Immensee - 1

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Immensee
by Theodor Storm

DER ALTE
DIE KINDER
IM WALDE
DA STAND DAS KIND AM WEGE
DAHEIM
EIN BRIEF
IMMENSEE
MEINE MUTTER HAT’S GEWOLLT
ELISABETH
DER ALTE


DER ALTE

An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann
langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause
zurückzukehren, denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen
Mode angehörten, waren bestäubt. Den langen Rohrstock mit goldenem
Knopf trug er unter dem Arm; mit seinen dunklen Augen, in welche sich
die ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien, und welche
eigentümlich von den schneeweißen Haaren abstachen, sah er ruhig umher
oder in die Stadt hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag.
Er schien fast ein Fremder, denn von den Vorübergehenden grüßten ihn
nur wenige, obgleich mancher unwillkürlich in diese ernsten Augen zu
sehen gezwungen wurde. Endlich stand er vor einem hohen Giebelhause
still, sah noch einmal in die Stadt hinaus und trat dann in die
Hausdiele. Bei dem Schall der Türglocke wurde drinnen in der Stube von
einem Guckfenster, welches nach der Diele hinausging, der grüne Vorhang
weggeschoben und das Gesicht einer alten Frau dahinter sichtbar. Der
Mann winkte ihr mit seinem Rohrstock.
»Noch kein Licht!« sagte er in einem etwas südlichen Akzent, und die
Haushälterin ließ den Vorhang wieder fallen.
Der Alte ging nun über die weite Hausdiele, durch einen Pesel, wo große
eichene Schränke mit Porzellanvasen an den Wänden standen; durch die
gegenüberstehende Tür trat er in einen kleinen Flur, von wo aus eine
enge Treppe zu den obern Zimmern des Hinterhauses führte. Er stieg sie
langsam hinauf, schloß oben eine Tür auf und trat dann in ein mäßig
großes Zimmer. Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast
mit Repositorien und Bücherschränken bedeckt, an den andern hingen
Bilder von Menschen und Gegenden; vor einem Tisch mit grüner Decke, auf
dem einzelne aufgeschlagene Bücher umherlagen, stand ein schwerfälliger
Lehnstuhl mit rotem Samtkissen.
Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er
sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Händen von seinem
Spaziergange auszuruhen.—Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler;
endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde
an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rückte, folgten
die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild
in schlichtem schwarzem Rahmen. »Elisabeth!« sagte der Alte leise; und
wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt: er war in seiner
Jugend.


