Im Saal: Novelle

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Paetels
Taschenausgaben
23
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Im Sonnenschein
Drei Sommergeschichten
von
Theodor Storm

Dreizehnte Auflage


Verlag von Gebrüder Paetel
Berlin

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Druck von G. Kreysing in Leipzig
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Meiner Mutter
zum
W e i h n a c h t a b e n d 1854

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IM SAAL.

Am Nachmittag war Kindtaufe gewesen; nun war es gegen Abend. Die Eltern
des Täuflings saßen mit den Gästen im geräumigen Saal, unter ihnen die
Großmutter des Mannes; die andern waren ebenfalls nahe Verwandte, junge
und alte, die Großmutter aber war ein ganzes Geschlecht älter, als die
ältesten von diesen. Das Kind war nach ihr »Barbara« getauft worden;
doch hatte es auch noch einen schöneren Namen erhalten, denn Barbara
allein klang doch gar zu altfränkisch für das hübsche kleine Kind.
Dennoch sollte es mit diesem Namen gerufen werden; so wollten es beide
Eltern, wieviel auch die Freunde dagegen einzuwenden hatten. Die alte
Großmutter aber erfuhr nichts davon, daß die Brauchbarkeit ihres
langbewährten Namens in Zweifel gezogen war.
Der Prediger hatte nicht lange nach Verrichtung seines Amtes den
Familienkreis sich selbst überlassen; nun wurden alte, liebe, oft
erzählte Geschichten hervorgeholt und nicht zum letzten Male wieder
erzählt. Sie kannten sich alle; die Alten hatten die Jungen aufwachsen,
die Ältesten die Alten grau werden sehen; von allen wurden die
anmutigsten und spaßhaftesten Kindergeschichten erzählt; wo kein andrer
sie wußte, da erzählte die Großmutter. Von ihr allein konnte niemand
erzählen; ihre Kinderjahre lagen hinter der Geburt aller andern; die
außer ihr selbst etwas davon wissen konnten, hätten weit über jedes
Menschenalter hinaus sein müssen. — Unter solchen Gesprächen war es
abendlich geworden. Der Saal lag gegen Westen, ein roter Schimmer fiel
durch die Fenster noch auf die Gipsrosen an den weißen, mit
Stukkaturarbeit gezierten Wänden; dann verschwand auch der. Aus der
Ferne konnte man ein dumpfes eintöniges Rauschen in der jetzt
eingetretenen Stille vernehmen. Einige der Gäste horchten auf.
»Das ist das Meer,« sagte die junge Frau.
»Ja,« sagte die Großmutter, »ich habe es oft gehört; es ist schon lange
so gewesen.«
Dann sprach wieder niemand; draußen vor den Fenstern in dem schmalen
Steinhof stand eine große Linde, und man hörte, wie die Sperlinge unter
den Blättern zur Ruhe gingen. Der Hauswirt hatte die Hand seiner Frau
gefaßt, die still an seiner Seite saß, und heftete die Augen an die
krause altertümliche Gipsdecke.
»Was hast du?« fragte ihn die Großmutter.
»Die Decke ist gerissen,« sagte er, »die Simse sind auch gesunken. Der
Saal wird alt, Großmutter, wir müssen ihn umbauen.«
»Der Saal ist noch nicht so alt,« erwiderte sie, »ich weiß noch wohl,
als er gebaut wurde.«
»Gebaut? Was war denn früher hier?«
»Früher?« wiederholte die Großmutter; dann verstummte sie eine Weile und
saß da, wie ein lebloses Bild; ihre Augen sahen rückwärts in eine
vergangene Zeit, ihre Gedanken waren bei den Schatten der Dinge, deren
Wesen lange dahin war. Dann sagte sie: »Es ist achtzig Jahre her; dein
Großvater und ich, wir haben es uns oft nachher erzählt, — die Saaltür
führte dazumal nicht in einen Hausraum, sondern aus dem Hause hinaus in
einen kleinen Ziergarten; es ist aber nicht mehr dieselbe Tür, die alte
hatte Glasscheiben, und man sah dadurch gerade in den Garten hinunter,
wenn man zur Haustür hereintrat. Der Garten lag drei Stufen tiefer, die
Treppe war an beiden Seiten mit buntem chinesischen Geländer versehen.
