Hermann Lauscher - 6

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wie ein großes Fabelbuch vor uns aufgeschlagen. Ich las dir vor, der große
Ahorn rauschte darein, die Luft und die Geschichte waren voll Veilchenduft.
Ich las dir vor bis zu jener traurigen Stelle -- weißt du noch? Es war
beinahe dunkel geworden und im Goldregenbusch begann die Nachtigall. Ach
hätten wir doch zu Ende gelesen! Aber du weintest und stießest das Buch von
deinem Schoß und liefest fort. Jenen ganzen Abend und die halbe Nacht sang
unsre Nachtigall.
Ich weiß jetzt das Geheimnis der Nachtigall und singe schon lang nach
derselben Weise. Man hört diese Lieder gern, sie gleiten weich und sind
voll Wohllaut, aber der Text ist traurig, er ist sogar zuweilen bitter,
sogar gemein. Ach, die besten Lieder standen im Buch meiner Jugend auf
jenen Seiten, die du so unmutig überschlugst. Sie quälen mich seither, und
stöhnen, und wollen gesungen sein, aber ihre Zeit ist vorüber, sie ist gar
nie gewesen, denn die schönsten Seiten im Buch meiner Jugend überschlugst
du an jenem Abend im Veilchengarten. Die Kapitel waren dir gewidmet --
warum wolltest du sie nicht lesen? Sie fehlen jetzt mir und dir wie
gesprungene Saiten auf einer Harfe. Die Harfe klingt wie sonst, nur wenn
die Melodie auf die gebrochenen Saiten springt, entsteht ein herzbeklemmend
leeres Schweigen und reißt mitten durch das ganze Lied. Hast du nie auf
einer Harfe spielen hören, an welcher eine Saite fehlte? War es dir nicht
jedesmal, wenn jene bange leere Pause kam, als sei es gerade der süßeste,
erlösende Ton, der nun dem Liede fehlt? Und ist nicht immer das Süßeste,
Erlösende, brennend Erdürstete gerade das, was mir und dir in jedem
Augenblicke fehlt?
Hab ich dich traurig gemacht? Verzeih' mir, Maria! Ich wollte es nicht tun,
ich wollte dir keinen Vorwurf machen. Ich wollte dich nur fragen, ob du
noch an jenen fernen warmen Frühlingsabend denkst. Ich wollte nur dich
erinnern, dich fragen und dein Kopfnicken wiedersehen, die träumerisch
graziöse Bewegung, die schon damals mein knabenhaftes Herz entzückte. Denk'
dir, der Abend wäre heute wieder! Du brauchst nur die Augen zu schließen,
zu lächeln und deine Hand auf meine Hand zu legen. Hörst du nicht den
großen Ahorn rauschen? Siehst du nicht das Veilchenbeet und die
Taxushecken? Hörst du nicht ein feines knisterndes Wiegen? Ein großes
helles Ahornblatt wankt hoch oben vom Zweig und dreht sich leise durch die
warme Luft herab, ganz wie damals, ganz wie damals. --
* * * * *
O Maria! Warum hast du die Augen aufgemacht? Und siehst mich so traurig,
bitter und erschrocken an! Der Traum ist hin.
Und das große Ahornblatt dreht sich in der Luft und sinkt und fällt, und
liegt auf dem Sims meines Fensters. Es ist welk, ich hör's am Fallen, und
wende das Gesicht zur Seite. Draußen ist Regen, Stille und Mitternacht.
* * * * *

Die zweite Nacht.
Du bist heute schweigsam, meine schöne Muse! Komm, spiel mit mir, die Nacht
ist so lang! Was spielen wir?
Meine Muse schweigt, nimmt meinen Arm und steigt mit mir in unser
schneeweißes Nachtschloß, die breite fürstliche Treppe empor, an den
geduldigen steinernen Löwen vorbei, durch die offenen halbbögigen
Torflügel, über die schwarzweißen Samtfelder der Flurteppiche und die
geschwungene massive Treppe hinan. Sie führt mich an den Drachenleuchtern
vorbei in den großen Flügelsaal, wo unser Brunnen zwischen den glänzenden
Porphyrsäulen so kühl und weltverloren in seine tiefe Bronzemuschel
rauscht. Wir sitzen vor der dunklen tönenden Schale nieder, durch die
offenen Fensterbogen blendet das weiße Mondlicht herein und verzittert auf
dem sich kräuselnden Wasser in bleichen, zerrinnenden Silberlinien.