DIE KINDER

Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen Mädchens zu ihm. Sie hieß
Elisabeth und mochte fünf Jahre zählen, er selbst war doppelt so alt.
Um den Hals trug sie ein rotseidenes Tüchelchen; das ließ ihr hübsch zu
den braunen Augen.
»Reinhard!« rief sie, »wir haben frei, frei! den ganzen Tag keine
Schule, und morgen auch nicht.«
Reinhard stellte die Rechentafel, die er schon unterm Arm hatte, flink
hinter die Haustür, und dann liefen beide Kinder durchs Haus in den
Garten und durch die Gartenpforte hinaus auf die Wiese. Die
unverhofften Ferien kamen ihnen herrlich zustatten. Reinhard hatte hier
mit Elisabeths Hilfe ein Haus aus Rasenstücken aufgeführt; darin
wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte noch die Bank. Nun
ging er gleich an die Arbeit; Nägel, Hammer und die nötigen Bretter
waren schon bereit. Während dessen ging Elisabeth an dem Wall entlang
und sammelte den ringförmigen Samen der wilden Malve in ihre Schürze;
davon wollte sie sich Ketten und Halsbänder machen; und als Reinhard
endlich trotz manches krumm geschlagenen Nagels seine Bank dennoch
zustande gebracht hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging
sie schon weit davon am andern Ende der Wiese.
»Elisabeth!« rief er, »Elisabeth!« und da kam sie, und ihre Locken
flogen. »Komm,« sagte er, »nun ist unser Haus fertig. Du bist ja ganz
heiß geworden; komm herein, wir wollen uns auf die neue Bank setzen.
Ich erzähl’ dir etwas.«
Dann gingen sie beide hinein und setzten sich auf die neue Bank.
Elisabeth nahm ihre Ringelchen aus der Schürze und zog sie auf lange
Bindfäden; Reinhard fing an zu erzählen: »Es waren einmal drei
Spinnfrauen—« [Fußnote: So fängt ein wohlbekanntes Märchen von den
Gebrüdern Grimm an.]
»Ach,« sagte Elisabeth, »das weiß ich ja auswendig; du mußt auch nicht
immer dasselbe erzählen.«
Da mußte Reinhard die Geschichte von den drei Spinnfrauen stecken
lassen, und statt dessen erzählte er die Geschichte von dem armen Mann,
der in die Löwengrube geworfen war.
»Nun war es Nacht,« sagte er, »weißt du? ganz finstere, und die Löwen
schliefen. Mitunter aber gähnten sie im Schlaf und reckten die roten
Zungen aus; dann schauderte der Mann und meinte, daß der Morgen komme.
Da warf es um ihn her auf einmal einen hellen Schein, und als er
aufsah, stand ein Engel vor ihm. Der winkte ihm mit der Hand und ging
dann gerade in die Felsen hinein.«
Elisabeth hatte aufmerksam zugehört. »Ein Engel?« sagte sie: »Hatte er
denn Flügel?«
»Es ist nur so eine Geschichte,« antwortete Reinhard; »es gibt ja gar
keine Engel.«
»O pfui, Reinhard!« sagte sie und sah ihm starr ins Gesicht.
Als er sie aber finster anblickte, fragte sie ihn zweifelnd: »Warum
sagen sie es denn immer? Mutter und Tante und auch in der Schule?«
»Das weiß ich nicht,« antwortete er.
»Aber du,« sagte Elisabeth, »gibt es denn auch keine Löwen?«
»Löwen? Ob es Löwen gibt? In Indien; da spannen die Götzenpriester sie
vor den Wagen und fahren mit ihnen durch die Wüste. Wenn ich groß bin,
will ich einmal selber hin. Da ist es viel tausendmal schöner als hier
bei uns; da gibt es gar keinen Winter. Du mußt auch mit mir. Willst
du?«
»Ja,« sagte Elisabeth; »aber Mutter muß dann auch mit, und deine Mutter
auch.«
»Nein,« sagte Reinhard, »die sind dann zu alt, die können nicht mit.«
»Ich darf aber nicht allein.«
»Du sollst schon dürfen; du wirst dann wirklich meine Frau, und dann
haben die andern dir nichts zu befehlen.«
»Aber meine Mutter wird weinen.«
»Wir kommen ja wieder,« sagte Reinhard heftig; »sag es nur gerade
heraus, willst du mit mir reisen? Sonst geh’ ich allein, und dann komme
ich nimmer wieder.«
Der Kleinen kam das Weinen nahe. »Mach nur nicht so böse Augen,« sagte
sie; »ich will ja mit nach Indien.«
Reinhard faßte sie mit ausgelassener Freude bei beiden Händen und zog
sie hinaus auf die Wiese.
»Nach Indien, nach Indien!« sang er und schwenkte sich mit ihr im
Kreise, daß ihr das rote Tüchelchen vom Halse flog. Dann aber ließ er
sie plötzlich los und sagte ernst:
»Es wird doch nichts daraus werden; du hast keine Courage.«
»Elisabeth! Reinhard!« rief es jetzt von der Gartenpforte. »Hier!
Hier!« antworteten die Kinder und sprangen Hand in Hand nach Hause.