Zwischen zwei von niedrigem Bux eingefaßten Rabatten führte ein breiter,
mit weißen Muscheln ausgestreuter Steig nach einer Lindenlaube, davor
zwischen zweien Kirschbäumen hing eine Schaukel; zu beiden Seiten der
Laube an der hohen Gartenmauer standen sorgfältig aufgebundene
Aprikosenbäume. — Hier konnte man Sommers in der Mittagsstunde deinen
Urgroßvater regelmäßig auf- und abgehen sehen, die Aurikeln und
holländischen Tulpen auf den Rabatten ausputzend oder mit Bast an weiße
Stäbchen bindend. Er war ein strenger, akkurater Mann mit militärischer
Haltung, und seine schwarzen Augbrauen gaben ihm bei den weißgepuderten
Haaren ein vornehmes Ansehen.
So war es einmal an einem Augustnachmittage, als dein Großvater die
kleine Gartentreppe herabkam; aber dazumalen war er noch weit vom
Großvater entfernt. — Ich sehe es noch vor meinen alten Augen, wie er
mit schlankem Tritt auf deinen Urgroßvater zuging. Dann nahm er ein
Schreiben aus einer sauber gestickten Brieftasche und überreichte es mit
einer anmutigen Verbeugung. Er war ein feiner junger Mensch mit sanften,
freundlichen Augen, und der schwarze Haarbeutel stach angenehm bei den
lebhaften Wangen und dem perlgrauen Tuchrocke ab. — Als dein
Urgroßvater das Schreiben gelesen hatte, nickte er und schüttelte deinem
Großvater die Hand. Er mußte ihm schon gut sein; denn er tat selten
dergleichen. Dann wurde er ins Haus gerufen, und dein Großvater ging in
den Garten hinab.
In der Schaukel vor der Laube saß ein achtjähriges Mädchen; sie hatte
ein Bilderbuch auf dem Schoß, worin sie eifrig las; die klaren goldnen
Locken hingen ihr über das heiße Gesichtchen herab, der Sonnenschein
lag brennend darauf.
›Wie heißt du?‹ fragte der junge Mann.
Sie schüttelte das Haar zurück und sagte: ›Barbara.‹
›Nimm dich in acht, Barbara; deine Locken schmelzen ja in der Sonne.‹
Die Kleine fuhr mit der Hand über das heiße Haar, der junge Mann
lächelte. — Und es war ein sehr sanftes Lächeln. — — ›Es hat nicht
not,‹ sagte er; ›komm, wir wollen schaukeln.‹
Sie sprang heraus: ›Wart, ich muß erst mein Buch verwahren.‹ Dann
brachte sie es in die Laube. Als sie wiederkam, wollte er sie
hineinheben. ›Nein,‹ sagte sie, ›ich kann ganz allein.‹ Dann stellte sie
sich auf das Schaukelbrettchen und rief: ›Nur zu!‹ — und nun zog dein
Großvater, daß ihm der Haarbeutel bald rechts, bald links um die
Schultern tanzte; die Schaukel mit dem kleinen Mädchen ging im
Sonnenschein auf und nieder, die klaren Locken wehten ihr frei von den
Schläfen. Und immer ging es ihr nicht hoch genug! Als aber die Schaukel
rauschend in die Lindenzweige flog, fuhren die Vögel zu beiden Seiten
aus den Spalieren, daß die überreifen Aprikosen auf die Erde
herabrollten.
›Was war das?‹ sagte er und hielt die Schaukel an.
Sie lachte, wie er so fragen könne. ›Das war der Iritsch,‹ sagte sie, ›er
ist sonst gar nicht so bange.‹
Er hob sie aus der Schaukel, und sie gingen zu den Spalieren; da lagen
die dunkelgelben Früchte zwischen dem Gesträuch. ›Dein Iritsch hat dich
traktiert!‹ sagte er. Sie schüttelte mit dem Kopf und legte eine schöne
Aprikose in seine Hand. ›Dich!‹ sagte sie leise.
