Im Brauerhause: Novelle - 2

Total number of words is 4559
Total number of unique words is 1351
46.3 of words are in the 2000 most common words
58.2 of words are in the 5000 most common words
63.5 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
seine Söhne sind wahrhaftige Leute!‹
Meine Mutter hatte seine Hand ergriffen; aber er entzog sie ihr und ging
unruhig in der Stube auf und ab. Als jedoch Lorenz Miene machte, sacht
hinauszugehen, zog er seine Uhr und sagte: ›Das hat uns auch um Gottes
Wort gebracht; es ist zu spät, um nun noch in die Kirche zu gehen. Spann
den Braunen vor die Karriole, Lorenz! Ich will gleich selber mit Marx
Sievers sprechen.‹
— — So fuhren sie denn hinaus; und mein Vater hat es uns damals und
auch später oft genug erzählt! ›Unterwegs,‹ sagte er, ›nahm ich Lorenz
Zügel und Peitsche aus der Hand, weil er immer noch zu langsam fuhr;
aber mit unserer Ungeduld ist nichts getan!‹
Als sie endlich vor Marx Sievers großem Haustor hielten und dann mein
Vater in die weite Lohdiele trat, war dort alles tot und still und keine
Menschenseele sichtbar. Nach einer Weile kam eine Magd. ›Sie sind noch
alle in der Kirche,‹ sagte sie, ›des Pastors Sohn, der Student, predigt;
aber es muß bald aus sein.‹ — ›So will ich warten,‹ sagte mein Vater, und
ließ sich die Tür zur Wohnstube öffnen. Aber der junge Gottesmann mußte
einen weiten Weg genommen haben bis zum heiligen Vaterunser. Draußen saß
Lorenz auf der Karriole und klatschte dann und wann mit seiner Peitsche;
drinnen stand mein Vater und studierte die Glasmalerei auf den alten
Fensterscheiben, welche die Belagerung Tönnings durch den General
Steenbock darstellte. ›Wohl hundertmal,‹ sagte er, ›hatte ich schon die
schwedischen Soldaten gezählt, ohne was dabei zu denken, oder doch nur,
um wieviel leichter es sein müßte, in diesem gelben Kriegshaufen mit zu
fechten, als eine Reise zu tun, wie ich sie heute machen mußte.‹
Endlich aber war es draußen auf der Lohdiele lebendig geworden; nach ein
paar mit der Magd gewechselten Worten trat der Bauer mit seinem ältesten
Sohn ins Zimmer. Den Gruß meines Vaters erwiderte er kurz und trocken,
und ging erst an den Türhaken, um seinen Hut daran zu hängen; dann
stemmte er beide Fäuste mit den Knöcheln auf den Tisch und sagte:
›Ihr Fuhrwerk, Herr Ohrtmann, wär' ich am mind'sten vor meiner Tür
vermuten gewesen; aber Sie kommen wohl, um sich das Geld für Ihre letzte
Tonne Bier zu holen?‹
Und bevor mein Vater ihm darauf antworten konnte, fuhr er fort:
›Bin ich Ihnen auch nur einmal einen Sechsling in der Schuld geblieben?
Ich denk' doch nicht! Aber diese letzte Tonne‹ — und dabei schlug er
heftig auf den Tisch — ›die bleib' ich schuldig bis in alle Ewigkeit!