IM WALDE

So lebten die Kinder zusammen; sie war ihm oft zu still, er war ihr oft
zu heftig, aber sie ließen deshalb nicht von einander; fast alle
Freistunden teilten sie: winters in den beschränkten Zimmern ihrer
Mütter, sommers in Busch und Feld.
Als Elisabeth einmal in Reinhards Gegenwart von dem Schullehrer
gescholten wurde, stieß er seine Tafel zornig auf den Tisch, um den
Eifer des Mannes auf sich zu lenken. Es wurde nicht bemerkt. Aber
Reinhard verlor alle Aufmerksamkeit an den geographischen Vorträgen;
statt dessen verfaßte er ein langes Gedicht; darin verglich er sich
selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit einer grauen Krähe,
Elisabeth war die weiße Taube; der Adler gelobte an der grauen Krähe
Rache zu nehmen, sobald ihm die Flügel gewachsen sein würden. Dem
jungen Dichter standen die Tränen in den Augen; er kam sich sehr
erhaben vor. Als er nach Hause gekommen war, wußte er sich einen
kleinen Pergamentband mit vielen weißen Blättern zu verschaffen; auf
die ersten Seiten schrieb er mit sorgsamer Hand sein erstes Gedicht.
Bald darauf kam er in eine andere Schule; hier schloß er manche neue
Kameradschaft mit Knaben seines Alters, aber sein Verkehr mit Elisabeth
wurde dadurch nicht gestört. Von den Märchen, welche er ihr sonst
erzählt und wieder erzählt hatte, fing er jetzt an, die, welche ihr am
besten gefallen hatten, aufzuschreiben; dabei wandelte ihn oft die Lust
an, etwas von seinen eigenen Gedanken hineinzudichten; aber, er wußte
nicht weshalb, er konnte immer nicht dazu gelangen. So schrieb er sie
genau auf, wie er sie selber gehört hatte. Dann gab er die Blätter an
Elisabeth, die sie in einem Schubfach ihrer Schatulle sorgfältig
aufbewahrte; und es gewährte ihm eine anmutige Befriedigung, wenn er
sie mitunter abends diese Geschichtchen in seiner Gegenwart aus den von
ihm geschriebenen Heften ihrer Mutter vorlesen hörte.
Sieben Jahre waren vorüber. Reinhard sollte zu seiner weitern
Ausbildung die Stadt verlassen. Elisabeth konnte sich nicht in den
Gedanken finden, daß es nun eine Zeit ganz ohne Reinhard geben werde.
Es freute sie, als er ihr eines Tages sagte, er werde, wie sonst,
Märchen für sie aufschreiben; er wolle sie ihr mit den Briefen an seine
Mutter schicken; sie müsse ihm dann wieder schreiben, wie sie ihr
gefallen hätten. Die Abreise rückte heran; vorher aber kam noch mancher
Reim in den Pergamentband. Das allein war für Elisabeth ein Geheimnis,
obgleich sie die Veranlassung zu dem ganzen Buche und zu den meisten
Liedern war, welche nach und nach fast die Hälfte der weißen Blätter
gefüllt hatten.
Es war im Juni; Reinhard sollte am andern Tage reisen. Nun wollte man
noch einmal einen festlichen Tag zusammen begehen. Dazu wurde eine
Landpartie nach einer der nahe gelegenen Holzungen in größerer
Gesellschaft veranstaltet. Der stundenlange Weg bis an den Saum des
Waldes wurde zu Wagen zurückgelegt; dann nahm man die Proviantkörbe
herunter und marschierte weiter. Ein Tannengehölz mußte zuerst
durchwandert werden; es war kühl und dämmerig und der Boden überall mit
feinen Nadeln bestreut. Nach halbstündigem Wandern kam man aus dem
Tannendunkel in eine frische Buchenwaldung; hier war alles licht und
grün; mitunter brach ein Sonnenstrahl durch die blätterreichen Zweige;
ein Eichkätzchen sprang über ihren Köpfen von Ast zu Ast.
Auf einem Platze, über welchem uralte Buchen mit ihren Kronen zu einem
durchsichtigen Laubgewölbe zusammenwuchsen, machte die Gesellschaft