Nun kam dein Urgroßvater wieder in den Garten zurück. ›Nehm Er sich in
acht,‹ sagte er lächelnd, ›Er wird sie sonst nicht wieder los.‹ Dann
sprach er von Geschäftssachen, und beide gingen ins Haus.
Am Abend durfte die kleine Barbara mit zu Tisch sitzen; der junge
freundliche Mann hatte für sie gebeten. — So ganz, wie sie es gewünscht
hatte, kam es freilich nicht; denn der Gast saß oben an ihres Vaters
Seite; sie aber war nur noch ein kleines Mädchen und mußte ganz unten
bei dem allerjüngsten Schreiber sitzen. Darum war sie auch so bald mit
ihrem Essen fertig; dann stand sie auf und schlich sich an den Stuhl
ihres Vaters. Der aber sprach mit dem jungen Mann so eifrig über Konto
und Diskonto, daß dieser für die kleine Barbara gar keine Augen hatte.
— Ja, ja, es ist achtzig Jahre her; aber die alte Großmutter denkt es
noch wohl, wie die kleine Barbara damals recht sehr ungeduldig wurde und
auf ihren guten Vater gar nicht zum besten zu sprechen war. Die Uhr
schlug zehn, und nun mußte sie gute Nacht sagen. Als sie zu deinem
Großvater kam, fragte er sie: ›Schaukeln wir morgen?‹ und die kleine
Barbara wurde wieder ganz vergnügt. — ›Er ist ja ein alter Kindernarr,
Er!‹ sagte der Urgroßvater; aber eigentlich war er selbst recht
unvernünftig in sein kleines Mädchen verliebt.
Am andern Tage gegen Abend reiste dein Großvater fort.
Dann gingen acht Jahre hin. Die kleine Barbara stand oft zur Winterzeit
an der Glastür und hauchte die gefrorenen Scheiben an; dann sah sie
durch das Guckloch in den beschneiten Garten hinab und dachte an den
schönen Sommer, an die glänzenden Blätter und an den warmen
Sonnenschein, an den Iritsch, der immer in den Spalieren nistete, und
wie einmal die reifen Aprikosen zur Erde gerollt waren, und dann dachte
sie an einen Sommertag, und zuletzt immer nur an diesen einen Sommertag,
wenn sie an den Sommer dachte. — So gingen die Jahre hin; die kleine
Barbara war nun doppelt so alt und eigentlich gar nicht mehr die kleine
Barbara; aber der eine Sommertag stand noch immer als ein heller Punkt
in ihrer Erinnerung. — Dann war er endlich eines Tages wirklich wieder
da.«
»Wer?« fragte lächelnd der Enkel, »der Sommertag?«
»Ja,« sagte die Großmutter, »ja, dein Großvater. Es war ein rechter
Sommertag.«
»Und dann?« fragte er wieder.
»Dann,« sagte die Großmutter, »gab es ein Brautpaar, und die kleine
Barbara wurde deine Großmutter, wie sie hier unter euch sitzt und die
alten Geschichten erzählt. — So weit war's aber noch nicht. Erst gab es
eine Hochzeit, und dazu ließ dein Urgroßvater den Saal bauen. Mit dem
Garten und den Blumen war's nun wohl vorbei; es hatte aber nicht not, er
bekam bald lebendige Blumen zur Unterhaltung in seinen Mittagsstunden.
