Hermann Lauscher - 8

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und der jedes Jahr wieder in irgend einer Stunde plötzlich da ist und uns
erinnert, wie uns der Name eines lieben Toten erinnert -- an den großen
Wechsel, an die Unsicherheit des Grundes, auf dem wir bauen, an den Tod, an
die unzähligen mühsamen Wege, die wir unnützerweise gegangen sind.
Ich ruderte aus, um die Tönungen der Wellen im Buochser See zu betrachten,
um mein Gedächtnis mit dem Bild einiger Farbenvermischungen, einiger
Lichtbrechungen, einiger Silbertöne zu bereichern. Ich ruderte aus, kühl,
fröhlich und elastisch, einen Reim im Ohr, einen Vers auf den Lippen, um
die Schönheit auf einigen mir noch fremden Wegen, in einigen neuen Spielen
zu belauschen -- und endete damit, diese Herbstmatten zu finden, die ersten
dieses Jahrs, diese unabweislichen, zarten, traurigen Boten.
Ich wendete mich um und ließ das Auge lang auf dem bewegten, frischen
Wasser ruhen, ich beobachtete in der Luft gegen Brunnen und an der Wand des
Oberbauen einen einzelnen Sonnenstrahl; aber mein Gedanke verfolgte ihn
nicht mit seinem rastlosen, elastischen Eindringen. Nur mein Auge sah die
blaßgoldenen Reflexe zittern und verleuchten, mein Gedanke nahm nicht teil,
er verweilte hinter mir, über dem steilen Walde, auf jenen bleichgrünen
Matten. -- Herbst!
Und ich besann mich, ob ich auf dem rechten Wege sei, ob mein rastloser
Lauf mich meinem Sterne nähere oder entführe, ob er mich jemals in geistige
Höhen führen könne, in welchen dieser Herbst und diese Traurigkeit mich
nicht mehr würden berühren können.
Hier gab es in meinem Nachsinnen einen Moment, in welchem ich, hätte ich es
in meiner Macht gehabt, den ganzen Schleier des äußeren Lebens von mir
gelegt und alle Fäden der Lust, der Liebe, der Trauer, des Heimwehs und der
Erinnerung abgeschnitten hätte. Ein Höhepunkt, ein kurzes, ruhiges
Atemholen auf hohen Gipfeln: hinter mir alle Beziehungen des Menschlichen,
vor mir die leichte, kühle Weite der Schönheit des Absoluten, des
Unpersönlichen. Ein Augenblick -- ein Atemzug!
Die Glockenlaute schwankten herab, ich schloß die Augen und sank und sank
von der Höhe. Eine schwere, körperhafte Trauer bekam Gewalt über mich. Ich
wollte entrinnen, mein Gedanke bäumte sich noch einmal wie ein mißhandeltes
Roß, aber ich unterlag. Und jene schwere, müde Traurigkeit überwältigte
mich, beugte mich tiefer und tiefer, löschte alle Sterne aus, quälte mich
und feierte alle schmachvollen Triumphe eines grausamen Siegers.
Klar und nahe, wie durch eine plötzlich zerrissene Hülle, lag der helle
Garten meiner frühesten Erinnerungen vor meinem Auge. Und meine Eltern. Und
meine Knabenzeit, meine ersten Liebeszeiten, meine Jugendfreundschaften. In
dieser bedrückten Stunde redeten sie alle eine so traurig-fremde, schöne
Sprache, so heimwehmachend und so ernsthaft fragend wie die Züge von Toten,
denen wir Tränen nicht getrocknet und Wohltaten nicht erwidert haben. Ich
wies sie von mir, und sie gingen, eine tote Gegenwart hinterlassend.
