Hermann Lauscher - 7

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dich in mein Leben gekommen sind. Du hörst mich an, du lächelst, du nickst
sogar und fragst zuletzt: Soll ich fortgehen?
Du weißt: Er sagt nicht Ja.
* * * * *

Die achte Nacht.
Auch heute wieder! Dieses leise Sieden des Blutes, dieses Knistern hinter
den Tapeten, diese langen Atemzüge des Windes! Eine Sekunde, eine Minute,
noch eine, wieder eine, und so rinnt ein Tropfen des kurzen, kurzen Lebens
um den andern fremd und unaufhaltsam an mir vorbei. Wieviele Stunden sind
mir so unter den fiebernden Händen zerronnen? Vielleicht tausend,
vielleicht zehntausend! Sie sind hin, sie haben kein Leid noch Glück mehr
zu verschenken, sie sind ungelebt und doch abgezogen von dem mir
Bestimmten.
Und dann werde ich weiß und schweigend liegen! Und unter geschmacklosen
Förmlichkeiten in einem Holzkasten in die schmale feuchte Grube gelegt
werden! Bekannte werden hinterher gehen, von Tagesgeschichten plaudernd.
Ein Prediger wird vielleicht am Grabe in der entsetzlichen Sprache Jehovas
die Lehre von Zeit und Ewigkeit verkündigen. Am Grabe eines Dichters!
Ja, lache nur, schöne Muse! Ich weiß, du wirst hinter dem Prediger stehen
und deine süßen ironischen Staunaugen machen. Du bist ja schon an so vielen
Gräbern gestanden. Und wie du aufhorchen wirst, wenn er von meiner
unsterblichen Seele redet! Diese Seele ist ja du, oder ist doch ein Teil,
ein Zug von dir. Sie lebt und ist ewig in einer deiner Geberden, in einer
Art zu lächeln, in einer besonderen Biegung deiner Stimme, in einer Nuance
deines Lockenfalls. Wieviele tote und vergessene Dichter haben an dir
gedichtet, bis du zu mir kamst, bis du so gliederschön, schlank und biegsam
wurdest! Und nun bist du mein! Wenn auch kein Wort noch Reim von mir mich
überdauert, einen Zug von mir wirst du Unsterbliche doch weitertragen. Und
den werden meine Nachfolger, die meinen Namen nicht kennen, ehren und
verstehen. In dem unsterblichen Werke, das einer von ihnen vollenden wird,
wird irgendwo, sei's nur in einem Wort, einem Ton, einem kleinen zarten
Zug, mein Leben verewigt sein. Eine kleine Stelle doch wird dich in den
besonderen Zügen malen, die du mir verdankst. Eine kleine Schönheit doch
wird in dem unsterblichen Werke sein, die ohne mich nicht wäre möglich
gewesen, und der unerlöste Nachklang meines Lebens wird als willkommener
Ton in eine Harmonie der Ewigkeit sich fügen. Ewigkeit! Was ist dann noch
Tod, Grab und Prediger? Unbequeme Zufälle, wie tausend im Leben sind.
Und so arbeite ich bewußt an meinem Werk, an dem Völker, Erde und Gestirne
unbewußt mitschaffen. Was sind Jahrtausende? Eine Spanne Zeit, Staub im
Vergleich mit einem einzigen Blick des Ewigen. Jene schöne junge Nausikaa,
die vor unendlichen Zeiten am Meere wandelte, ward von einem solchen Blick
getroffen und ist heute so schön, jung und lebendig wie an jenem seit
Jahrtausenden vergangenen Tage.
Du lächelst wieder? Meine schöne Muse, du bist ein Weib. Ihr Frauen stehet
dem Ewigen so nah, daß ihr unser Händeausstrecken und Hinübersehnen nicht
verstehet. Und was ihr nicht verstehet, darüber lachet ihr. »Wie komisch!«
-- so könnt ihr ausrufen, wenn eines Andern Züge von Leiden entstellt sind,
die ihr nicht kennt. Dir zuliebe werde ich einmal versuchen müssen elegant
zu sterben!
