzelnen sauber geschriebenen Blättern
zu bestehen schien.
Man setzte sich an den Tisch, Elisabeth an Reinhards Seite. »Wir lesen
auf gut Glück,« sagte er, »ich habe sie selber noch nicht
durchgesehen.«
Elisabeth rollte das Manuskript auf. »Hier sind Noten,« sagte sie, »das
mußt du singen, Reinhard.«
Und dieser las nun zuerst einige tiroler Schnaderhüpfel, [Fußnote:
Dialektisch für »Schnitterhüpfen,« d. h. Schnitter-Tänze oder Lieder,
die besonders in Tirol und in Bayern gesungen werden.] indem er beim
Lesen zuweilen die lustige Melodie mit halber Stimme anklingen ließ.
Eine allgemeine Heiterkeit bemächtigte sich der kleinen Gesellschaft.
»Wer hat doch aber die schönen Lieder gemacht?« fragte Elisabeth.
»Ei,« sagte Erich, »das hört man den Dingern schon an,
Schneidergesellen und Friseure und derlei lustiges Gesindel.«
Reinhard sagte: »Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen; sie fallen
aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, [Fußnote: Der
Volksglaube hat dieses feine Gewebe von Feldspinnen immer in Verbindung
mit den Göttern gebracht. Nach Einführung des Christentums wurde es auf
die Jungfrau Maria bezogen: aus dem feinsten Faden soll das
Leichenkleid gewoben worden sein, worin Maria nach ihrem Tod eingehüllt
wurde. Während ihrer Himmelfahrt wäre das Gewebe wieder von ihr
losgebrochen.] hierhin und dorthin und werden an tausend Stellen
zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen
Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten.«
Er nahm ein anderes Blatt: »Ich stand auf hohen Bergen…« [Fußnote: Ein
altes Volkslied von einem schönen aber armen Mädchen, das den jungen
Grafen nicht heiraten konnte, und sich in ein Kloster zurückzog.]
»Das kenne ich!« rief Elisabeth. »Stimme nur an, Reinhard; ich will dir
helfen.«
Und nun sangen sie jene Melodie, die so rätselhaft ist, daß man nicht
glauben kann, sie sei von Menschen erdacht worden; Elisabeth mit ihrer
etwas verdeckten Altstimme dem Tenor sekundierend.
Die Mutter saß inzwischen emsig an ihrer Näherei; Erich hatte die Hände
in einander gelegt und hörte andächtig zu. Als das Lied zu Ende war,
legte Reinhard das Blatt schweigend bei Seite. Vom Ufer des Sees herauf
kam durch die Abendstille das Geläute der Herdenglocken; sie horchten
unwillkürlich; da hörten sie eine klare Knabenstimme singen:
Ich stand auf hohen Bergen
Und sah ins tiefe Tal . . .

Reinhard lächelte: »Hört ihr es wohl? So geht’s von Mund zu Mund.«
»Es wird oft in dieser Gegend gesungen,« sagte Elisabeth.
»Ja,« sagte Erich, »es ist der Hirtenkasper; er treibt die Starken
[Fußnote: Süddialektisch für »die Färsen.«] heim.«
Sie horchten noch eine Weile, bis das Geläute hinter den
Wirtschaftsgebäuden verschwunden war. »Das sind Urtöne,« sagte
Reinhard; »sie schlafen in Waldesgründen; Gott weiß, wer sie gefunden
hat.«
Er zog ein neues Blatt heraus.
Es war schon dunkler geworden; ein roter Abendschein lag wie Schaum auf
den Wäldern jenseits des Sees. Reinhard rollte das Blatt auf, Elisabeth
legte an der einen Seite ihre Hand darauf und sah mit hinein. Dann las
Reinhard:
Meine Mutter hat’s gewollt,
Den andern ich nehmen sollt’:
Was ich zuvor besessen,
Mein Herz sollt’ es vergessen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag’ ich an,
Sie hat nicht wohl getan;
Was sonst in Ehren stünde,
Nun ist es worden Sünde.
Was fang’ ich an!
Für all’ mein’ Stolz und Freud’
Gewonnen hab’ ich Leid.
Ach, wär’ das nicht geschehen,
Ach, könnt’ ich betteln gehen
Über die braune Heid’!