Zugleich mit dem lastenden, schwächenden Herbstgefühl stieg eine peinigende
Abschiedsstimmung in mir auf. Ich sah hinter den wenigen noch freien,
einsamen Ruhetagen die Stadt und das wiederbeginnende aufreibende Leben auf
mich warten, die vielen Menschen, die vielen Bücher, die unzähligen
Nötigungen zu Lüge, Selbstbetrug und Zeitverderb. Und plötzlich brannte
meine ganze Jugend in schmerzlicher Lebenslust in mir auf, ich warf mich in
die Ruder, kreuzte auf der großen Bucht umher, kehrte um den Vorsprung des
Bürgenstocks zurück, bis an die Matt, bis nach Weggis. Die notwendige
Ermüdung sättigte mich nicht, gierig und verzweifelnd erfüllte mich ein
klaffendes Ungenügen, eine Lust, alle Freiheit und Kraft meines Lebens in
eine einzige Stunde gedrängt jäh und lachend zu vergeuden. Der See war mir
zu schaal, die Berge zu grau, der Himmel zu niedrig. In Weggis nahm ich ein
Bad und schwamm in den See hinein, drängte mich mit beiden Armen in das
Wasser, tief atmend. Müde geworden legte ich mich auf den Rücken, ganz
langsam schwimmend, und hing mit wartenden Augen am Himmel, unbefriedigt,
überdrüssig. Ich hätte mein Leben für das Gefühl der Fülle und des Genusses
gegeben, nach dem ich dürstete.
Und dann schwamm ich zurück und bestieg das Boot wieder mit der ganzen
dumpfen Trauer des Herbstes, des Abschieds und der inneren Ungewißheit.
Seither bin ich ruhiger geworden. Mein Prinzip hat gesiegt, ich genieße nun
diese Trauer und Hoffnungslosigkeit, wie ich mich gewöhnt habe, auch
schlechtes Wetter zu genießen. Sie hat ihre eigene Süßigkeit. Ich unterrede
mich mit ihr und spiele auf ihr, wie ein Sänger auf einer schwarzen in Moll
gestimmten Harfe spielt. Was will ich im Grunde anders von jedem Tag als
eine Stimmung, eine ihm eigentümliche Farbe, und, wenn es glückt, ein Lied?
Vitznau, 9. September 1900.
Als ich heute mit der Angelrute am Ufer saß, der nachklingenden gestrigen
Traurigkeit ergeben, trat mir plötzlich der Name Elisabeth auf die Lippen.
Es gelang mir, ihre Gestalt scharf und rein in mir heraufzubeschwören, so
daß sie mich aus meinem Traum wie aus einem tiefen Spiegel anblickte.
Zugleich empfand ich eine mächtige Sehnsucht nach der Lektüre der vita
nuova, so daß ich beinahe diesem herrischen Gelüste zulieb schon heute nach
Basel zurückgekehrt wäre.
Bölsche könnte an mir einen eklatanten Fall von Distanzliebe konstatieren.
Prüfe ich mich genau, so muß ich sagen, daß die Anziehungskraft, die
Elisabeth auf mich übt, vom ersten Augenblicke an auf einer einzigen
frappanten Profillinie beruhte, namentlich auf dem raffiniert eleganten
Kontur des Halses und des Kinns im Profil. Aber -- was ist an meinem Fall
am Ende besonderes, da erwiesenermaßen schon eine Frisur, ja schon ein
Kleid, ein Gürtel, ein Band diese Wirkung üben kann.
Ich besitze die Schönheit meiner Liebe in dieser Linie, wie man ein
Meisterbild nach reichlicher Anschauung besitzt, so daß es nur an dem
jeweiligen Versagen der Vorstellungskraft liegt, wenn ich noch nach ihrer
körperlichen Gegenwart verlange. Und doch -- ich tue Unrecht, meine Liebe,
das arme Schoßkind, so formal zu deuten. Wie oft habe ich doch gewünscht,
ihre feine Hand zärtlich zu berühren, sie zum Plaudern zu bringen, lang in
ihre Augen zu sehen! In diese Gedanken und Begierden spielen schon alle
unfaßbaren Reflexe der jenseitigen Schönheit herein. Sobald meine Skepsis
einen Augenblick schläft, höre ich doch in meiner Liebe die Engel singen
und Paradieserinnerungen an die Pforte meiner Seele pochen. Und sie selbst,
meine Seele, leidet lächelnd unter allen Rohheiten und Vergewaltigungen des
herrschsüchtigen Gedankens. Sie schläft unter dunklen Schleiern, schläft
und träumt vielleicht von den innersten Geheimnissen jener Welt, an deren
Toren mein bewußtes Leben in seinen höchsten Momenten noch beklommen stehen
bleibt.