Ich beneide dich, meine Muse! Ach, für dich ist mein ganzes Leben eine
Episode, eine Herbstgeschichte, eine unruhige, kranke Nacht! Nachher wirst
du wieder lachen und blühen, als wäre nichts gewesen, nichts als ein
nervöser, unangenehmer Augenblick. »Nachher« -- das heißt: wenn ich tot
sein werde. »Ein unangenehmer Augenblick« -- das heißt: mein Leben vom
ersten bis zum letzten Lallen, mit der ganzen Welt von Jauchzen und
Verzweifeln. Es wird ja nicht ins Leere fallen, aber was ist dieser
Schimmer von Ewigkeit? Was sind selbst die größten Toten: der große
Alexander, der große Tizian, der große Napoleon? Einem Hungernden ist ein
Bissen Brot wichtiger als der große Alexander. Und wer hungert nicht? Wer
ist nicht von tausend elenden Bedürfnischen umgeben, deren jedes ihm
wichtiger ist als der große Alexander? Wieviel von meiner Unsterblichkeit
würde ich geben, wenn ich jetzt schlafen könnte, wenn ich das leise, infame
Fiebern der unflüggen Gedanken hinter meiner Stirn und den schmerzenden
Augen zur Ruhe bringen könnte? Ein Viertel, die halbe, die ganze!
O wie du mich ansiehst! Wie du mich leiden siehst! Und alles um ein Weib,
und alles um dich! Und jeder schwere Herzschlag in meiner Brust, und jedes
schmerzliche Zittern meiner Lider, und jedes bedrückte heisere Atemholen
meines Mundes ist ein Tropfen Leben für dich, ein Meißelführen, ein
Pinselzug an deinem Bilde.
Ermahne mich nicht! Laß mich nicht denken, wie es wäre, das alles zu leiden
nicht für dich, ohne dich, für Nichts! Lies mir ein Märchen vor! Sag mir,
daß du mich liebst, daß die Ewigkeit an meinem Lager sitzt und mit mir
leidet.
Wie deine Hand zu streicheln versteht! Ich fühle dabei die ganze Geschichte
dieser Hand, die ganze adlige Kultur ihrer Form und Geste, an der schon die
Maler des frühen Florenz gearbeitet haben, die auf so viel
lorbeerbekränzten, ungenügsamen, scharfgefalteten Künstlerstirnen ruhte. Wo
ist ein Fürst, dessen uradlig geborene Geliebte solche Hände hat? Und auch
in meiner Hand und auf meiner Stirn ruht deine Rechte nicht vergebens, auch
von mir geht der leise Strom eines eigenartigen und feinen Lebens in sie
über. Sie wird, wenn niemand mehr von mir weiß, auf andern Stirnen liegen,
andere Schultern berühren, und in ihrer Berührung wird mit allen tausend
andern auch meine Schönheit, Krankheit und Kunst verewigt und tätig sein.
Und diese Kultur, dieser unsichtbare, leise, ununterbrochene Strom bewußten
Lebens, in welchem Dante und Donatello nur schöne Windungen sind -- das ist
die Ewigkeit. Das ist die Ewigkeit! Das bist du, meine schöne Muse!


Tagebuch 1900.

Basel, 7. April 1900.
Abends. Ein dunkler, kühler Tag. Ich lege Tolstois »Auferstehung« aus der
Hand. Ich hatte geschworen, sie nicht zu lesen, aber alle Welt war voll
davon, ich mußte darein beißen, und nun ist es hinter mir. Zwar etwas von
der trostlos traurigen, rohen, schrecklichen Luft dieses Russen drückt mich
noch -- es ist körperlich ungesund, solche Sachen zu lesen. Mit Tolstoi
geht es mir genau wie mit Zola, mit Ibsen, mit Robert, mit Uhde, mit Hebbel
und zwanzig andern Größen -- sehe ich sie, so muß ich den Hut abnehmen,
wohler aber ist mir, wenn ich sie nicht sehe. Tolstoi ist von einer
imponierenden seelischen Größe, er hat einmal die Stimme der Wahrheit
gehört und folgt ihr nun wie ein Hund und wie ein Märtyrer, durch dick und
dünn, durch Schmutz und Blut. Was ihn so häßlich macht, ist eben das
Russische an ihm, dessen Schwere, Düsterkeit, Mangel an Kultur, Mangel an
Freude sogar den zarten Turgenjew ungenießbar macht. Die Heiligen Martin
und Franziskus haben dieselbe Lehre wie Tolstoi gepredigt, aber bei ihnen
ist Person und Lehre ebenso hell, elastisch und erfreuend wie bei Tolstoi
dunkel, spröde und niederdrückend. Vielleicht, ich will nicht leugnen,
kommt von dorther die Erneuerung der Welt; aber ehe aus diesen herben,
frischen, rohen Keimen Kunst werden kann, müssen sie noch hundert Jahre und
länger reifen.