Halt. Elisabeths Mutter öffnete einen der Körbe; ein alter Herr warf
sich zum Proviantmeister auf.
»Alle um mich herum, ihr jungen Vögel!« rief er, »und merket genau, was
ich euch zu sagen habe. Zum Frühstück erhält jetzt ein jeder von euch
zwei trockene Wecken; die Butter ist zu Hause geblieben; die Zukost muß
sich ein jeder selber suchen. Es stehen genug Erdbeeren im Walde, das
heißt, für den, der sie zu finden weiß. Wer ungeschickt ist, muß sein
Brot trocken essen; so geht es überall im Leben. Habt ihr meine Rede
begriffen?«
»Ja wohl!« riefen die Jungen.
»Ja, seht,« sagte der Alte, »sie ist aber noch nicht zu Ende. Wir Alten
haben uns im Leben schon genug umhergetrieben; darum bleiben wir jetzt
zu Haus, das heißt, hier unter diesen breiten Bäumen, und schälen die
Kartoffeln und machen Feuer und rüsten die Tafel, und wenn die Uhr
zwölf ist, so sollen auch die Eier gekocht werden.
»Dafür seid ihr uns von euren Erdbeeren die Hälfte schuldig, damit wir
auch einen Nachtisch servieren können. Und nun geht nach Ost und West
und seid ehrlich.«
Die Jungen machten allerlei schelmische Gesichter.
»Halt!« rief der alte Herr noch einmal. »Das brauche ich euch wohl
nicht zu sagen, wer keine findet, braucht auch keine abzuliefern; aber
das schreibt euch wohl hinter eure feinen Ohren, von uns Alten bekommt
er auch nichts. Und nun habt ihr für diesen Tag gute Lehren genug; wenn
ihr nun noch Erdbeeren dazu habt, so werdet ihr für heute schon durchs
Leben kommen.«
Die Jungen waren derselben Meinung und begannen sich paarweise auf die
Fahrt zu machen.
»Komm, Elisabeth,« sagte Reinhard, »ich weiß einen Erdbeerenschlag; du
sollst kein trockenes Brot essen.«
Elisabeth knüpfte die grünen Bänder ihres Strohhuts zusammen und hing
ihn über den Arm. »So komm,« sagte sie, »der Korb ist fertig.«
Dann gingen sie in den Wald hinein, tiefer und tiefer; durch feuchte
Baumschatten, wo alles still war, nur unsichtbar über ihnen in den
Lüften das Geschrei der Falken; dann wieder durch dichtes Gestrüpp, so
dicht, daß Reinhard vorangehen mußte, um einen Pfad zu machen, hier
einen Zweig zu knicken, dort eine Ranke beiseite zu biegen. Bald aber
hörte er hinter sich Elisabeth seinen Namen rufen. Er wandte sich um.
»Reinhard!« rief sie, »warte doch, Reinhard!«
Er konnte sie nicht gewahr werden; endlich sah er sie in einiger
Entfernung mit den Sträuchern kämpfen; ihr feines Köpfchen schwamm nur
kaum über den Spitzen der Farnkräuter. Nun ging er noch einmal zurück
und führte sie durch das Wirrnis der Kräuter und Stauden auf einen
freien Platz hinaus, wo blaue Falter zwischen den einsamen Waldblumen
flatterten. Reinhard strich ihr die feuchten Haare aus dem erhitzten
Gesichtchen; dann wollte er ihr den Strohhut aufsetzen, und sie wollte
es nicht leiden; aber dann bat er sie, und nun ließ sie es doch
geschehen.
»Wo bleiben denn aber deine Erdbeeren?« fragte sie endlich, indem sie
stehen blieb und einen tiefen Atemzug tat.
»Hier haben sie gestanden,« sagte er, »aber die Kröten sind uns
zuvorgekommen oder die Marder oder vielleicht die Elfen.«
»Ja,« sagte Elisabeth, »die Blätter stehen noch da; aber sprich hier
nicht von Elfen. Komm nur, ich bin noch gar nicht müde; wir wollen
weiter suchen.«
Vor ihnen war ein kleiner Bach, jenseits wieder der Wald. Reinhard hob
Elisabeth auf seine Arme und trug sie hinüber. Nach einer Weile traten
sie aus dem schattigen Laube wieder in eine weite Lichtung hinaus.