Gegenüber, jenseits des Brunnens, glänzt auf der geräumigen Dreieckfläche
einer schwarzen Pyramide die smaragdene Tafel des Hermes Trismegistus.
»Wir hätten sie weglassen sollen,« sagt meine Muse.
Du hast recht. Sie ängstigt nur.
»Und doch haben wir sie in so vielen unvergeßlichen Mondnächten zusammen
gelesen.«
Freilich -- damals.
»Damals! Du mußt das nicht so tragisch sagen.«
Aber doch, -- damals.
»Nein! Das macht traurig.«
Möchtest du lustig sein?
»Man kann es nicht in diesem Saal.«
Nicht? Wir waren's doch, es ist nicht lange her.
»Er wird mir langweilig. Diese Säulen sind so plump, und immer dieses
Brunnengeräusch, und dieser ewige Delphin.«
Wir müssen einen andern Saal bauen. Beim Schilfsee, oder über dem
Platanenwald. Einen roten Saal. --
»Rot?«
Meinst du nicht?
»Nun, also rot. Und dann lassen wir die Wände mit goldenen Palmenreliefs
schmücken, und dann tanzen wir dort nach einer Mozartmusik Gavotte und
sehen von den hohen Fenstern auf den schwarzen Wald. Und dann werden wir
traurig, kehren in den alten Porphyrsaal zurück und hören dem Brunnen zu.
Eigentlich haben wir das schon jetzt. Wir hätten dann zwei Säle, in denen
wir traurig sein können.«
Dann ist es besser, hier zu bleiben.
»Und traurig zu sein.«
Was fehlt dir nur?
»Ich weiß nicht. -- Schenk mir was!«
Was du haben willst. Soll ich dir das Salzfaß des Cellini schenken?
»Das mit dem Neptun? Nein, nein.«
Oder einen Garten? Ich weiß einen, auf den borromäischen Inseln --
»Ich weiß schon. Was soll er mir?«
Oder ich könnte dich malen lassen. Nicht in der Weise, wie dich Rossetti
gemalt hat. In deinem Narzissenkleid, als Flora -- ich weiß einen Maler,
einen Franzosen --
»Oder Spanier, oder Russen. Nein, nein.«
Dann schenk ich dir eine Harfe. Es gibt eine zedernholzene, dreifüßige, aus
den Schatzkammern des --
»Ich will keine Harfe.«
Dann -- ja was willst du dann haben? Soll ich dir ein Lied singen?
»Ja, wenn du kannst. Ich warte.«
Aber ich kann doch nicht ohne dich --
»Also, was willst du?«
Du bist unersättlich. Was hab ich dir getan?
»Frag nicht! Frag nicht!«
So will ich dir erzählen. Willst du?
»Von den sieben Prinzessinnen?«
Nein. Von einem Garten im Schwarzwald, wo ein kleiner Knabe mit einem
kleinen Mädchen unter den blauen Fliedern saß. Der Knabe hatte das Mädchen
lieb, und als sie beide größer geworden waren, an einem Abend im warmen
Juni, hingen sie mit roten heißen Lippen aneinander. --
»Weiter! Und dann --?«
Dann kam eine fremde schlanke Frau mit dunkelgroßen Augen, ganz wie du sie
hast. Die sang so schön und war so fremd und lockend, daß der Knabe sein
liebes Nachbarkind vergaß. Er ging mit der fremden Frau in ein anderes
Land, wo die Sterne größer und die Nächte blauer sind. Sie bauten sich ein
helles Schloß und darin einen Saal mit Porphyrsäulen, darin ein ewiger
Brunnen in eine bronzene Muschelschale klang. Dort sitzen sie nun bei dem
Brunnen und sehen den Mond im Wasser verleuchten. Sie haben kühle Hände
ineinander gelegt und reden kühle Worte zu einander, und ich glaube, daß
jedes von den beiden Heimweh hat. Wenigstens der Knabe, der inzwischen alt
und anders geworden ist. Ich weiß, daß er an seine Heimat denkt und daß
eine verjährte, knabenhafte Untreue durch sein Leben geht wie ein feiner
Sprung durch klares Glas.