Und diese meine Seele erzählt mir in wohllaut-fremder Sprache von einer
seligen Heimat, deren wir beide, Elisabeth und ich, verlaufene Kinder und
verirrte Bürger sind. Wie ein fremdartig süßer Duft, wie Takte einer
niegehörten, dennoch traumbekannten Melodie -- wie Antwort auf nie
gefragte, dennoch wohlgefühlte Fragen.
O diese Seele, dieses schöne, dunkle, heimatliche, gefährliche Meer!
Während ich ihre schillernde Oberfläche unermüdlich prüfe, liebkose,
befrage und bestürme, spült sie zuweilen immer wieder wie zum Hohn ein
fremdfarbiges Rätsel aus bodenloser Tiefe vor mir aus, Muscheln, die von
unermeßlichen, fremden Räumen reden, wie ein Stück uralten Schmuckes
vereinzelte, unsichere Ahnungen einer versunkenen Vorzeit beschwört.
Dort liegt vielleicht auch meine Kunst, dort schläft vielleicht mein Lied,
das heiße, stolze Lied mit den stürmenden, bacchischen Takten, während ich
auf unfruchtbaren Feldern Kraft und Jugend vergeude. O, fände ich jene
Stimmungen wieder, die in vergangenen Jahren mir jede Frühlingsnacht so
reich und üppig gab, jenen schwärmerisch maßlosen Herzschlag, jenes satte
Verlorensein an die Phantasie und an das erregte Klingen des eigenen
Blutes!
Vitznau, 10. September 1900.
Ich kannte heute kaum die Menschen mehr, die seit acht Tagen neben mir zu
Tische sitzen. Als wären seit gestern zehn Jahre vergangen. Meine Bücher,
mein Zimmer, mein Angelzeug, meine Kleider, meine eigene Hand -- alles
fremd, alles mir nicht zugehörig, alles mich mit seiner unerwarteten
Gegenwart bedrückend.
O diese Nacht! Zehn Stunden ohne Schlaf, jede Minute ein Kampf meiner
unterdrückten Seele mit dem grausamen, gewaltherrischen Gedanken, ein Kampf
mit Zähneknirschen und Schluchzen, ein Ringen ohne Waffen, Brust an Brust,
mit allen Listen und Grausamkeiten der Verzweiflung. Alle Dämme und
Grenzen, die ich meinem inneren Leben gezogen hatte, alle mühsam
vorbereiteten Saaten, alle gelegten Grundsteine sind in diesen Stunden
zertreten und vernichtet worden. Mir ist es noch wie ein Traum.
Nach einem schweren, traurigmüden Abend -- es war ein Sonnenuntergang, wie
ich nie einen gesehen -- legte ich mich früh zu Bette. Vor meinem Fenster
dampfte der See und schlug mit feinen, regelmäßigen Wellen an die Mauern.
Ich sah vom Bett aus die Hammetschwand in den bleichen Himmel stechen. Da
begann ich zu fühlen, daß die Stunde eines lang verschobenen Kampfes
unerbittlich gekommen war, daß alles Unterdrückte, an Ketten Gelegte,
Halbgebändigte in mir erbittert und drohend an den Fesseln zerrte. Alle
wichtigen Augenblicke meines Lebens, in denen ich meiner Bestimmung einen
neuen, engeren Kreis gezogen, in denen ich dem Gefühl des Ewigen, dem
naiven Instinkt, dem eingeborenen, unbewußten Leben ein Feld entzogen
hatte, traten in voller, feindseliger Schar vor mein Gedächtnis. Vor ihrem
Andrängen begannen alle Throne und Säulen zu zittern. Und nun wußte ich
plötzlich, daß nichts mehr zu retten wäre; freigelassen taumelte die ganze
untere Welt in mir hervor, zerbrach und verhöhnte die weißen Tempel und
kühlen Lieblingsbilder. Und dennoch fühlte ich diese verzweifelten Empörer
und Bilderstürmer mir verwandt, sie trugen Züge meiner liebsten
Erinnerungen und Kindertage.