»Hier müssen Erdbeeren sein,« sagte das Mädchen, »es duftet so süß.
Sie gingen suchend durch den sonnigen Raum; aber sie fanden keine.
»Nein,« sagte Reinhard, »es ist nur der Duft des Heidekrautes.«
Himbeerbüsche und Hülsendorn standen überall durcheinander, ein starker
Geruch von Heidekräutern, welche abwechselnd mit kurzem Grase die
freien Stellen des Bodens bedeckten, erfüllte die Luft.
»Hier ist es einsam,« sagte Elisabeth; »wo mögen die andern sein?«
An den Rückweg hatte Reinhard nicht gedacht.
»Warte nur: woher kommt der Wind?« sagte er und hob seine Hand in die
Höhe. Aber es kam kein Wind.
»Still,« sagte Elisabeth, »mich dünkt, ich hörte sie sprechen. Rufe
einmal dahinunter.«
Reinhard rief durch die hohle Hand. »Kommt hierher!«
»Hierher!« rief es zurück.
»Sie antworteten!« sagte Elisabeth und klatschte in die Hände.
»Nein, es war nichts, es war nur der Widerhall.«
Elisabeth faßte Reinhards Hand. »Mir graut!« sagte sie.
»Nein,« sagte Reinhard, »das muß es nicht. Hier ist es prächtig. Setz
dich dort in den Schatten zwischen die Kräuter. Laß uns eine Weile
ausruhen; wir finden die andern schon.«
Elisabeth setzte sich unter eine überhängende Buche und lauschte
aufmerksam nach allen Seiten; Reinhard saß einige Schritte davon auf
einem Baumstumpf und sah schweigend nach ihr hinüber. Die Sonne stand
gerade über ihnen; es war glühende Mittagshitze; kleine goldglänzende,
stahlblaue Fliegen standen flügelschwingend in der Luft; rings um sie
her ein feines Schwirren und Summen, und manchmal hörte man tief im
Walde das Hämmern der Spechte und das Kreischen der andern Waldvögel.
»Horch,« sagte Elisabeth, »es läutet.«
»Wo?« fragte Reinhard.
»Hinter uns. Hörst du? Es ist Mittag.«
»Dann liegt hinter uns die Stadt, und wenn wir in dieser Richtung
gerade durchgehen, so müssen wir die andern treffen.«
So traten sie ihren Rückweg an; das Erdbeerensuchen hatten sie
aufgegeben, denn Elisabeth war müde geworden. Endlich klang zwischen
den Bäumen hindurch das Lachen der Gesellschaft; dann sahen sie auch
ein weißes Tuch am Boden schimmern, das war die Tafel, und darauf
standen Erdbeeren in Hülle und Fülle. Der alte Herr hatte eine
Serviette im Knopfloch und hielt den Jungen die Fortsetzung seiner
moralischen Reden, während er eifrig an einem Braten herumtranchierte.
»Da sind die Nachzügler,« riefen die Jungen, als sie Reinhard und
Elisabeth durch die Bäume kommen sahen.
»Hierher!« rief der alte Herr, »Tücher ausgeleert, Hüte umgekehrt! Nun
zeigt her, was ihr gefunden habt.«
»Hunger und Durst!« sagte Reinhard.
»Wenn, das alles ist,« erwiderte der Alte und hob ihnen die volle
Schüssel entgegen, »so müßt ihr es auch behalten. Ihr kennt die Abrede;
hier werden keine Müßiggänger gefüttert.«
Endlich ließ er sich aber doch erbitten, und nun wurde Tafel gehalten;
dazu schlug die Drossel aus den Wacholderbüschen.
So ging der Tag hin.—Reinhard hatte aber doch etwas gefunden; waren es
keine Erdbeeren, so war es doch auch im Walde gewachsen. Als er nach
Hause gekommen war, schrieb er in seinen alten Pergamentband:
Hier an der Bergeshalde
Verstummet ganz der Wind;
Die Zweige hängen nieder,
Darunter sitzt das Kind
Sie sitzt im Thymiane,
Sie sitzt in lauter Duft;
Die blauen Fliegen summen
Und blitzen durch die Luft.
Es steht der Wald so schweigend,
Sie schaut so klug darein;
Um ihre braunen Locken
Hinfließt der Sonnenschein.
Der Kuckuck lacht von ferne,
Es geht mir durch den Sinn:
Sie hat die goldnen Augen
Der Waldeskönigin.