Während des Lesens hatte Reinhard ein unmerkliches Zittern des Papiers
empfunden; als er zu Ende war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl zurück
und ging schweigend in den Garten hinab. Ein Blick der Mutter folgte
ihr. Erich wollte nachgehen; doch die Mutter sagte: »Elisabeth hat
draußen zu tun.« So unterblieb es.
Draußen aber legte sich der Abend mehr und mehr über Garten und See;
die Nachtschmetterlinge schossen surrend an den offenen Türen vorüber,
durch welche der Duft der Blumen und Gesträuche immer stärker
hereindrang; vom Wasser herauf kam das Geschrei der Frösche, unter den
Fenstern schlug eine Nachtigall, tiefer im Garten eine andere; der Mond
sah über die Bäume.
Reinhard blickte noch eine Weile auf die Stelle, wo Elisabeths feine
Gestalt zwischen den Laubgängen verschwunden war; dann rollte er sein
Manuskript zusammen, grüßte die Anwesenden und ging durchs Haus an das
Wasser hinab.
Die Wälder standen schweigend und warfen ihr Dunkel weit auf den See
hinaus, während die Mitte desselben in schwüler Mondesdämmerung lag.
Mitunter schauerte ein leises Säuseln durch die Bäume; aber es war kein
Wind, es war nur das Atmen der Sommernacht.
Reinhard ging immer am Ufer entlang. Einen Steinwurf vom Lande konnte
er eine weiße Wasserlilie erkennen. Auf einmal wandelte ihn die Lust
an, sie in der Nähe zu sehen; er warf seine Kleider ab und stieg ins
Wasser. Es war flach; scharfe Pflanzen und Steine schnitten ihn an den
Füßen, und er kam immer nicht in die zum Schwimmen nötige Tiefe.
Dann war es plötzlich unter ihm weg, die Wasser quirlten über ihm
zusammen, und es dauerte eine Zeitlang, ehe er wieder auf die
Oberfläche kam. Nun regte er Hand und Fuß und schwamm im Kreise umher,
bis er sich bewußt geworden, von wo er hineingegangen war. Bald sah er
auch die Lilie wieder; sie lag einsam zwischen den großen blanken
Blättern.
Er schwamm langsam hinaus und hob mitunter die Arme aus dem Wasser, daß
die herabrieselnden Tropfen im Mondlichte blitzten; aber es war, als ob
die Entfernung zwischen ihm und der Blume dieselbe bliebe; nur das Ufer
lag, wenn er sich umblickte, in immer ungewisserem Dufte hinter ihm. Er
gab indes sein Unternehmen nicht auf, sondern schwamm rüstig in
derselben Richtung fort.
Endlich war er der Blume so nahe gekommen, daß er die silbernen Blätter
deutlich im Mondlicht unterscheiden konnte; zugleich aber fühlte er
sich in einem Netze verstrickt, die glatten Stengel langten vom Grunde
herauf und rankten sich an seine nackten Glieder.
Das unbekannte Wasser lag so schwarz um ihn her, hinter sich hörte er
das Springen eines Fisches; es wurde ihm plötzlich so unheimlich in dem
fremden Elemente, daß er mit Gewalt das Gestrick der Pflanzen zerriß
und in atemloser Hast dem Lande zuschwamm. Als er von hier auf den See
zurückblickte, lag die Lilie wie zuvor fern und einsam über der dunklen
Tiefe.
Er kleidete sich an und ging langsam nach Hause zurück. Als er aus dem
Garten in den Saal trat, fand er Erich und die Mutter in den
Vorbereitungen einer kleinen Geschäftsreise, welche am andern Tage vor
sich gehen sollte.
»Wo sind Sie denn so spät in der Nacht gewesen?« rief ihm die Mutter
entgegen.
»Ich?« erwiderte er; »ich wollte die Wasserlilie besuchen; es ist aber
nichts daraus geworden.«
»Das versteht wieder einmal kein Mensch!« sagte Erich. »Was Tausend
hattest du denn mit der Wasserlilie zu tun?«
»Ich habe sie früher einmal gekannt,« sagte Reinhard; »es ist aber
schon lange her.«


ELISABETH

Am folgenden Nachmittag wanderten Reinhard und Elisabeth jenseits des
Sees bald durch die Holzung, bald auf dem vorspringenden Uferrande.
Elisabeth hatte von Erich den Auftrag erhalten, während seiner und der
Mutter Abwesenheit Reinhard mit den schönsten Aussichten der nächsten
Umgegend, namentlich von der andern Uferseite auf den Hof selber,
bekannt zu machen. Nun gingen sie von einem Punkt zum andern.
Endlich wurde Elisabeth müde und setzte sich in den Schatten
überhängender Zweige; Reinhard stand ihr gegenüber, an einen Baumstamm
gelehnt; da hörte er tiefer im Walde den Kuckuck rufen, und es kam ihm
plötzlich, dies alles sei schon einmal eben so gewesen. Er sah sie
seltsam lächelnd an.
»Wollen wir Erdbeeren suchen?« fragte er.
»Es ist keine Erdbeerenzeit,« sagte sie.
»Sie wird aber bald kommen.«
Elisabeth schüttelte schweigend den Kopf; dann stand sie auf, und beide
setzten ihre Wanderung fort; und wie sie so an seiner Seite ging,
wandte sein Blick sich immer wieder nach ihr hin; denn sie ging schön,
als wenn sie von ihren Kleidern getragen würde. Er blieb oft
unwillkürlich einen Schritt zurück, um sie ganz und voll ins Auge
fassen zu können.
So kamen sie an einen freien, heidebewachsenen Platz mit einer weit ins
Land reichenden Aussicht. Reinhard bückte sich und pflückte etwas von
den am Boden wachsenden Kräutern. Als er wieder aufsah, trug sein
Gesicht den Ausdruck leidenschaftlichen Schmerzes.
»Kennst du diese Blume?« fragte er.
Sie sah ihn fragend an. »Es ist eine Erika. Ich habe sie oft im Walde
gepflückt.«
»Ich habe zu Hause ein altes Buch,« sagte er; »ich pflegte sonst
allerlei Lieder und Reime hineinzuschreiben; es ist aber lange nicht
mehr geschehen. Zwischen den Blättern liegt auch eine Erika; aber es
ist nur eine verwelkte. Weißt du, wer sie mir gegeben hat?«
Sie nickte stumm; aber sie schlug die Augen nieder und sah nur auf das
Kraut, das er in der Hand hielt. So standen sie lange. Als sie die
Augen gegen ihn aufschlug, sah er, daß sie voll Tränen waren.
»Elisabeth,« sagte er,—»hinter jenen blauen Bergen liegt unsere Jugend.
Wo ist sie geblieben?«
Sie sprachen nichts mehr; sie gingen stumm neben einander zum See
hinab. Die Luft war schwül, im Westen stieg schwarzes Gewölk auf. Es
wird gewittern,« sagte Elisabeth, indem sie ihren Schritt beeilte;
Reinhard nickte schweigend, und beide gingen rasch am Ufer entlang, bis
sie ihren Kahn erreicht hatten.
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