Zugleich mit diesem Wiedererkennen drang ein scharfer Schmerz todesbitter
durch mein innerstes Wesen, der mich in verzerrten, zwiespältigen Gefühlen
marterte und aufrieb, lang, stundenlang, bis ich wurde wie ein gequältes,
ratloses, verängstetes Kind. Ein Schluchzen überfiel mich, ein Schluchzen
ohne Tränen, unsäglich bitter, zuckend und verzweifelnd.
Genug, genug! Die Nacht ist um; ich weiß, daß eine so entsetzliche nicht
wiederkommen kann. Ich spüre keinen Schmerz mehr, nur eine träge
Erschlaffung und ein Gefühl, ein müdes, rätselhaftes, unsicher
schmerzendes, als wäre mir im Innern etwas gesprungen, ein Nerv zerrissen,
ein Keim geknickt. Und ich glaube -- . . . . Nein, nein!
Und dennoch: ich glaube nicht, ich fühle, ich weiß mit unabänderlicher
Gewißheit -- das ist meine Jugend, das ist meine Hoffnung, das ist mein
Bestes und Heiligstes, dessen abgeknickte Ranke ich wie etwas Fremdes,
Störendes in mir spüre. Herbst.
Es leidet mich nicht länger hier. Morgen will ich in die Stadt zurück.
Dieser melancholisch stille See mit den bleichen Herbstmatten, diese kühlen
Berge und dieser kühle Himmel ängstigen mich. Der mitgebrachte Plato liegt
auf dem Tisch. Elende Scharteke! Was ist mir Plato? Ich muß Menschen sehen,
Wagen fahren hören, neue Bücher und Zeitungen aufschneiden und den
frischen, unreifen Duft des schnellen Lebens atmen, auch sehne ich mich
danach, Nächte in kleinen Weinschenken zu verbringen, mit gemeinen Mädchen
gemeine Gespräche zu führen, Billard zu spielen und tausend Nichtigkeiten
zu treiben, die ich mir selber als tausend Gründe dieses Jammergefühls
aufzählen kann, das ich ohne Gründe und ohne Betäubung nicht länger
ertrage. Es muß noch Genüsse geben, die mir unbekannt geblieben sind, es
muß noch Reize geben, auf die meine Nerven heftig reagieren, noch rare
Bücher, die mir Freude machen können, noch irgend eine neue, raffinierte
Musik.
Ich werde es nicht vergessen, mein Leben lang nicht. O diese Nacht! Ich
werde in jeder schlaflosen Nacht an der Erinnerung dieser Qualen leiden,
sie werden aus jedem Genuß, aus jeder Reizung wie verborgene böse Geister
hervorblicken, alle Grenzen von Wohl und Weh verwischend und alle
Empfindungen auflösend in jenes stachelnde, giftig süße, schmerzlich
ermüdende Gefühl, das mich nie so wie in dieser Nacht gepeinigt hat. Das
Presto jener unheimlichen B-Moll-Sonate von Chopin hat etwas davon -- es
ist einem dabei, als würden feine, feine bloßliegende Nerven streichelnd
berührt. Prickelndes Wehgefühl, leiser süßer Schmerz -- aber ein Takt zu
viel und man fällt in alle Foltern einer verzweifelten, raffinierten
Traurigkeit, die bis zum heftigen körperlichen Schmerz zu steigen vermag.
Elisabeth -- . . . . .