Und wollen Sie mir was, so zitieren Sie mich vor meinen Landvogt; hier
bin ich nicht für Sie zu sprechen!‹
›So hört doch,‹ rief mein Vater; ›ich will kein Geld von Euch; um
dessentwillen bin ich nicht zu Euch gekommen!‹
›So,‹ sagte der Bauer, ›was wollen Sie denn?‹
— ›Ihr hättet's Euch wohl denken können, Sievers; die Leute reden ja,
Ihr hättet was in meinem Bier gefunden, was nicht in der Ordnung ist!‹
Der Bauer lachte. ›Nicht in der Ordnung? Nein, bei dem Teufel! So was
ist nicht in der Ordnung!‹
›Es soll der Daumen von dem Hingerichteten gewesen sein,‹ fuhr mein
Vater fort; ›und ich wollte Euch nur bitten, mich das sehen zu lassen,
was Ihr gefunden habt.‹
›Die Leute reden nicht umsonst,‹ sagte der Bauer, ›das Ding ist drin im
Hahn gesessen; meine Nachbarn haben beide das gesehen.‹
›Nun, so zeigt es jetzt auch mir!‹
›Da hätten Sie früher kommen sollen; ich weiß nicht, wo das Ding
geblieben ist.‹
›Sievers!‹ rief mein Vater, ›so sucht oder lasset suchen; das ist Eure
Schuldigkeit! Denn dieser Finger steht als ein Kläger wider mich auf und
drohet, mich zum armen Mann zu machen; er muß mir Rede stehen, wie er in
mein Gebräu gekommen ist!‹
Aber der Bauer sagte: ›Das ist Ihre Sache, Herr Ohrtmann; ich lass' mein
Bier bei einem anderen holen, und damit hopp und holla!‹
Mein Vater besann sich ein paar Augenblicke, während Marx Sievers seine
Pfeife vom Haken nahm und aus dem zinnernen Tabakskasten stopfte. Als er
schon angezündet hatte und die Rauchwolken trotzig vor sich hinblies,
begann mein Vater wieder: ›Ich hab' doch recht vernommen, Sievers? Ihr
wollt mir diese letzte Tonne nicht bezahlen!‹
— ›Ganz recht, Herr Ohrtmann; ich denk' ich hab' das deutlich genug
gesagt!‹
›Nun, ich verlange das auch nicht; aber wenn Ihr mein Bier nicht
bezahlt, so gehört mir auch der Finger, der darin gewesen ist.‹
Der Bauer stutzte; aber nicht lange, so zog er seinen vollen Lederbeutel
aus der Tasche und zählte das Geld für die Tonne Bier in blanken
Banktalern vor meinem Vater auf den Tisch. ›Nun ist der Finger mein,‹
sagte er, ›und ich tu' damit nach meinem Dünken.‹
Es wäre wohl umsonst gewesen, daß mein Vater das Geld zurückschob, wenn
nicht der Sohn sich jetzt hineingemischt hätte. ›Vater,‹ sagte er, ›soll
ich den Finger holen? Ich mein', er liegt in unserem Nagelkasten.‹
Der Alte brummte etwas in den Bart; aber der Sohn ging hinaus und kam
bald darauf mit einem Kasten voll alten Eisenzeuges wieder in die Stube.
Als er darin umherkramte, gewahrte mein Vater ein gelblichgraues Ding,
das er nicht anders als für den Daumen eines Menschen anerkennen konnte;
zwar schien er dick mit Gest oder, wie es auf Hochdeutsch heißt, mit
Hefe überzogen; aber auch die Form des Nagels war noch deutlich
sichtbar.
›Und das hier,‹ frug er den Bauern, ›habt Ihr in meinem Bier gefunden?‹
›Ich sagt' es schon,‹ versetzte dieser, ›als wir das Letzte aus der
Tonne zapfen wollten, da hat's den Hahn verstopft.‹
›Nun, Marx Sievers, Ihr könnt wohl denken, daß ich mir dies Unheil nicht
selber angerichtet habe! Ihr seid sonst als ein gerechter Mann bekannt,
so bitte ich Euch, fahrt jetzt gleich mit mir zum Bürgermeister und
gebt da Zeugnis, wo und wann Ihr dieses Ding gefunden habt; denn jeder
neue Tag ist mir zu Spott und Schaden!‹
Der Bauer hatte sich bereits in seinen Lehnstuhl niedergelassen. ›Ins
Gericht, Herr Ohrtmann? Zum Bürgermeister? — Ja, wenn meine eigene
Obrigkeit mir das befiehlt; sonst nicht. Ich habe Spott und Schaden auch
in meinem Haus; meine Frau ist heut noch krank vor lauter Abscheu!‹
Mein Vater mußte sich das alles bieten lassen; denn der Finger lag
leibhaftig vor ihm, und die Sievers waren als wahrhaftige Leute überall
bekannt; er stand, wie er selber sagte, da als ein geschlagener Mann.
Endlich wurde dennoch ein Abkommen getroffen; der Sohn durfte das
unheimliche Ding in eine Schachtel packen und damit und mit meinem Vater
in die Stadt zum Bürgermeister fahren.
— — Daß dies geschehen war, aber von weiterem auch nichts, erfuhren
wir zu Hause schon durch Lorenz, der zu Fuße wieder ankam, während wir
noch immer mit dem Mittag warteten und vor Angst und Spannung nicht
wußten, wie wir unsere Zeit verbringen sollten.