Mir träumte einmal, ich wäre mitten in einer großen, sonderbar schweigsamen
Gesellschaft. Ein starker Mann in einem zu weiten Frack trat mich plötzlich
ernst, streng und herrisch an und fragte mit rauher Stimme: Glaubst du an
Christus? Während ich mich besann, was ich antworten sollte, sah ich sein
glühendes Auge und seine groben, herausfordernden Züge so unangenehm nahe,
daß das Gefühl der Beleidigung sich mir aufdrängte; ich mußte ein eisiges,
verächtliches Nein sagen, lediglich um diesen aufdringlichen Blick und die
ganze unerwünschte Gegenwart des groben Fragers abzuweisen.
In dieser Weise fragt Tolstoi. Seine Stimme hat nicht nur die zitternde
Glut des Fanatikers, sondern auch den peinlich rohen Gurgelton des
östlichen Barbaren.
Ich habe Sehnsucht danach, mich am nächsten warmen Tage in den hellen
Frühlingswald zu legen und dort ein paar Seiten Goethe zu lesen.
Basel, 11. April 1900.
Glaubst du an Christus?
Es war gestern, auf Riehenhof, in der kleinen Halle gegen Abend; ich war
zwei Tage bei Doktor Nagels zu Gast. Die freundliche Wirtin saß mit mir in
herzlichem Gespräch in der zarten Abendglut, es war eine ungerufene
glückliche Stunde; unsre Fragen rührten an alles Wichtige, Ernste,
Beglückende, an den Tod, an die Sterne, an das Wunder. Auf die letzten
Fragen gab kein Wort mehr Antwort, ein freundschaftlich vertrauendes
Schweigen, ein Kopfnicken, ein Blick in die Röte des Himmels, ein stummes
Deuten auf die sammetblauen Vogesen und den klaren, dunkelgrünen
Schwarzwald --, und vor dem Schlafengehen lasen wir den dritten der Hymnen
des Novalis.
Auf dem Kanapee im großen Gesellschaftszimmer auf Riehenhof stand ein fast
vollendetes Bild von Fritz Burger: die Bachwiese mit reichem Obstblust. Bei
solchen entstehenden oder eben entstandenen Kunstwerken empfinde ich immer
Schmerz, Erhebung und Neid zugleich, denn ich stehe ja, mitten in Tag und
Kram, ferner als je von meinem Werk, nach dem ich doch täglich lüsterner
und sehnsüchtiger werde.
Basel, 15. April 1900.
Diese warmen, grünen Abende auf Riehenhof! Seit Monaten hatte sich mir
keine Zeile gereimt, und jetzt -- es quillt so weich und ohne Ende, Verse,
Verse! Es ist ganz wie es in schönen Anthologien steht: Frühling, junges
Grün und Amselgesang, und dem Dichter verhängt ein selig goldener Nebel die
Welt. Ich liege im Rasen, ich wandere durch die Wiesen, ich lehne im
Halbdunkel abends im Zimmer, ich gehe zum Wein, und meine Lippen sind heiß
und rot von lauter Reimen. Kein Inhalt, kein Gedanke, nur Musik von
schlanken, lachenden Worten, nur Takt, nur Reim. Ich weiß dabei wohl, daß
diese Verse, wenn noch so gut, noch nicht einmal Lyrik sind, und weiß, daß
ich schon bald an heute und gestern als an etwas Unbegreifliches, Schönes,
Vergangenes denken werde, mit Schmerz und Ironie. Auch ist mir, ein Dichter
hätte das, was ich eben denke, schon mit sehr schönen Versen zu Tode
gesungen, und wenn ich mich besinne, so ist es der unangenehme Freund Heine
und sind es die Zeilen:
Sag nicht, daß du mich liebst,
Ich weiß, das Schönste auf Erden,
Der Frühling und die Liebe,
Es muß zu schanden werden.