So war sie nicht allein sein Schützling, sie war ihm auch der Ausdruck
für alles Liebliche und Wunderbare seines aufgehenden Lebens.


DA STAND DAS KIND AM WEGE

Weihnachtsabend kam heran. Es war noch nachmittags, als Reinhard mit
andern Studenten im Ratskeller [Fußnote: Oder Rathauskeller. In fast
jeder großen Stadt Deutschlands ist der Rathauskeller in ein Speise-
und Bierhaus verwandelt worden.] am alten Eichentisch zusammensaß. Die
Lampen an den Wänden waren angezündet, denn hier unten dämmerte es
schon; aber die Gäste waren sparsam versammelt, die Kellner lehnten
müßig an den Mauerpfeilern. In einem Winkel des Gewölbes saßen ein
Geigenspieler und ein Zithermädchen mit feinen zigeunerhaften Zügen;
sie hatten ihre Instrumente auf dem Schoß liegen und schienen
teilnahmslos vor sich hinzusehen.
Am Studententische knallte ein Champagnerpfropfen. »Trinke, mein
böhmisch Liebchen!« rief ein junger Mann von junkerhaftem Äußern, indem
er ein volles Glas zu dem Mädchen hinüberreichte.
»Ich mag nicht,« sagte sie, ohne ihre Stellung zu verändern.
»So singe!« rief der Junker und warf ihr eine Silbermünze in den Schoß.
Das Mädchen strich sich langsam mit den Fingern durch ihr schwarzes
Haar, während der Geigenspieler ihr ins Ohr flüsterte; aber sie warf
den Kopf zurück und stützte das Kinn auf ihre Zither.
»Für den spiel’ ich nicht,« sagte sie.
Reinhard sprang mit dem Glase in der Hand auf und stellte sich vor sie.
»Was willst du?« fragte sie trotzig.
»Deine Augen sehen.«
»Was geh’n dich meine Augen an?«
Reinhard sah funkelnd auf sie nieder.
»Ich weiß wohl, sie sind falsch!«
Sie legte ihre Wange in die flache Hand und sah ihn lauernd an.
Reinhard hob sein Glas an den Mund.
»Auf deine schönen sündhaften Augen!« sagte er und trank.
Sie lachte und warf den Kopf herum.
»Gib!« sagte sie, und indem sie ihre schwarzen Augen in die seinen
heftete, trank sie langsam den Rest. Dann griff sie einen Dreiklang und
sang mit tiefer leidenschaftlicher Stimme:
Heute, nur heute
Bin ich so schön
Morgen, ach morgen
Muß alles vergeh’n!
Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Soll ich allein!