Ziehen wir das Fazit! Mir bleibt bei leidlich jungen Jahren der noch
respektabel konservierte Rest einer ehemals recht ansehnlichen Phantasie,
eine gewisse, wenn schon etwas abgenützte Fähigkeit zum Genießen und
Arrangieren schillernder Stimmungen, sowie ein kleiner Fonds von »Seele«,
der bei vorsichtigem Gebrauch eventuell noch eine und die andere Liebe
leichteren Genres zu inszenieren und zu überdauern vermag. Rechnen wir dazu
eine durch lange Gewohnheit erworbene Fertigkeit im Tragisch-Idealischen
und in der souverän duldenden Pose, so muß ich mir selbst zu so schönen
dichterischen Fähigkeiten gratulieren und habe keinen Grund, um meine
Zukunft als Autor besorgt zu sein. Ich werde Niels Lyhne nicht ohne
persönliche Note imitieren und die sublimsten Wiener in Ekstasen
übertreffen. Das heißt auf deutsch: Pfui Teufel! Aber wozu habe ich
Neudeutsch und Wienerisch gelernt?
Basel, 16. September 1900.
Schon wieder genug und übersatt! Ich hatte mich auf meine Bücher gestürzt,
die Pausen der vita nuova-Lektüre mit E. T. A. Hoffmann und Heine gefüllt,
in müden Stunden zwischen den preziösen George und den lyrischen
Hofmannsthal ein Kapitel Jakob Böhme eingeflochten. Übrigens Respekt vor
meinem Antiquar! Er hat mir den unvergleichlichen 1730er Böhme verschafft,
ed. Ueberfeld, mit angefügten Kupfern. Wenn nur der »Gottselige
Hocherleuchtete Teutonicus Philosophus« mit seiner ganzen Theosophia
revelata etwas amüsanter wäre! Es sind Kapitel von besonderem Reiz
vorhanden, aber man muß sparsam lesen, um der Sprache die fremde Tonart zu
lassen. Den Spruch von der Galle, den ich heute bei ihm gelesen, will ich
mir doch notieren: »Siehe, ein Mensch hat in sich eine Galle, das ist Gift,
und kann ohne die Galle nicht leben, denn die Galle macht die siderischen
Geister beweglich, freudenreich, triumphierend oder lachend, denn sie ist
ein Quell der Freuden. So sie sich aber in einem Element entzündet, so
verderbt sie den ganzen Menschen, denn der Zorn in den siderischen Geistern
kommt von der Galle.« Und dann: »Eben einen solchen Quell hat auch die
Freude, und auch aus derselben Substanz wie der Zorn. Das ist, wenn sich
die Galle in der liebhabenden oder süßen Qualität entzündet, in dem, was
dem Menschen lieb ist, so zittert der ganze Leib vor Freuden, in welchem
manchmal die siderischen Geister auch angesteckt werden, wenn sich die
Galle zu sehr erhebt und in der süßen Qualität entzündet.«
Vor wenig mehr als zwanzig Jahren machte ich als kleiner, blonder Knabe den
ersten Leseversuch. Mein Vater fand mich über ein Buch gebückt und nannte
mir einige Lettern. Dann aber schloß er das Buch und erzählte mir nach
seiner klugen, liebreichen Art von der großen Welt der Buchstaben und
Bücher, die sich mir mit dem A-B-C erschließen würde und zu deren Kenntnis
das längste Leben des fleißigsten Lesers nicht zum tausendsten Teil genüge.
Er selber war damals schon über Büchern fast grau geworden und trug die
Werte unzähliger Bände hinter seiner hohen, scharfen, allzu oft
schmerzenden Stirn gespeichert. Zwanzig Jahre! Ich habe seither ein
tüchtiges Stück dieser Buchstabenwelt umgeackert und manchen fast
verschollenen Schmöker hervorgekramt und umgeblättert. Und jetzt -- die
wenigen überragenden Worte, die noch Gewalt über mich haben, würden keine
zehn Bände füllen. Es gibt noch eine Zahl von seltenen alten Schriften,
nach denen ich Verlangen habe und deren jede mich, wenn sie in meine Hände
fällt, neugierig zu machen und zu erregen vermag -- und dann ist es wie mit
dem gefangenen Schmetterling: die Lust ist gebüßt, das seltene Exemplar hat
einen Augenblick den erfreuenden Glanz gehabt, und übrig bleibt -- ein
Büchertitel und eine Lücke im Register der noch zu erhoffenden
Befriedigungen.