»Das ist eine traurige Geschichte. Ist sie zu Ende?«
Noch nicht. Und ich glaube, der Schluß wird das traurigste sein. Glaubst du
nicht auch?
»Ich weiß nicht. Ich weiß auch nicht, ob der Knabe die fremde Frau noch
immer liebt.«
Man hat keine Nachricht darüber. Oder soll ich Ja sagen?
* * * * *

Die dritte Nacht.
Lege deinen blonden Kopf an meine Schulter, meine arme Muse! Ich sehe wohl
auf deiner schönen Stirne diese leisen, schwermütigen Linien, ich sehe wohl
beim Beugen deines Halses diese müde, kranke Bewegung, und ich vermag auch
wohl in dem feinen, feinen Aderspiel deiner klaren, weißen Schläfe zu
lesen.
Komm, weine nur! Das ist Herbst, das ist die letzte zitternde Mahnung der
unaufhaltsamen Jugendflucht. Du kannst sie auch in meinen Augen lesen, auch
auf meiner Stirn und auf meinen Händen steht sie geschrieben, tiefer als
auf deinen, und auch in mir ruft dieses peinigende, schluchzende Wehgefühl:
es ist zu früh, es ist zu früh!
Komm, weine nur! Wir sind noch nicht am Ende, wenn wir noch weinen können.
Wir wollen diese Tränen und diese Trauer mit aller eifersüchtigen Sorge
unserer Liebe bewachen. Vielleicht steht hinter diesen Tränen unser
Kleinod, unsere Poesie, unser großes Lied, auf das wir warten.
Unsere rosenroten Liebeszeiten sind vorüber, aber sie rühren noch mit so
viel zarten Fäden an uns -- laß ihnen ihr schmerzlich schönes
Vergangensein! Wir wollen ihnen mit Kosenamen und mit Liedern rufen, wir
wollen ihre hellen Erinnerungen wie scheue, geliebte Gäste durch Zartheit
und schonende Pflege festhalten. Auch wollen wir nicht mehr davon reden,
wie viele Frühlinge wir uns selber entblättert haben, ich und du; wir
wollen denken: Es hat so kommen müssen, und wir wollen nicht aufhören uns
zu schmücken und zu warten -- auf unser Lied.
Unser Lied! Weißt du noch, wie wir von ihm träumten, in jener ersten Zeit
unserer Liebe? Das war im Kloster, in jener prachtvollen Brunnenkapelle, wo
sich der Laut des fallenden Wassers so zart mit der klösterlichen
Schweigsamkeit der gotischen Kreuzgänge verflocht. Weißt du noch? Und jene
Abende! Die kühlen, mondhellen Abende jenes Spätherbstes, die so weich und
traumverzaubert auf den Dächern des Klosters lagen, und auf dem kahlen
Garten und über den duftigen, kühlen Bergen! Der Wind lief durch die
steinernen Fensterblumen und gewann Klang in den schwarzen Kreuzgewölben,
der Mondschein lief über die breiten Simse und über die weißen Dielen des
Oratoriums. Und ich erzählte meinem Freund Wilhelm in der verborgenen
Fensternische von der fernen dunklen Zeit, in welcher die Klöster und die
großen Dome aus der Erde wuchsen, und von den Stiftern, Rittern, Bauherren
und Äbten, deren bildnisgeschmückte Grabsteine drunten im Kreuzgang fremd
und gespenstisch im weißen Mondschein lagen. Ich hatte damals mehrere
Freunde, von denen Wilhelm mein Liebling war. Du sahest ihn oft mit mir,
zumal in solchen Mondnächten, und auch die andern: schlanke, begeisterte
Knaben wie ich selbst. Frag nicht, wo sie sind und was aus unserer
Freundschaft geworden ist! Auch jetzt hab ich Freunde, zwei, drei -- von
den damaligen ist keiner mehr darunter. Aber du bist noch da und liebst
mich noch, und bald oder spät, wenn auch die Freunde von heute tot oder
fremd sein werden und kein Mensch mehr von meiner Jugend mit mir plaudern
wird, wirst du noch immer bei mir sein, und mich zuweilen bitten, von den
vergangenen schöneren Zeiten zu reden. Dann werden wir auch an heute denken
und dieses traurige Heute wird uns wunderbar fern und lieb erscheinen wie
eine ferne kleine Jugend. Und vielleicht wird dann aus diesem
ferngewordenen, von Erinnerung verklärten Heute unser Lied aufsteigen.