Der Frühling und die Liebe. Liebe? Ich weiß nicht. Es ist nur ein Name, und
bei mir ist die Liebe eben dieser weich zerfließende Lyrismus, der mich als
besondere Form des Sentimentalen jeweils befällt und eben so süß als
schwächend ist. Oder soll ich dabei an Elisabeth denken? Ist das denn
Liebe, daß ich manchmal Lust habe ihr mehr zu sagen, als man sonst Mädchen
sagt? Daß es mich zuweilen traurig macht, wenn ich mir vorstelle, ich mache
ihr Geständnisse und führe mit Schande von dannen? Müßte ich nicht den
unsichern Grund meines ganzen jetzigen Lebens antasten, einen steinernen
Grund legen und von da aus mit der roten Fahne der Leidenschaft, mit
Stürmen und Opfern nach ihr jagen? Wenn ich mich jener ernstlichen,
brennenden Leidenschaft erinnere, mit der ich noch als halber Knabe der
ersten Frauenliebe verfiel, an jene Entzückungen, an jene durchweinten
Nächte, an jene im Fieber entworfenen, von plötzlichen Selbstmordgedanken
gekreuzten, dennoch selig frechen Lebenspläne, an jene Wut, den Namen Elise
viele hundert Mal im Bette zu flüstern, im Garten zu singen, im Walde laut
zu schreien -- wenn ich an das alles denke, so muß ich traurig lachen und
kann dieses zarte Hinüberneigen nicht Liebe nennen. Eine Stimmung, ein in
Dämmerung angeschlagener Moll-Akkord, ein scheuer Anfang eines unsicher
elegischen Gedichtes -- und schließlich eben dennoch seit Jahren die
einzige, wenn noch so leise Erregung, bei der mir der Name Liebe einfiel.
Der lodernde Rausch von damals, durch viel Philosophie, viel Ästhetik, viel
Kunst und viel Ironie jahrelang ins Blassere, Flüchtigere nuanciert, ists
doch vielleicht. Aber ich träume doch zuweilen von jener alten Liebe so rot
und feuerfarben, habe Sehnsucht nach einer Leidenschaft, die gellend und
bacchantisch sich aus Übermut und Ungenügen zum Verhängnis wöbe. Ist dieser
Traum und diese Sehnsucht alles, was ich vermag, ist es der Nachklang der
alten Liebe oder Ahnung einer kommenden, noch möglichen? Und steigt dieser
Traum rein aus dem unbewußten Leben, aus Instinkt und verlorener
Erinnerung, oder hat er seine Farben von Böcklin und seinen großen,
dämonischen Takt von Chopin und Wagner?
Ich glaube, daß kein anderer Mensch über die Gründe seines inneren Lebens
und über die wahren Ursachen seines Begehrens und Ungenügens so durchaus im
Dunkeln ist und immer tiefere Finsternis findet, wie eben der, der seine
flüchtigsten Regungen beobachtet und dem Entstehen jeder Reizung nachspürt.
Als ob dadurch sich das verscheuchte Unbewußte nur enger konzentrierte und
sich, ängstlich geworden, vollends jedem vorsichtigsten Blick entzöge.
Axenstein, 3. Mai 1900.
Hier darf man nicht schreiben. Mir ists wie eine Ahnung von Gesundwerden.
Basel, 13. Mai 1900.
Der See wirkt noch leise nach. Seine Schönheit ist unerschöpflich und ist
jetzt, da alle Berge noch tiefen Schnee haben, noch frischer und reiner. So
oft ich ihn schon besuchte, er ist immer wieder neu, voll Trost und
Reichtum. Jedesmal, wenn ich in Luzern an den Quai trete, beginnt seine
Wirkung und ist jedesmal verstärkt oder verändert. Ich meine nicht die
schönen Matten, nicht den Pilatus, die Wälder oder den Rigi, den
langweiligsten aller Berge, -- was mein Auge so begeistert, ist einzig die
Schönheit dieses klaren Wassers, das vom Blauschwarz übers Grün und Grau
bis zum silbernsten Silber jeder Farbe und Nuance fähig ist. Bald hat das
Wasser ein metallen schweres Grau, bald bei schwachem Wellenschlag ein
kühles Hellgrün, bald ist »Öl auf dem See«, wie die Maler verzweifelnd
sagen. Dies ist das Schönste, diese Flecken von verschiedenster Farbe, oft
mit scharfem Kontur begrenzt, oft in den verfeinertsten Übergängen
aufgelöst, darauf tiefblau die Wolkenschatten und silbern oder bleiern, je
nach der Sonne, die Schneespiegel. Aus großer Höhe verliert der See fast
allen Reiz, am schönsten ist er vom Boot aus oder, wenn viel Sonne ist, von
Morschach oder Seelisberg.