Endlich kam unser Vater, und ich sah, wie seine Hand zitterte, als er
die unserer Mutter drückte und lange in der seinen hielt. ›Übermorgen,‹
sagte er, ›soll ich wieder zum Bürgermeister kommen. Wenn es doch erst
übermorgen wäre!‹
Als er sich dann nicht an den gedeckten Tisch, sondern an dem kalten
Ofen in den Lehnstuhl gesetzt hatte, standen wir alle um ihn her, bis er
endlich zu erzählen anhub. — In dem Studierzimmer des Bürgermeisters,
als er mit dem jungen Sievers dorthin kam, war eben der alte, lustige
Apotheker Hennings zugegen gewesen. Der hatte geraten, den Finger erst
ein paar Tage in Spiritus zu setzen, damit sich der Überzug von Hefe
löse und dann gründlich untersucht werden könne, ob er zu der Hand des
Hingerichteten gehöre oder nicht. Nach der Zustimmung des Bürgermeisters
war er selbst nebenan in seine Apotheke gelaufen und bald mit einem
vollen Glashafen zurückgekommen. Sehr genau hatte er hierauf den Finger
besehen, daran gerieben und geschabt und ihn um und um gewandt. ›Aber
ein wunderlicher Kauz,‹ sagte mein Vater, ›ist der alte Hennings doch;
denn er schmunzelte dabei, als ob er einen Allerweltsspaß in den Händen
drehe!‹ — ›Man sollte kaum meinen,‹ hatte er zuletzt gesagt und dabei
meinen Vater ganz listig durch seine runden Brillengläser angesehen,
›daß Peter Liekdoorn bei seinen Lebzeiten mit diesem Daumen allzuviel
Hühneraugen hätte operieren können!‹
Weiteres war aus ihm nicht herauszubringen gewesen; aber übermorgen
sollte mein Vater wieder zum Bürgermeister kommen. Der Finger war in
den mit Spiritus gefüllten Glashafen getan und dieser, nachdem man ihn
mit dem Gerichtspetschaft versiegelt hatte, in dem großen Aktenschrank
verschlossen worden. — —
Nun, es wurde denn auch übermorgen; — langsam genug. — Um elf Uhr
vormittags ging mein Vater aus dem Hause. Während meine Mutter und ich
uns durch Putzen und Scheuern die Angst von der Seele wegzuarbeiten
suchten, kam unsere alte Krautfrau zu uns in die Küche und erzählte,
Peter Liekdoorn habe heute nacht in der Bürgermeisterei ans Fenster
geklopft; denn er habe seinen Daumen wieder haben wollen, der jetzt dort
in dem großen Schrank verschlossen liege. ›Letzten Sonntag,‹ sagte sie,
›haben die Diebe ihn über die Türschwelle dem Bürgermeister in das Haus
geschoben, weil sie vor dem Gespenste keine Nacht mehr Ruhe hatten; aber
heut vormittag ist groß' Verhör, und dann kommt alles an den Tag; und
hernach mögen alle Reu' und Leid geben, die so ihre bösen Mäuler über
unseren Herrn Ohrtmann haben laufen lassen! Gott soll mich bewahren, daß
ich an so was nur gedacht hätte!‹
Ich seh' das alte dumme Weib noch vor mir,« sagte unsere treffliche
Wirtin, »wie sie das alles wie Kraut und Rüben durcheinander wälschte;
Gott weiß, wo sie es sich aufgesammelt hatte! Wir freuten uns nur, da
sie endlich fort war und wir wieder, wie am Sonntag, hangend und
bangend allein beieinander in der Stube saßen.
Da endlich hörten wir die Haustür gewaltsam aufreißen.
›Das ist Christian!‹ sagte meine Mutter. ›Was wird der wieder zu
erzählen haben!‹ Aber es war unser Vater, dem freilich Christian mit
seiner Rechentafel auf dem Fuße folgte.
›Nun,‹ rief meine Mutter, ›haben sie gestanden? Sind die Diebe
festgenommen?‹
Aber er schüttelte den Kopf und schwenkte, ganz außer Atem, ein
beschriebenes Papier in seiner Hand. ›Mutter, Kinder!‹ rief er endlich,
›es ist lauter Dunst gewesen; nun wird alles wieder gut! Aber dem alten
Hennings, dem Mann hätt' ich die Füße küssen mögen! Und das, das hier —
das kommt ins Wochenblatt!‹ Seine Augen glänzten, seine Stimme bebte;
uns war, als ob er alles durcheinanderspräche. Aber dann gab er mir das
Blatt und sagte: ›Lies, Nane; aber laut und deutlich! Siehst du, des
Bürgermeisters Name steht darunter, und das Siegel ist auch dabei
gedrückt!‹
Und dann las ich, und noch heute weiß ich jedes Wort; denn uns allen
war, als ob eine Himmelsbotschaft in unser dunkles Haus gekommen wäre.