Basel, ohne Datum.
Ich wartete gestern abends am Kasino, um das Publikum aus dem Konzertsaal
kommen zu sehen. Es war kalt und regnete. Dann quoll die Menschenmasse
heraus. Und auf der Treppe von den Balkonsitzen tauchte plötzlich zwischen
bekannten Gesichtern das Gesicht Elisabeths hervor. Sie stieg langsam herab
und verschwand mit ihren Begleitern in der Menge. Diese Minute, in welcher
die ganze schöne Gestalt auf der beleuchteten Treppe warm und fröhlich
heraustrat, gab mir eine eigentümliche Stimmung. Ganz wie in schönen
antiquierten Romanen war ich der traurige Liebhaber, der vor erleuchtetem
Festsaal in der Regennacht steht und seine Dame geschmückt und scherzend
mit begünstigten Begleitern vorüberschreiten sieht. Sein Hut ist tief in
die schmerzende Stirn gedrückt, sein grauer Mantel flattert im Wind. Sein
Auge blickt Verachtung, aber auf den schmerzlich verzogenen Lippen liegt
Liebesweh und zehrende Trauer. Er wendet sich ab, lüftet den Hut, streicht
mit der heißen Hand über die heiße Stirn und das regennasse Haar und
verschwindet in den Nebeln der unwirtlichen Regennacht.
Und zwar zu Frau Buser in die Fischerstube. Diese brachte mir in
zahlreichen Bechern die »süße Qualität« herbei, nachdem die Reaktion der
Galle auf die »liebhabende Qualität« den guten Böhme Lügen gestraft hatte.
Ich hatte dort ein langes Gespräch mit Hesse, der mich natürlich wieder
nörgelte und zwickte, bis ich grob wurde. Dann war er zufrieden, ich auch,
und am Ende führte mich der Gute durch alle Fährlichkeiten wankender
Häuserreihen und walzertanzender Gaslaternen meinen Penaten zu.
Basel, ohne Datum.
Wenn sich mein Jugendfreund Elenderle nicht in jener ärgerlichen Nacht im
Tübinger »Walfisch« erschossen hätte, würde ich ihn zur Aufnahme in unsern
famosen Klub vorschlagen. Wir haben nämlich zu dreien einen »Klub der
Entgleisten« gegründet. Drei Mitglieder ist wenig, aber die Stadt Basel
vermag in dieser Branche nicht mehr.
Basel, ohne Datum.
Hesse will mir einen Artikel über Tieck abjagen, den er doch besser kennen
müßte als ich. Dabei fiel mir plötzlich die fabelhafte Ähnlichkeit auf, die
zwischen jenem Märchendichter und mir besteht. Bei uns beiden dieselben
sensibeln Nerven, derselbe Mangel an Plastik, derselbe Zug zum
Flüchtigsten, Oberflächlichsten, zum Schillernden, Flackernden und
Unfesten, dieselbe launenhaft bewegte Phantasie, dieselbe Verwandtschaft
mit der Musik, dieselbe Tendenz zur Auflösung der Prinzipien, zur
künstlerischen Ironie.
Basel, ohne Datum.
Ah! ce n'est point gai tous les jours, la bohème!
Basel, ohne Datum.
Das Weintrinken wird auch nicht lange vorhalten. Ich sitze zuweilen in der
Wolfsschlucht, trinke Hallauer und blättere in Böhmes »Weg zu Christo«,
wobei mir zuweilen die eigentliche Ruchlosigkeit dieser Lektüre für
Augenblicke einen leisen Reiz gewährt. »Ich will dich aber gewarnet haben,«
sagt der Theosophus, »ist dirs nicht ein Ernst, so laß die teuern Namen
Gottes, daß sie dir nicht den Zorn Gottes in deiner Seele entzünden.« Und
später: »Bist du nicht in ernstem Vorsatze, auf dem Wege zur neuen
Wiedergeburt, so laß die obgeschriebenen Worte im Gebete ungenannt, oder
sie werden dir in dir zum Gerichte Gottes werden.«
Der fromme Weise hat recht. Seine Worte machen mich unheiligen Leser
traurig und »wirken Verzweiflung«, denn jedes von ihnen besitzt jene Kraft
und ewige Jugend der Begeisterung und des Glaubens, deren Anblick mich mit
Neid und Heimweh erfüllt.