Ich sah neulich dort ein kühles, helles Blaugrün, ganz wie am Himmel das
Spätblau nach dem Abendrot, aber nicht goldig, sondern silbern getönt, --
diese unbeschreibliche Farbe und ihr Übergang zum völligen Mattsilber
gewährte mir eine ganz überschwängliche Lust, ein Gefühl der Befreiung vom
Gesetz der Schwere, ein Gefühl der Auflösung, als läge meine Seele kühl und
ohne von mir zu wissen auf dem schweigenden Seebusen ausgebreitet, ganz
Äther, ganz Farbe, ganz Schönheit. Nur äußerst selten hat mich ein Eindruck
künstlerischer, poetischer oder philosophischer Art in diese Höhe und Ruhe
versetzt. Das war nicht mehr die Freude am schönen Bild, die freundliche
Selbsttäuschung, welche man sich vor guten Kunstwerken gestattet -- im
Anblick dieser Farbe genoß ich für Augenblicke den Triumph der reinen
Schönheit über alle Regungen des bewußten und unbewußten Lebens. Hatte ich
nicht doch zuweilen an meinem Stern gezweifelt und war geneigt, einigen
landläufigen Angriffen gegen die »ästhetische Weltanschauung« Recht zu
geben? Ich weiß nun, daß meine Religion kein Aberglaube ist, daß es sich
lohnt, alle körperlichen und geistigen Dinge nur in ihren Beziehungen zur
Schönheit zu betrachten und daß diese Religion Erhebungen schenken kann,
die an Reinheit und Seligkeit denen der Märtyrer und Heiligen nicht
nachstehen. Daß sie zugleich nicht mindere Opfer verlangt und nicht
geringere Qualen und Zweifel und Kämpfe bringt, wußte ich längst. Der
Schönheit gegenüber ist in uns dieselbe Erbsünde, dasselbe Fallen und
Wiederaufstehen, dasselbe mit Beseligungen abwechselnde Elendgefühl, wie im
Leben des Christen. Überhaupt sind diese wahrhaftig Frommen für uns
Ästheten die einzigen würdigen Feinde, denn sie allein kennen ebenso tief
wie wir die Abgründe des täglichen Lebens, das Leiden unter der Gemeinheit,
das auf Knien Liegen vor dem Ideal, die Ehrfurcht vor der Wahrheit und die
schonungslose Konsequenz des Glaubens. Seit dem Untergang der von uns immer
nur höchstens annähernd verstandenen Antike sind immer nur diese beiden
Wege über das Gemeine hinausgegangen, denn nach meinem Gefühl ließen sich
die Wege der Ästheten und der Christen durchaus auch in der Geschichte der
Philosophie verfolgen. Jedenfalls führt auch der Weg des Denkers, sobald er
irgend eine Stellung zum Ewigen bewahrt, durch dieselben Opfer und Leiden,
durch schmerzhaftes Berühren einer immer offenen Wunde, durch Weltentsagung
in irgend einem Sinn, durch niedergezwungenen Ekel und durch die
Finsternisse des Zweifels am Ideal. Ist es der Philosoph, der
Schönheitsucher oder der Christ, zu dessen Ideal die immer gleiche »Welt«
im peinlicheren Kontraste steht? Alle drei jedenfalls leiden und alle drei
verschmähen die Kompromisse, also das »von Fall zu Fall«, und den Humor.