›Wenn‹ — so stand da — ›einer unserer geachtetsten Mitbürger, der
Brauer Josias Christian Ohrtmann, durch unbedachte Zungen in Verdacht
geraten, als ob der von dem Körper des hierselbst hingerichteten armen
Sünders abhanden gekommene Finger sich in seinem Biere vorgefunden, so
wird zur Steuer der Wahrheit, und um unverdienten Schaden von einem
ehrenwerten Manne abzuwenden, hierdurch bekannt gegeben, daß nach
sorgsamer, durch den hiesigen Herrn Apotheker Hennings unter Zuziehung
der Behörde vorgenommener Untersuchung der Verdacht erregende Gegenstand
sich lediglich als eine verhärtete Gest- oder Hefemasse herausgestellt,
welche durch besondere Zufälligkeiten die Form eines menschlichen
Daumens angenommen hatte.‹
So lautete der Inhalt Wort für Wort,« sagte die Erzählerin; »wer sollte
so was auch vergessen können! Mein Vater aber hatte plötzlich seine
Hände vor der Brust gefaltet. ›Mutter! Kinder!‹ sagte er ruhig, ›Gott
ist barmherzig und ein Gott der Liebe! Er prüfet wohl, doch er verlässet
keinen, der in seiner Schwachheit gerecht vor ihm zu wandeln trachtet.‹
Und dann betete er laut; ich habe niemals ein so heißes Dankgebet aus
eines Menschen Munde gehört. Meine vierzehnjährige Schwester war auf die
Knie gesunken und sprach ebenso laut die Worte nach, die über seine
Lippen strömten.
Auf unseren Christian aber hatte die Freudenbotschaft auch noch eine
andere Wirkung. Als wir noch alle schweigend um unseren Vater standen,
bemerkte ich auf einmal, daß er wiederholt mit der doppelten Faust als
wie zur Übung in die leere Luft hineinschlug.
›Christian! Christian!‹ rief unsere Mutter, ›was treibst du da für
Faxen?‹
Christian tat erst noch einen Lufthieb und schaute dabei sehr fröhlich
aus seinem heut ganz braun und blauen Angesicht. ›Verdamm mich, Mutter!‹
sagte er, denn er fluchte wirklich mitunter ganz gotteslästerlich;
›verdamm mich, Mutter! Nun sollen die Jungens aber Prügel haben!‹
›Pfui, schäm dich!‹ rief sie. ›In solchem Augenblick an so was nur zu
denken!‹
Er ließ zwar etwas beschämt den Kopf hängen, dann aber murmelte er: ›Ja,
Mutter, verdamm mich! Sie sollen es aber doch!‹ Und geschwinde tat er
noch einmal einen Fausthieb durch die Luft.
Mein Vater, der dergleichen sonst nicht leiden konnte, strich heute
seinem hitzköpfigen Knaben nur lächelnd übers Gesicht; er war zu
glücklich, um jetzt ein tadelndes Wort zu sprechen.
›Hole mir lieber unseren Lorenz, Christian,‹ sagte er, ›damit wir auch
ihm den Stein von seinem Herzen nehmen!‹
Und dann wurde Lorenz geholt; und ich las noch einmal. Als ich fertig
war, standen dem alten Menschen die Augen dick voll Tränen.
›Sehen Sie wohl, Herr!‹ sagte er und schlug sich leise mit der Hand
gegen seine Brust:
›Lorenz Hansen is mein Nam';
Gott hilf, daß ich in'n Himmel kam!‹
›Amen,‹ sagte mein Vater. Dann wurde Christian mit dem Schriftstück in
die Druckerei geschickt.