Unser Lied!
Das Lied wäre dann ein weiches, duftiges Bild voll Zauber und Seele, aus
dessen dunkeltönigem Grund unsere Gestalten weich wie ein Traum mit
schwebenden Konturen hervortauchten, der schlaflose Dichter mit der in die
heiße Hand gestützten regen Stirn und an seine Schulter gelehnt der schöne,
müde Blondkopf seiner knieenden Muse. Und dieses eine, zarte Bild würde
allein übrig bleiben von meinem rastlosen Leben; lang nach meinem Tode noch
würden spätgeborene Freunde es betrachten und lieben. »Der arme Dichter!«
würden sie sagen und doch den armen Dichter um sein einziges unsterbliches
Bild und um seine blonde, unbeschreibliche, knieende Muse beneiden.
Du lächelst wieder? Küsse mich, meine blonde Muse! Küsse mich und verzeih
mir und dir um unseres Liedes willen alle Qual und allen Jugendraub, den
wir aneinander begangen haben!
* * * * *

Die vierte Nacht.
Warum willst du die alte Geschichte wieder hören? Ich hatte sie selbst fast
vergessen und das wäre für mich und für die Geschichte das beste gewesen.
-- Der verstorbene Dichter Hermann Lauscher lebte noch und wanderte in den
alten Straßen der Stadt Bern umher. Es war ein Tag im November, windig und
regendrohend. Der vereinsamte Dichter genoß in vollen Zügen die ihm
liebgewordene Stimmung, sich heimatlos am fremden Orte umzutreiben. Die
alten dunkeln Straßen mit den festen, burgartigen Häusern, vorspringenden
Kellerhälsen und finster traulichen Arkaden reizten in dem kranken
Dichtergemüt jene bittere Stimmung aufs höchste, dazu kam die unwirtliche
Rauheit des Tages, so daß der arme Heimatlose härter als je den Zwiespalt
seiner krankhaft reizbaren Seele und an den Erinnerungen seines unsteten,
zerrissenen und fruchtlosen Lebens litt. Wie er mir nachher erzählte,
spielte seine Phantasie beim Anblick dieser dunkeln, engen Arkaden in
melancholischer Laune mit hundert eingebildeten Möglichkeiten. Er dachte
sich einen lang entbehrten Freund, eine verlorene Geliebte, an deren
Begegnung die wichtigste und seligste Entscheidung seines Glückes hinge, in
derselben Straße wandeln, zehn Schritte von ihm, von den Schatten der
nächsten Arkade verborgen. Ein Augenblick vielleicht, in welchem die nahe
Gestalt sichtbar ward, ja vielleicht herüberblickte -- aber eben in diesem
einen Augenblick hat er sich abgewendet und hat mit dieser kleinen,
zufälligen Bewegung Augenblick und Zukunft verscherzt.
Er erschrak, als ich ihn plötzlich auf die Schulter klopfte, und in dieser
Sekunde sah ich in seinen Augen zum erstenmal den flackernden, traurigen
Glanz des Irrsinns zucken. Wir gingen nun zusammen durch die Straßen,
erstiegen den Münsterturm, weideten uns am Anblick der prachtvollen
Gobelins im historischen Museum, aßen in einem Wirtshause tief unter der
großen Aarebrücke gebackene Forellen und strandeten nach einer zweiten
Wanderung im Keller des Kornhauses.