Oder gibt es wirklich einen Humor, vom gemeinen Witz abgesehen, dessen
letzter Grund nicht eine Schwachheit, ein Schwindeln und Zurücktreten vor
der schmerzlichen Konsequenz des Idealisten ist? Spürt man die Grenze nicht
in jedem witzigen Gespräch, wenn ein Mitredender noch so geistreich beginnt
an Dinge zu rühren, deren Wesen Würde ist und deren Mithereinziehen in den
Kreis des Witzes auch dem Gröbsten zuweilen ans Gewissen greift? Wie kann
man Mitspieler in einem Lustspiel sein wollen, da man doch weiß, daß der
Witz der Komödie auf der Erbärmlichkeit der Personen beruht? Jedoch liegt
für den toleranten Idealisten ein höchster komischer Reiz eben im
Untersinken eines Helden zum Gemeinen. Es gehört zu den Opfern, die wir dem
Ideal schuldig sind, auch diesen überaus verführerischen Reiz zu töten. Die
schwärmerischen Verliebten, die nach erfolgter Aufklärung über die geringe
Mitgift so komisch Halt machen, die Helden, die auf dem Weg zu etwas Edlem
im Augenblick des körperlichen Ermattens ihr Ideal für eine Mahlzeit
verkaufen, diese und alle ähnlichen Lustspielfiguren haben unter ihren
applaudierenden Zuschauern immer eine Menge von Brüdern, für welche der
heftigste Reiz des Spiels im halberwachenden Gewissen liegt. Manche von
diesen hätten vielleicht für Augenblicke Lust zur Entrüstung, da aber der
Mut fehlt und da sie schon hundertmal an derselben Klippe gestrandet sind,
applaudieren sie dem Helden und ahmen ihn nach, indem sie ihr Ideal für das
Vergnügen zu lachen verkaufen. Ich kenne wenige, denen es gelingt, und mir
selbst gelingt es selten, auch ein solches Spiel, falls dieses es verdient,
rein als Kunstäußerung und ohne Bezug zur stofflichen Komik zu genießen.
Die wenigen Lustspiele solcher Art, welche ich besuche, machen mich
meistens nur ärgerlich oder traurig, je nach der künstlerischen Qualität.
Basel, 19. Mai 1900.
Elisabeth. Ich traf sie im Garten. Sie trug eine neue Sommertoilette, sehr
einfach, matt hellblau. Sie saß auf der Schaukel und wiegte sich wie ein
schöner Vogel, der weiß, wie schön er ist. Und dann kam Frau Doktor, und es
wurde dunkel, man trank Tee und Eiswasser, Sterne kamen herauf. Ich
begleitete sie nach Hause und fühlte, daß ich heute abend langweilig war.
Ich erzählte sogar von einem Roman, den ich schreiben wolle und den ich ihr
zu dedizieren versprach.
Jetzt scheinen mir die Sterne ins Zimmer. Etwas von der ehemaligen süßen
Trauer klingt in mir an, eine Melodie von Chopin, aus der G-Moll-Ballade,
fällt mir ein.
Basel, 23. Mai 1900.
Ironie! Wir sprachen den ganzen Abend davon. Natürlich schreib ich wieder
nachts, ein Uhr. Ironie? Wir haben wenig davon. Und doch, sonderbar, lüstet
mich oft nach ihr. Meine ganze schwerblütige Art aufzulösen und als
schmucke Seifenblase ins Blaue zu blasen. Alles zur Oberfläche machen,
alles Ungesagte mit raffinierter Bewußtheit sich selber als entdecktes
Mysterium servieren! Ich weiß wohl, das ist Romantik. Das ist Fichte in
Schlegel, Schlegel in Tieck und Tieck ins Moderne übersetzt. Warum nicht?
Tieck ist unerreicht, auch von Heine unerreicht, und müßte eigentlich mit
seiner unplastischen, musikalischen Grazie mein Liebling sein.
Basel, 30. Mai 1900.
Schopenhauer. Ich habe oft das Gefühl, er mime und habe nicht recht, ohne
daß ich doch etwas besseres wüßte. Oder doch, ich weiß etwas besseres, aber
es ist zu schwer und unversucht zum Sagen.
Basel, 6. Juni 1900.
Meine Märchennovelle ist fertig. Man lobt sie, zuweilen mit Verständnis.
Mir genügt sie wieder nicht, so sehr die Lust beim Schreiben wuchs. Den
Cäsarius hab ich zu Ende. In den Kapiteln de tentationibus (?) speziell de
tentatione dormiendi (?) einige kleine reizende Stoffe. Meine Sammlung
Romantica um zwei gute Stücke vermehrt, die »Minnelieder« von 1803 und der
erste Sternbald, erstere überaus köstlich. Hoffmann tritt mir als
romantischer Erzähler immer mehr an die erste Stelle, Tieck versagt doch
öfters, auch in den Märchen, Novalis ist nicht fertig geworden und Brentano
ist doch zu bewußt formlos. Übrigens ist der Godwi ein geniales Buch,
oberflächlicher, aber unendlich reizender als der Lovell. Den Ofterdingen
abgerechnet, der nicht mehr Literatur ist, schätze ich doch eigentlich die
»Brambilla« am höchsten. Technisch betrachtet ist das meiste Seitherige
minderwertig, auch Keller hat nur wenige Mal einen Stoff so von innen
erleuchtet und so ganz zu Kunst gemacht. Wieviel Romantik übrigens in
Kellers Technik noch steckt, ist auffallend.