— Als wir später bei unserem Nachmittagskaffee saßen, bemerkte ich, daß
unser Vater einige Male ganz schelmisch nach seinem Pfeifenbrett
hinüberblinzelte. ›Was meinst du, Nane,‹ sagte er heiter, ›wenn du mir
heut einmal den großen Meerschaum stopftest?‹ — Ich war fast
verwundert; denn da er das Rauchen eigentlich nur für reiche Leute
schicklich hielt, so erlaubte er sich sonst nie vor Feierabend seine
Pfeife Portoriko; die silberbeschlagenen Meerschaumköpfe aber, die beide
sorgsam mit einem Seidentuch umwunden waren, die kamen stets nur
Sonntags von der Wand. Als ich dessen ungeachtet jetzt die schöne Pfeife
stopfte, nickte er mir freundlich zu: ›Und nun geh auch in die Küche,‹
fuhr er fort, ›und brenn sie mir selber an; und wenn du das getan hast,
dann hole den Kalender und ziehe unter diesen Tag mit deinem Rotstift
einen breiten Strich! Unser Wandsbecker Bote hat so viel Haus- und
Jahresfeste; nun haben auch wir eines! Und wenn der Tag sich jährt, dann
vergiß niemals, mir schon beim Kaffee meinen großen Meerschaumkopf zu
stopfen!‹
— Unser Vater war wohl kein schöner Mann, er hatte nur seine treuen,
blauen Augen; aber an diesem Tage, und wie er so seelenfroh aus seinem
Meerschaum rauchte, fanden meine Schwester und ich ihn beide so hübsch,
daß wir gegenseitig ihn uns immer wieder zeigen mußten.«
Die alte Dame schwieg, als ob ihre Erzählung hier zu Ende sei; mir aber
war, als sei das eigentliche Ziel derselben noch von ihr zurückgehalten.
»Und weiter?« frug ich nach einer Weile, da auch niemand anders sprach.
»Weiter?« rief eine muntere Frau an meiner Seite. »Was wollen Sie noch
weiter? Ende gut, alles gut! Es war ja alles nur um nichts gewesen!«
Ich sah auf unsere Wirtin, deren sonst so heitere Augen jetzt mit einem
durchdringenden Blick auf die Sprecherin gerichtet waren. »Da haben Sie
recht,« sagte sie; »es war alles nur um nichts.«
»Aber die Kundschaft,« frug ich, »sie kam jetzt doch wieder? Und in der
nächsten Erntezeit mußte die flinke Nane vor all den durstigen Krügen
und Gemäßen doch wieder auf den Tritt, und von dem Tritt aufs Fenster
flüchten?«
Die alte Dame tat einen tiefen Atemzug. »Nein,« sagte sie, »so etwas ist
niemals wieder vorgekommen; in der Erntezeit des folgenden Jahres
passierte etwas anderes, das ich gleichfalls nie vergessen werde. Nein,
die Kundschaft, wie wir sie früher hatten, kam nicht wieder, obgleich es
an redlichem Willen im Hause und an Bemühungen gutherziger Freunde
nicht gefehlt hat. Der alte Hennings, wenn die Bauern in seine Apotheke
kamen, ließ nicht ab, ihnen die Geschichte von dem Gestfinger und die
Güte des Ohrtmannschen Bieres zu verdeutschen; und zuweilen kam er
selber mit einer so eroberten Bestellung angelaufen; aber Marx Sievers
nebst seinem ganzen Dorfe hat niemals wieder unseren Hof betreten;
vielleicht — ich hab' das später mehr erfahren — weil er dem sich zu
begegnen scheute, gegen den er sich im Unrecht wußte. — Die Geschichte
wurde weit und breit bekannt; aber nur der arge Teil davon fand Glauben!
Wenn auswärts Freunde unser Bier empfahlen, so hieß es jetzt wohl:
›Ohrtmann? Ohrtmann? Ist das nicht der Mann, der den Finger in seinem
Biere hatte?‹ Und wurde dann auch der ganze Dunst ersichtlich
aufgeklärt, es hieß am Ende doch: ›Man braucht ja eben nicht vor diese
Tür zu gehen; es gibt ja andere noch, bei denen gutes Bier zu haben
ist!‹
Dergleichen kam uns oft genug zu Ohren. Ja, ein verkommener
Winkelschreiber, ein Altersgenosse meines Vaters, wagte es sogar, ihm
seine Hilfe anzubieten und zutraulich dabei zu äußern, die zwölf
Wochenblattzeilchen hätten ihm wohl einen schönen Haufen Geld gekostet;
aber das brauche man ja keinem auf die Nas' zu binden.
Es mochte nicht viel helfen, daß mein Vater den miserablen Kerl zur
Türe hinauswarf; es wurde vielleicht nur um desto mehr geglaubt.
›Der sprach für viele!‹ sagte mein Vater, als er uns voll Entrüstung das
erzählte. Sonst habe ich ihn niemals klagen hören; er war nur stiller,
als er sonst gewesen, und es kam mir oft vor, als ob ein heißes
Dankgebet ihm die Seele drücke. Dagegen bemerkte ich, daß er, zumal an
Markttagen, jetzt öfter aus dem Brauhaus auf den Weg hinaustrat; nicht
als ob dort die Wagen nach dem roten Dach jetzt weniger als sonst
vorbeigefahren wären; aber es war, als triebe ihn etwas hinaus, daß er
sie alle zählen müsse.