Als der Saal fertig war, wurde die Hochzeit gehalten. Es war eine
lustige Hochzeit, und die Gäste sprachen noch lange nachher davon. — Ihr,
die ihr hier sitzt, und die ihr jetzt allenthalben dabei sein müßt, ihr
waret freilich nicht dabei; aber eure Väter und Großväter, eure Mütter
und Großmütter, und das waren auch Leute, die ein Wort mitzusprechen
wußten. Es war damals freilich noch eine stille, bescheidene Zeit; wir
wollten noch nicht alles besser wissen, als die Majestäten und ihre
Minister; und wer seine Nase in Politik steckte, den hießen wir einen
Kannegießer, und war's ein Schuster, so ließ man die Stiefeln bei seinem
Nachbar machen. Die Dienstmädchen hießen noch alle Trine und Stine, und
jeder trug den Rock nach seinem Stande. Jetzt tragt ihr sogar
Schnurrbärte, wie Junker und Kavaliere. Was wollt ihr denn? Wollt ihr
alle mitregieren?«
»Ja, Großmutter,« sagte der Enkel.
»Und der Adel und die hohen Herrschaften, die doch dazu geboren sind?
Was soll aus denen werden?«
»Oh — — Adel — —« sagte die junge Mutter und sah mit stolzen,
liebevollen Augen zu ihrem Mann hinauf.
Der lächelte und sagte: »Streichen, Großmutter; oder wir werden alle
Freiherren, ganz Deutschland mit Mann und Maus. Sonst seh' ich keinen
Rat.«
Die Großmutter erwiderte nichts darauf; sie sagte nur: »Auf meiner
Hochzeit wurde nichts von Staatsgeschichten geredet; die Unterhaltung
ging ihren ebenen Tritt, und wir waren ebenso vergnügt dabei, als ihr in
euren neumodischen Gesellschaften. Bei Tische wurden spaßhafte Rätsel
aufgegeben und Leberreime gemacht, beim Dessert wurde gesungen,
›Gesundheit, Herr Nachbar, das Gläschen ist leer‹ und alle die andern
hübschen Lieder, die nun vergessen sind; dein Großvater mit seiner
hellen Tenorstimme war immer herauszuhören. — Die Menschen waren damals
noch höflicher gegeneinander; das Disputieren und Schreien galt in einer
feinen Gesellschaft für sehr unziemlich. — Nun, das ist alles anders
geworden; — aber dein Großvater war ein sanfter, friedlicher Mann. Er
ist schon lange nicht mehr auf dieser Welt; er ist mir weit
vorausgegangen; es wird wohl Zeit, daß ich nachkomme.«
Die Großmutter schwieg einen Augenblick, und es sprach niemand. Nur ihre
Hände fühlte sie ergriffen; sie wollten sie alle noch behalten. Ein
friedliches Lächeln glitt über das alte liebe Gesicht; dann sah sie auf
ihren Enkel und sagte: »Hier im Saal stand auch seine Leiche; du warst
damals erst sechs Jahre alt und standest am Sarg, zu weinen. Dein Vater
war ein strenger, rücksichtsloser Mann. Heule nicht, Junge, sagte er und
hob dich auf den Arm. Sieh her, so sieht ein braver Mann aus, wenn er
gestorben ist. Dann wischte er sich heimlich selbst eine Träne vom
Gesicht. Er hatte immer eine große Verehrung für deinen Großvater
gehabt. Jetzt sind sie alle hinüber; — und heute hab' ich hier im Saal
meine Urenkelin aus der Taufe gehoben, und ihr habt ihr den Namen eurer
alten Großmutter gegeben. Möge der liebe Gott sie ebenso glücklich und
zufrieden zu meinen Tagen kommen lassen.«
Die junge Mutter fiel vor der Großmutter auf die Knie und küßte ihre
feinen Hände.
Der Enkel sagte: »Großmutter, wir wollen den alten Saal ganz umreißen
und wieder einen Ziergarten pflanzen; die kleine Barbara ist auch wieder
da. Die Frauen sagen ja, sie ist dein Ebenbild; sie soll wieder in der
Schaukel sitzen, und die Sonne soll wieder auf goldene Kinderlocken
scheinen; vielleicht kommt dann auch eines Sommernachmittags der
Großvater wieder die kleine chinesische Treppe herab, vielleicht — —«
Die Großmutter lächelte: »Du bist ein Phantast,« sagte sie, »dein
Großvater war es auch.«
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