Vitznau, 4. September 1900.
In den Uffizien von Florenz könnte ich nicht so fleißig, selig und
eifersüchtig der Schönheit nachgehen wie auf diesem herrlichen Stück
Wasser.
September. Vormittagsnebel; selten ein Regentag. Heiße Mittagsstunden,
kühle Nächte bei zunehmendem Mond. Noch nirgends sieht man ein welkes
Blatt, das Laub ist spätsommergrün und bekommt schon überall den
Metallglanz des Septembers; Äpfel, Pfirsiche und Feigen fallen von den
überladenen Bäumen. Die Abende sind ohne Ausnahme hell, farbig und
leuchtend.
Vitznau, 5. September 1900.
O wenn ich jetzt die naive Genußsucht meiner früheren Jahre wieder hätte,
wenn noch mein Herz wie früher des berauschten schwelgerischen Schlagens
fähig wäre!
Aber trotzdem -- ich feiere täglich einen Kranz von Festen. Der See
entschleiert sich allmählich meinem fleißigen Auge und hält mich nun
fortwährend in einem Kreis von Lockungen, Reizen und Überraschungen
gefangen. Zuweilen hält er an sich, läßt mich warten und wirft mich dann
unversehens händevoll mit Kostbarkeiten, daß mir die Augen flimmern. Die
wesentlichen Farbenwechsel der einzelnen Buchten, Himmelsrichtungen und
Tageszeiten habe ich wohl erfaßt, aber was ist dieses Gerippe gegen das
überströmend freudige Leben, das sich ohne Ziel und Norm von Augenblick zu
Augenblick in unglaublicher Üppigkeit verblutet und erneuert!
Ich verbringe alle Stunden des Tages damit, dem See seine Farbenspiele und
Geheimnisse abzuspähen. Nachdem ich in den ersten Tagen die Uferwege
unzähligemal hin und her gestrichen, bringe ich nun ziemlich meine ganze
Zeit auf dem Wasser selbst zu. Zuweilen versuche ich es noch mit dem Blick
von oben her, ohne große Entdeckungen. Von der Höhe der Hammetschwand ist
das Wasser für mein Auge eben noch zu genießen, darüber hinaus schwindet
Glanz und Farbe von Meter zu Meter, und von Rigikulm aus ist der See stumpf
und beinahe grau anzusehen. In geringerer Höhe gewährt er noch einige feine
Reize, namentlich durch Wald hindurch betrachtet, wobei Buchen-, Kastanien-
und Eichenlaub zuweilen köstliche Nuancen gewähren.
Doch wozu diese ärmeren und entlegeneren Blicke suchen und Zeit und Sonne
daran vergeuden? Statt dessen kreuze ich den ganzen Tag im Boot auf der
Fläche und in den Buchten umher. Ein leichtes Kielboot, für die Ruhepausen
eine Zigarre und ein Band Plato, sowie Rute und Angelzeug, das ist meine
Ausrüstung.
Ob der Tag noch kommen wird, an dem ich in Worten diese Flut von bunten
Seligkeiten und farbig erregten Momenten werde zu Ende dichten können?
Diese Lockungen, Lüsternheiten, Begierden, diese plötzlichen
Befriedigungen, Ekstasen und Blendungen? Heute kann ich nur stammeln und
prosaisch notieren. Vielleicht wird es dabei bleiben, vielleicht ist es
überhaupt der Sprache nicht möglich, dem individuell forschenden und
genießenden Auge auch nur bis über die ersten gröberen Nuancen weg zu
folgen. Auch die Maler müssen ja schon bei den scheinbar simpelsten
Mischungen sich dem Instinkt überlassen und problematische eigene Wege
gehen. -- Kann man sich einen sprachlichen Pointillisten denken? Und doch
-- was ist Blaugrün? Was ist Perlblau? Wie läßt sich das leise Überwiegen
etwa des Gelb, des Kobaltblau, des Violett aussprechen? -- und doch liegt
in diesem leisen Überwiegen das ganze süße Geheimnis einer Stimmung, einer
beglückenden Kombination beschlossen.