Meine Mutter vermochte das Unglück und die Entbehrungen, die es mit sich
brachte, nicht immer so geduldig zu ertragen; das fühlten nicht bloß wir
Kinder; sie konnte mitunter sogar dahingeraten, ihrem guten Manne die
Schuld des ganzen Unheils beizumessen; und immer kam sie dann auf die
schon früher getadelte Nachsicht, womit er das abergläubische Getue
seines Knechts geduldet habe. ›Ich lass' es mir nicht nehmen,‹ sagte sie
eines Abends, ›hättest du ihm nur das Salzen und Bekreuzen ausgetrieben,
die Leute wären nimmer auf das Stück gekommen, den dummen Finger in
unserem Bier zu suchen! Aber konnte er den einen Hokuspokus machen,
warum denn nicht den anderen? Und warum nicht heute oder morgen wieder
einen anderen?‹
Für gewöhnlich ging derartiges, da mein Vater seine kleine, heftige Frau
immer bald wieder ins Gleiche brachte, ohne weitere Spur vorüber. Das
aber sollte diesmal nicht so sein. Es war eben vor dem Abendessen, und
beide standen schon an ihren Stühlen, wobei sie die Stubentür im Rücken
hatten; nur ich hatte gesehen, wie diese sich auftat und Lorenz, im
Begriff hereinzutreten, plötzlich stehen blieb, eben als meine Mutter
jenen wohl nicht ganz unbegründeten Vorwurf aussprach. Bevor ich mich in
meinem Schrecken noch besann, hatte schon die Tür sich wieder leis
geschlossen; dann kamen die Kinder und die Magd herein; aber Lorenz
mußte erst durch Christian gerufen werden.
Noch heute danke ich meinem Schöpfer, daß ich damals meinen Eltern
nichts verraten habe; denn von nun an war Lorenz wie verwandelt: vor den
Gebinden, die im Hausflur lagen oder hinten vor seiner Braupfanne oder
auch nur vor einem Tisch oder Stuhl im Hause, konnte er lange mit
starren Augen stehen bleiben; ging er aber fort, so sah ich mehrmals,
wie er mit der Faust sich über beide Augen fuhr.
›Was mag denn Lorenz fehlen?‹ hörte ich eines Abends meine Mutter
fragen, die sonst dem alten Manne herzlich gut war. ›Er geht ja umher,
als ob er über schwere Dinge brüte.‹
Mein Vater schüttelte den Kopf. ›Ich denke nichts weiter, als uns
anderen auch; du weißt, er trägt an unseren Sorgen allzeit schwerer als
an seinen eigenen.‹
Aber am anderen Morgen trat Lorenz vor ihn hin und bat um seinen
Abschied; er wisse einen jungen Menschen, der sogleich an seine Stelle
treten könne. Mein Vater äußerte nachher, ihm sei gewesen, als ob sein
altes Erbhaus über ihm zusammenbräche. Doch Lorenz wollte sich nicht
halten lassen.
›Ich habe mich mit meinem Gott beraten.‹ Auf alle Fragen hatte er nur
diese eine Antwort; er mochte fürchten, sonst nicht stark genug zu sein.
Und so ging er denn, nachdem er über ein Menschenalter dagewesen war;
wie er sagte, um einer verwitweten Schwester, die in einem entfernten
Dorfe wohnte, in ihrer kleinen Bauernwirtschaft beizustehen. — Aber er
hatte die Trennung doch nicht überwinden können; durch Aufkäufer, die im
Lande herumreisten, kamen bald wunderliche Nachrichten von dorther; und
kurz vor Weihnachten mußten wir erfahren, daß unser alter Lorenz als
Geisteskranker in die Landesanstalt aufgenommen sei.
Das waren trübe Festtage; einen Weihnachtsbaum ohne Lorenz hatten wir
Kinder uns ohnehin nicht denken können. Ich allein wußte, weshalb er das
Haus verlassen hatte, in dem allein noch seine Heimat war, und ich trug
schwer daran; denn sein Opfer war umsonst gewesen. Mein Vater plagte
sich mit dem jungen Knecht, aber die Kundschaft besserte sich nicht; es
hatte nicht mehr geholfen, als die tapferen Kämpfe, die unser Christian
unermüdlich für die gute Sache ausfocht.