Basel, ohne Datum.
Ich will verreisen. Mir träumte diese Nacht von meiner Jugend, als wohne
sie irgendwo verzaubert in einem fernen Lande zwischen grünen Bergen. Auch
war mir, als spielte eine schöne, wohlbekannte Frau auf dem
Veilchenstraußflügel die Nocturne in Es-Dur von Chopin, jenes Lied, das nur
Heimweh- und Flügelkranke ganz verstehen, mit seinen zarten, durch ein
geheimes Leiden vergeistigten Takten. Ich holte meine vergessene und
verstaubte Geige hervor und rief die zärtlich scheue Melodie mit leisem
Striche wach, und aus dem alten, braunen Instrument sang meine verlorene
Jugend in heimlichen Untertönen mit.


Letzte Gedichte.
(Sommer und Herbst 1900.)

Meiner Liebe.
I.
An meine Schulter lehne
Dein schweres Haupt und schweige
Und koste jeder Träne
Wehsüße, lasse Neige.
Es werden Tage kommen,
Da du nach diesen Tränen
Verdürstend und beklommen
Dich wirst vergebens sehnen.
II.
Leg mir aufs Haar
Die Hand; schwer ist mein Haupt.
Was meine Jugend war,
Hast du geraubt.
Unwiederbringlich ist dahin
Der Jugend Glanz, der Freude Born,
Der mir so unerschöpflich golden schien,
Und überblieben Weh und Zorn
Und Nächte, Nächte ohne End,
In denen wild und fieberheiß
Der alten Liebeslüste Kreis
Mein waches Träumen wund durchrennt.
Nur noch in Stunden seltner Rast
Tritt manchmal meine Jugend her
Zu mir, ein scheuer blasser Gast,
Und stöhnt, und macht das Herz mir schwer . . .
Leg mir aufs Haar
Die Hand. Schwer ist mein Haupt.
Was meine Jugend war,
Hast du geraubt.

Dennoch.
Dennoch von meiner Jugend Stunden
Genoß ich jede. Soll ich klagen,
Daß die gehegte Blust nur Wunden
Und Bitternis und Weh getragen?
Wenn sie noch einmal wiederkäme
Und trüge alle holden Züge
Von ehmals -- fänd ich mein Genüge,
Wenn sie ein andres Ende nähme.

Philosophie.
Vom Unbewußten zum Bewußten,
Von da zurück durch viele Pfade
Zu dem, was unbewußt wir wußten,
Von dort verstoßen ohne Gnade
Zum Zweifel, zur Philosophie,
Erreichen wir die ersten Grade
Der Ironie.
Sodann durch emsige Betrachtung,
Durch scharfe Spiegel mannigfalt
Nimmt uns zu frierender Umnachtung
In grausam eiserne Gewalt
Die kühle Kluft der Weltverachtung.
Die aber lenkt uns klug zurück
Durch der Erkenntnis schmalen Spalt
Zum bittersüßen Greisenglück
Der Selbstverachtung.

Marienlied.
Ohne Schmuck und Perlenglanz
Laß mich auf die Stufen legen,
Stumm erflehend deinen Segen,
Meiner Jugend welken Kranz.
Kämpfe, Fahrten, Wunden viel,
Ungenossene herbe Siege
Ruhmlos durchgekämpfter Kriege
Finden müde nun ihr Ziel.
Lüste bunt und freudefarb
Senken müdgewordene Hände,
Ihr Gelächter ist zu Ende,
Ihre rote Flamme starb.
Sterbend, blaß und fieberwund
Wollen sie, der Welt vergessen,
Müd auf harte Stufen pressen
Den verblühten Liebesmund.