Vitznau, 6. September 1900.
Das ist mein Fluch und Glück, daß ich keine Schönheit grob und froh
genießen kann, daß ich sie auflösen, durchdringen, in Einheiten zerlegen
und über die Möglichkeit ihres Wiederaufbauens auf künstlerischem Wege
nachdenken muß. Nur zuweilen kommt das alte schwere Wesen, das ich so
konsequent von mir abstreifte, für Augenblicke anklingend wieder über mich
-- die alte unschuldig stumpfe Hingebung und rechenschaftslose Schwelgerei.
Diese Augenblicke müssen immer seltener werden, ich darf um ihre kurze
trübe Lust nicht mein Ideal verkaufen, denn ein völliges Zurückkehren in
die harmlose Dämmerung ist mir doch nie mehr erlaubt. Wenn irgendwo, so
liegt für mich Lust und Sinn des Lebens im Fortschreiten, im immer
bewußteren Klarlegen und Durchdringen der Wesenheit und Gesetze des
Schönen.
Eine Stunde jenes Zurückdämmerns hatte ich heute. Nach Mittag, in der
herrlichen Sonnenglut, mitten auf dem breiten See, Weggis gegenüber. Ich
lag über die Rudersitze hingestreckt und blickte über die Seefläche. Eine
Flut von Rotblau und Gold schwoll vor meinem Blick breit und rastlos hin.
Alle meine Sinne schliefen und träumten; ein warmes schwärmerisches
Wohlsein hielt mich gebannt. Mein Auge vermochte keinen Kontur, keinen
Strahl, keine Lichtgrenze zu unterscheiden, mein Blick verlor allen Willen
und taumelte wie ein Freigelassener durch ein Meer von unverstandener
Schönheit, von Rot, Blau und Gold, ungleich und ziellos wie der Flatterflug
eines Falters.
Vitznau, 7. September 1900.
Der äußerste Vorsprung der »oberen Nase«, vom Lande unzugänglich, ist mit
einer kleinen Pflanzung junger, ich schätze etwa fünfzehnjähriger Eichen
bestanden. Das helle, in der Farbe herbe Laub gibt im Wasser einen
wunderbaren Effekt. Der ganze Wasserfleck erscheint schon von ferne
ausgezeichnet durch eine aparte, gelbliche Helligkeit, und überraschend
köstlich ist es, aus dem tiefgrünen, vormittäglichen See in diese
scharfbegrenzte, hellere Fläche zu fahren. Ich sah heute dort, leider ohne
Sonne, den Spiegelkontur einer weißen Wolke diese eichengrüne Grenze
zweimal schneiden. Das Weiß blieb unverändert und zeigte nur an der
Seeseite schärfere Konturen. Während ich die schönen Linien verfolgte, ging
ein Dampfer vorüber, in dessen Kielwasser plötzlich das Silber eines
flüchtigen Sonnenblickes aufblitzte. Einige Sekunden lang blieb der ebene
Wasserstreif im Silber, die jenseitigen Schiffswellen glänzten matt
goldbraun, die diesseitigen blieben hellgrün mit weißen Lichtern. Einige
Sekunden -- und in diesen Sekunden verstand und genoß ich mit freiem Auge
diese plötzliche, raffinierte Kombination wie das Lächeln einer Göttin, wie
den aufleuchtenden, reimgeschmückten, prägnanten Vers eines Gedichtes.
Vitznau, 8. September 1900.
Ein unsicherer, windiger Tag, mit flüchtigen Sonnenblitzen. Ich fuhr Buochs
gegenüber am Bürgenstock hin. Jenseits glomm der See gegen das Ufer hin
unzähligemal in einer seltsamen, feinen, kühlen Farbenflucht auf, ganz wie
blanker Stahl im Verkühlen: rotblau, rotbraun, gelb, weiß. Von halber Höhe
des Bürgenstocks drang Geläute von Kuhglocken herab. Die schönen, welligen
Matten standen lichtgrün in den blassen Himmel und zeigten jenen
unsäglichen, traurig-kühlen herbstlichen Ton, den man nie entstehen sieht
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