So ging der Winter zu Ende, und so kam der neue Sommer und endlich auch
die Erntezeit. Nur für uns war sie es nicht.
Wir hatten schon die letzten Tage im August. Unsere zwei Stock hohe
Außendiele kam mir so groß und einsam vor, seitdem nicht jeden
Augenblick die Haustürglocke läutete; dennoch konnte ich es nicht
lassen, wenn die altgewohnte Verkaufszeit heranrückte, mich dort
aufzuhalten, um meistens müßig durchs Fenster auf die Straße
hinauszustarren. — So stand ich auch eines Vormittags; es waren kalte,
trübe Tage eingefallen, und von dem Lindenbaum, der hier vor dem Fenster
stand, wehten schon einzelne gelbe Blätter. Ich merkte wohl, daß mein
Vater neben mich getreten war; aber ich rührte mich nicht; wir sahen
beide, wie die Blätter niederwehten, und mochten beide wohl dieselben
Gedanken haben.
Da ging draußen ein halb bäuerlich gekleideter Mann mit einem
sogenannten Quäkerhut vorüber; er schien ein Fremder, aber dennoch war
mir, als müßte ich ihn schon gesehen haben. Bevor ich mich jedoch
darüber noch besinnen konnte, bemerkte ich eine hastige Bewegung an
meinem Vater, und als ich aufblickte, sah ich, daß er den Mund fest
geschlossen hatte; aber ich sah auch, wie seine Lippen zitterten.
›Vater,‹ sagte ich, ›fehlt dir etwas? Wer war doch der Mann?‹
Aber er drückte nur heftig meine Hand und ging dann, ohne ein Wort zu
sagen, nach dem Hof hinaus. Es war, als wenn uns alles jetzt zum
Schrecken werden sollte.
Endlich schlug es wieder einmal elf auf unserer Dielenuhr, und ich ging
in die Stube und setzte mich an meine Näharbeit. Eben als auch meine
Mutter aus der Küche hereintrat, läutete es von der Haustür, und als ich
durchs Guckfenster auf den Flur hinaussah, da war es der Fremde von
vorhin. Ich erkannte ihn jetzt wohl; es war ein Hopfenhändler aus
Franken, der um diese Zeit zu kommen pflegte, um neue Bestellungen
entgegenzunehmen und sein Geld für die alte Ware einzukassieren; er
hatte vor zwei Jahren sogar einen Abend bei uns zugebracht. — ›Geh,‹
sagte meine Mutter; ›hole deinen Vater und sag ihm, daß Herr Abel da
sei.‹«
Die alte Dame machte eine Pause. »Ich glaube,« sagte sie dann, »dem
Angedenken meines seligen Vaters nicht zu nahe zu treten, wenn ich auch
dies Wenige noch erzähle; denn wo wäre der Mensch, der der Not des
Lebens in jedem Augenblicke standgehalten hätte! —
Herr Abel hatte sich gesetzt; ich ging ins Brauhaus, weil ich dachte,
daß mein Vater dort beschäftigt sei; aber er war nicht dort. Auf dem
Rückwege begegnete mir der neue Knecht, auch er wußte nichts; er war im
Keller bei der Gerste gewesen; vielleicht, meinte er, sei der Herr
hinten auf den Weg hinausgetreten. Ich kehrte deshalb noch einmal wieder
um; aber da ich auch dort ihn nicht gewahren konnte, lief ich ins Haus
zurück. Ich suchte im Pesel und in allen Stuben, stieg halb die
Bodentreppe hinauf und rief, so laut ich konnte: ›Vater! Vater!‹ Aber es
war alles um sonst.
›Vater muß ausgegangen sein,‹ sagte ich, als ich wieder in die Stube
trat.
›Ei was!‹ rief meine Mutter. ›Dort, hängt ja sein Hut am Türhaken; Ihr
Kinder versteht nur nicht zu suchen!‹
Damit ging sie zur Stube hinaus, und ich hörte sie im Hause und vom Hof
her rufen. Aber auch sie kam kopfschüttelnd zurück. ›Ich kann das nicht
begreifen,‹ sagte sie.
Herr Abel stand auf. Es habe keine Eile, er solle jetzt noch weiter nach
dem Norden; aber um drei Wochen werde er auf hier zurückkommen; er könne
ja auch dann seine Geschäfte mit Herrn Ohrtmann regulieren.
Ich weiß nicht, weshalb; aber als der Mann das sagte, war mir, als wisse
ich jetzt alles, was noch kommen müsse.