Während der Geigenspieler in raschem Tempo das Nachspiel einsetzte,
gesellte sich ein neuer Ankömmling zu der Gruppe.
»Ich wollte dich abholen, Reinhard,« sagte er. »Du warst schon fort;
aber das Christkind war bei dir eingekehrt.«
»Das Christkind?« sagte Reinhard, »das kommt nicht mehr zu mir.«
»Ei was! Dein ganzes Zimmer roch nach Tannenbaum und braunen Kuchen.«
Reinhard setzte das Glas aus seiner Hand und griff nach seiner Mütze.
»Was willst du?« fragte das Mädchen.
»Ich komme schon wieder.«
Sie runzelte die Stirn. »Bleib!« rief sie leise und sah ihn vertraulich
an.
Reinhard zögerte. »Ich kann nicht,« sagte er.
Sie stieß ihn lachend mit der Fußspitze. »Geh!« sagte sie, »du taugst
nichts; ihr taugt alle mit einander nichts.« Und während sie sich
abwandte, stieg Reinhard langsam die Kellertreppe hinauf.
Draußen auf der Straße war es tiefe Dämmerung; er fühlte die frische
Winterluft an seiner heißen Stirn. Hier und da fiel der helle Schein
eines brennenden Tannenbaums aus den Fenstern, dann und wann hörte man
von drinnen das Geräusch von kleinen Pfeifen und Blechtrompeten und
dazwischen jubelnde Kinderstimmen. Scharen von Bettelkindern gingen von
Haus zu Haus oder stiegen auf die Treppengeländer und suchten durch die
Fenster einen Blick in die versagte Herrlichkeit zu gewinnen. Mitunter
wurde auch eine Tür plötzlich aufgerissen, und scheltende Stimmen
trieben einen ganzen Schwarm solcher kleinen Gäste aus dem hellen Hause
auf die dunkle Gasse hinaus; anderswo wurde auf dem Hausflur ein altes
Weihnachtslied gesungen; es waren klare Mädchenstimmen darunter.
Reinhard hörte sie nicht, er ging rasch an allem vorüber, aus einer
Straße in die andere. Als er an seine Wohnung gekommen, war es fast
völlig dunkel geworden; er stolperte die Treppe hinauf und trat in
seine Stube. Ein süßer Duft schlug ihm entgegen; das heimelte ihn an,
das roch wie zu Haus der Mutter Weihnachtsstube. Mit zitternder Hand
zündete er sein Licht an; da lag ein mächtiges Paket auf dem Tisch, und
als er es öffnete, fielen die wohlbekannten braunen Festkuchen heraus;
auf einigen waren die Anfangsbuchstaben seines Namens in Zucker
ausgestreut; das konnte niemand anders als Elisabeth getan haben. Dann
kam ein Päckchen mit feiner gestickter Wäsche zum Vorschein, Tücher und
Manschetten, zuletzt Briefe von der Mutter und Elisabeth. Reinhard
öffnete zuerst den letzteren; Elisabeth schrieb:
»Die schönen Zuckerbuchstaben können Dir wohl erzählen, wer bei den
Kuchen mitgeholfen hat; dieselbe Person hat die Manschetten für Dich
gestickt. Bei uns wird es nun am Weihnachtsabend sehr still werden;
meine Mutter stellt immer schon um halb zehn ihr Spinnrad in die Ecke;
es ist gar so einsam diesen Winter, wo Du nicht hier bist.
»Nun ist auch vorigen Sonntag der Hänfling gestorben, den Du mir
geschenkt hattest; ich habe sehr geweint, aber ich hab’ ihn doch immer
gut gewartet.
»Der sang sonst immer nachmittags, wenn die Sonne auf sein Bauer
schien; Du weißt, die Mutter hing so oft ein Tuch über, um ihn zu
geschweigen, wenn er so recht aus Kräften sang.
»Da ist es nun noch stiller in der Kammer, nur daß Dein alter Freund
Erich uns jetzt mitunter besucht. Du sagtest uns einmal, er sähe seinem
braunen Überrock ähnlich. Daran muß ich nun immer denken, wenn er zur
Tür hereinkommt, und es ist gar zu komisch; sag es aber nicht zur
Mutter, sie wird dann leicht verdrießlich.
»Rat, was ich Deiner Mutter zu Weihnachten schenke! Du rätst es nicht?
Mich selber! Der Erich zeichnet mich in schwarzer Kreide; ich habe ihm
dreimal sitzen müssen, jedesmal eine ganze Stunde.
»Es war mir recht zuwider, daß der fremde Mensch mein Gesicht so
auswendig lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter redete mir zu;
sie sagte, es würde der guten Frau Werner eine gar große Freude machen.
»Aber Du hältst nicht Wort, Reinhard. Du hast keine Märchen geschickt.
Ich habe Dich oft bei Deiner Mutter verklagt; sie sagt dann immer, Du
habest jetzt mehr zu tun, als solche Kindereien. Ich glaub’ es aber
nicht; es ist wohl anders.«
Nun las Reinhard auch den Brief seiner Mutter, und als er beide Briefe
gelesen und langsam wieder zusammengefaltet und weggelegt hatte,
überfiel ihn ein unerbittliches Heimweh. Er ging eine Zeitlang in
seinem Zimmer auf und nieder: er sprach leise und dann halbverständlich
zu sich selbst:
Er wäre fast verirret
Und wußte nicht hinaus;
Da stand das Kind am Wege
Und winkte ihm nach Haus.