Das ist mein Leid.
Das ist mein Leid, daß ich in allzuvielen
Bemalten Masken allzu gut zu spielen
Und mich und andre allzu gut
Zu täuschen lernte. Keine leise Regung
Zuckt in mir auf und keines Lieds Bewegung,
In der nicht Spiel und Absicht ruht.
Das muß ich meinen Jammer nennen:
Mich selber so ins Innerste zu kennen,
Vorwissend jedes Pulses Schlag,
Daß keines Traumes unbewußte Mahnung
Und keiner Lust und keines Leides Ahnung
Mir mehr die Seele rühren mag.

Spielmann.
Frühlinge und Sommer steigen
Grün herauf und singen Lieder,
Schmücken bunt die Welt, und neigen
Müde sich zur Erde wieder.
Träumend aus dem Kranz der Tage
Grüßen flüchtig helle Stunden
Mir herauf wie schöne Sage,
Lächeln, leuchten, sind verschwunden.
Schauernd in der Tage Wende,
Mag auch Gold und Liebe winken,
Lassen traurig meine Hände
Die geschmückte Leier sinken.

Italienische Nacht.
Ich liebe solche bunt beglänzte Nächte
Im Flackerlicht der Lampen, und ich flechte
Gern meiner Lieder fiebernd Rot darein.
Sieh, Liebste, wie sich dort die Jugend drängt
Im späten Tanz, und wie für uns allein
Der Sichelmond im Rauch der Fackeln hängt.
In solchen Nächten lauscht mein zitternd Herz
Mit Qual und Lust heimat- und jugendwärts,
Und schlägt im Takt verliebter Melodien.
Mein Auge aber schaut den fremden Mond
Im Silberkahn auf sichern Wegen ziehen
Und ist wie er der Einsamkeit gewohnt.
Sieh, meine Jugend war ein farbig Spiel,
Ein Tanz im Fieber, wild und ohne Ziel
Und schwand verknisternd wie ein Meteor.
Dann kreuzt' ich unstät durch die Welt und fand
Dem Haupt kein Lager, meinem Lied kein Ohr,
Und nur im Traum ein blasses Heimwehland.
Schau dort! Die heiße Menge wogt im Tanz
Und glüht vor Lust und wirft den Loderkranz
Der kurzen Freude jauchzend in die Lüfte.
Ists doch, als spielte meine Jugend dort
Im süßen Rausch fremdländisch heißer Düfte
Das alte Spiel in neuen Tänzen fort.
Das alte Spiel! Nur daß ich jetzt abseits
Zuschauend lehne und den süßen Reiz
Des Taumeltranks auf kühler Lippe wäge,
Und daß mein Geist gleichgültig Umschau hält
Und meines Herzens heimwehrasche Schläge
Lächelnd wie Takte eines Liedes zählt.

Der schwarze Ritter.
Ich reite stumm aus dem Turnier,
Ich trage aller Siege Namen,
Ich neige mich vor dem Balkon der Damen
Tief. Aber keine winkt nach mir.
Ich singe zu der Harfe Ton,
Aus der die tiefen Laute steigen.
Alle Harfner lauschen und schweigen,
Aber die holden Frauen sind entflohn.
In meines Wappens schwarzem Feld
Sind hundert Kränze aufgehangen,
Die gold von hundert Siegen prangen.
Aber der Kranz der Liebe fehlt.
An meinem Sarge werden sich bücken
Ritter und Sänger und werden ihn
Mit Lorbeer bedecken und bleichem Jasmin.
Aber keine Rose wird ihn schmücken.

Marienlied.
Deinem Blick darf meiner nicht begegnen,
Meine Seele, die so viel gelitten,
Darf gebeugt nicht mehr die deine bitten:
Wolle die verlorene Schwester segnen!
Leise nur im allertiefsten Innern
Will sie der gewesenen Schwesterzeiten,
Der in Schmach verspielten Seligkeiten
Schweigend und mit Schmerzen sich erinnern.


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