— — Ein paar Minuten, nachdem er fortgegangen war, trat mein Vater in
das Zimmer.
›Wo bleibst du denn, Josias,‹ rief meine Mutter. ›Herr Abel ist eben
dagewesen; wir haben dich durchs ganze Haus gerufen!‹
›Ich weiß das,‹ erwiderte er — und es war gar nicht, als ob das seine
Stimme wäre — ›ich habe es gehört; ich hatte den Mann auch kommen
sehen.‹
Meine Mutter starrte ihn an. ›Was sagst du, Josias? — Mein Gott, und
wie du aussiehst!‹
Ich bemerkte das nun auch; sein Haar und seine
Kleider waren ganz bedeckt mit Staub und Spinngeweben.
›So sprich doch!‹ rief meine Mutter wieder. ›Um Gottes willen, Josias,
was ist geschehen? Wo bist du gewesen?‹
Da riß mein Vater uns mit beiden Armen an sich und drückte uns heftig
gegen seine Brust. ›Mutter! — Nane!‹ er sprach leise, aber hastig, als
ob er es von sich stoßen müsse — ›Ich hatte mich versteckt! — Es war
das erstemal, daß ich nicht zahlen konnte!‹
Er wollte weiter sprechen; aber der starke Mann brach in lautes
Schluchzen aus.
Meine Mutter hatte ihre Arme sanft um seinen Hals gelegt; mein junger
Kopf aber war vor Schrecken über das Gehörte ganz von Sinnen; ich
klammerte mich mit beiden Händen an meines Vaters Arm, denn mir war, als
müßten wir jetzt alle fort ins Elend wandern. Da hörte ich seine Stimme
und fühlte seine Hand auf meinem Kopfe: ›Laß, Nane!‹ sagte er ruhig;
›hole mir den anderen Rock, mein Kind. Herr Abel wird noch in der Stadt
sein, ich will jetzt zu ihm gehen.‹
Wie betäubt tat ich, was er mir befohlen hatte; dann lief ich in die
Küche und setzte mich in einen dunklen Winkel. Erst als ich meines
Vaters Schritte über den Hausflur und dann gleich danach die Türschwelle
läuten hörte, überfiel mich das Leid um ihn, und ich weinte mich von
Herzen satt.
— — Wie die Verhandlung mit Herrn Abel ausgefallen, habe ich nicht
erfahren; ich weiß nur, daß wenige Tage darauf die beiden
Meerschaumköpfe von der Wand verschwunden waren, und daß ich unseren
Vater niemals wieder weder seine Abend- noch seine Sonntagspfeife habe
rauchen sehen. Den Kalender mit dem rotangestrichenen Festtage bewahrte
ich noch lange unter meinen alten Sachen; gefeiert ist der Tag nicht
worden, aber wir konnten ihn dessen ungeachtet nicht vergessen.«
Die Erzählerin verschloß nach diesen Worten ihre Lippen, und ihre Augen
blickten seitwärts, als sei das nicht für fremde Ohren, was jetzt aus
der Vergangenheit an ihr vorüberziehen mochte.
Ein junger eifriger Prediger, ihr Neffe, welcher mit in der Gesellschaft
war, hatte schon zuvor durch ein vergebliches »Aber liebe Tante!« zu
erkennen gegeben, wie notwendig er seinen Beispruch zu dieser
Geschichte halte; jetzt begann er mit merklicher Unruhe auf seinem Stuhl
zu rucken. Aber unsere Wirtin war selber eine zu unerschütterliche
Christin und fühlte zu genau, wo er hinaus wollte, als daß sie seinem
drohenden Einwande nicht sogleich die Spitze abgebrochen hätte. »Lieber
Hieronymus,« sagte sie, »es ist wohl niemand hier, der an Gottes
You have read 1 text from German literature.
Next - Im Brauerhause: Novelle - 3
  • Parts
  • Im Brauerhause: Novelle - 1
    Total number of words is 4355
    Total number of unique words is 1347
    46.3 of words are in the 2000 most common words
    57.2 of words are in the 5000 most common words
    62.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Im Brauerhause: Novelle - 2
    Total number of words is 4559
    Total number of unique words is 1351
    46.3 of words are in the 2000 most common words
    58.2 of words are in the 5000 most common words
    63.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Im Brauerhause: Novelle - 3
    Total number of words is 621
    Total number of unique words is 356
    62.9 of words are in the 2000 most common words
    71.5 of words are in the 5000 most common words
    75.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.