Dann trat er an sein Pult, nahm einiges Geld heraus und ging wieder auf
die Straße hinab. Hier war es mittlerweile stiller geworden; die
Weihnachtsbäume waren ausgebrannt, die Umzüge der Kinder hatten
aufgehört. Der Wind fegte durch die einsamen Straßen; Alte und Junge
saßen in ihren Häusern familienweise zusammen; der zweite Abschnitt des
Weihnachtsabends hatte begonnen.
Als Reinhard in die Nähe des Ratskellers kam, hörte er aus der Tiefe
herauf Geigenstrich und den Gesang des Zithermädchens; nun klingelte
unten die Kellertür, und eine dunkle Gestalt schwankte die breite, matt
erleuchtete Treppe herauf.
Reinhard trat in den Häuserschatten und ging dann rasch vorüber. Nach
einer Weile erreichte er den erleuchteten Laden eines Juweliers, und
nachdem er hier ein kleines Kreuz mit roten Korallen eingehandelt
hatte, ging er auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder zurück.
Nicht weit von seiner Wohnung bemerkte er ein kleines, in klägliche
Lumpen gehülltes Mädchen an einer hohen Haustür stehen, in vergeblicher
Bemühung, sie zu öffnen. »Soll ich dir helfen?« sagte er. Das Kind
erwiderte nichts, ließ aber die schwere Türklinke fahren. Reinhard
hatte schon die Tür geöffnet. »Nein,« sagte er, »sie könnten dich
hinausjagen; komm mit mir! ich will dir Weihnachtskuchen geben.« Dann
machte er die Tür wieder zu und faßte das kleine Mädchen an der Hand,
das stillschweigend mit ihm in seine Wohnung ging.
Er hatte das Licht beim Weggehen brennen lassen. »Hier hast du Kuchen,«
sagte er und gab ihr die Hälfte seines ganzen Schatzes in ihre Schürze,
nur keine mit den Zuckerbuchstaben. »Nun geh nach Haus und gib deiner
Mutter auch davon.« Das Kind sah mit einem scheuen Blick zu ihm hinauf;
es schien solcher Freundlichkeit ungewohnt und nichts darauf erwidern
zu können. Reinhard machte die Tür auf und leuchtete ihr, und nun flog
die Kleine wie ein Vogel mit ihrem Kuchen die Treppe hinab und zum
Hause hinaus.
Reinhard schürte das Feuer in seinem Ofen an und stellte das bestaubte
Tintenfaß auf seinen Tisch; dann setzte er sich hin und schrieb und
schrieb die ganze Nacht Briefe an seine Mutter, an Elisabeth. Der Rest
der Weihnachtskuchen lag unberührt neben ihm; aber die Manschetten von
Elisabeth hatte er angeknöpft, was sich gar wunderlich zu seinem weißen
Flausrock ausnahm. So saß er noch, als die Wintersonne auf die
gefrorenen Fensterscheiben fiel und ihm gegenüber im Spiegel ein
blasses, ernstes Antlitz zeigte.


DAHEIM

Als es Ostern geworden war, reiste Reinhard in die Heimat. Am Morgen
nach seiner Ankunft ging er zu Elisabeth.
»Wie groß du geworden bist,« sagte er, als das schöne, schmächtige
Mädchen ihm lächelnd entgegenkam. Sie errötete, aber sie erwiderte
nichts; ihre Hand, die er beim Willkommen in die seine genommen, suchte
sie ihm sanft zu entziehen. Er sah sie zweifelnd an, das hatte sie
früher nicht getan; nun war es, als trete etwas Fremdes zwischen sie.
Das blieb auch, als er schon länger dagewesen, und als er Tag für Tag
immer wiedergekommen war. Wenn sie allein zusammensaßen, entstanden
Pausen, die ihm peinlich waren, und denen er dann ängstlich
zuvorzukommen suchte. Um während der Ferienzeit eine bestimmte
Unterhaltung zu haben, fing er an, Elisabeth in der Botanik zu
unterrichten, womit er sich in den ersten Monaten seines
Universitätslebens angelegentlich beschäftigt hatte.
Elisabeth, die ihm in allem zu folgen gewohnt und überdies lehrhaft
war, ging bereitwillig darauf ein. Nun wurden mehrere Male in der Woche
Exkursionen ins Feld oder in die Heide gemacht, und hatten sie dann
mittags die grüne Botanisierkapsel voll Kraut und Blumen nach Hause
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