Du weißt, der arme Lauscher war in jener letzten Zeit seines unglücklichen
Lebens ein starker Weinzecher, und so saßen wir bald bei der zweiten und
dritten Flasche. Es war der schäumige Neuenburger, den ich schlecht
ertrage, so daß ich bald mit schwerem Kopf ihn ganz in seinen launisch
wirren Reden gewähren ließ. Er kam auf jene Arkadenphantasie zu sprechen.
Ich lachte ihn aus und rühmte mich, jenen wichtigen Augenblick erfaßt und
ihn, den ich in Bern gewiß nicht zu treffen hoffte, gefunden zu haben. Er
lächelte rauh und sagte: »Kein Beweis, mein Guter! Das Unglück trifft man
überall. Aber weißt du denn, ob nicht eben in dem Moment, wo du mich so
derb aus meinen Gedanken rissest, ob nicht eben in diesem Moment jemand
hinter uns vorüberging, den du seit Jahren suchst und den du in Jahren
nicht wieder treffen wirst?« Mir wurde sonderbar zu Mut. »An wen denkst du
denn dabei?« fragte ich fast schüchtern. Er lachte. »Ei,« sagte er dann,
»ich denke an niemand besonders. Es ist ja nur eine Hypothese. Aber es
hätte ja zum Beispiel eine gewisse blonde Maria sein können.«
Ich kann dir nicht sagen, wie bei diesem Namen mein Herz in Grauen und
Liebe den Takt verlor. »Woher weißt du?« fragte ich Lauschern heftig, »ich
habe nie einem Menschen von Maria erzählt und glaubte, ich selbst hätte sie
und ihren Namen vergessen. Kennst du sie? Lebt sie noch? Ist sie hier in
Bern?«
Lauscher lachte wieder und steckte sich eine neue Zigarre an. »Ob sie noch
lebt,« sagte er, »weiß ich nicht. Ich habe sie seit vielen Jahren nicht
wiedergesehen.«
»Wann war das?« fragte ich atemlos.
»Hab ich dirs nie erzählt?« sagte er und nahm einen starken Schluck. »Sie
war so schön! Sie saß mit mir auf einer grünen Bank im Veilchengarten, die
Nachtigall sang zum erstenmal im Jahr. Wir lasen zusammen in einem großen
Buch --«
»Halt ein,« rief ich totblaß, »halt ein oder ich bringe dich um! Das war ja
ich, das war ich, der mit Maria auf der grünen Bank saß, und das Buch --«
»Schrei doch nicht so,« sagte Lauscher und schenkte mein Glas voll.
»Aber Lauscher, sag mir um Gotteswillen --« flehte ich.
»Bibamus! Dein Wohl!« lächelte er und stieß an. »Soll ich weiter erzählen?
Das Buch enthielt eine schöne Jugendgeschichte und war höchst angenehm zu
lesen. Zwischen den Lettern stiegen Maria und ich als kleine arabeskenhafte
Figuren durch allerlei Blumenranken auf und ab.«
»Maria und ich!« rief ich aus.
»Nun ja, wie ich sage,« fuhr Lauscher fort. »Maria aber las unruhig und
zerstreut. Und als die Geschichte anfing traurig zu werden, da schlug sie
eine ganze Handvoll Blätter um und --«
»Und lief in den Wald, und die Nachtigall sang wieder -- o Lauscher!«
»Bibamus,« sagte Lauscher.
Ich legte den schweren Kopf in beide Hände und hätte am liebsten laut
geschluchzt. Als ich nach einer Weile mich erhob, war Lauscher fort. Mit
schmerzender Stirne und halb berauscht verließ ich den Keller. Es war kurz
vor Lauschers Tod.
* * * * *

Die fünfte Nacht.
Eigentlich waren die Veilchen an allem schuld, die Veilchen und der
Frühling, und ohne sie wäre die ganze süße Pein mir fremd geblieben, an der
seither mein Leben verblutet.
Jene Veilchen im Garten waren schuld, daß in meiner fröhlichen Knabenseele
die duftend dunklen Schatten emporstiegen. Ihr Duft war daran schuld, daß
die Frühlingsgeschichte in unserm Buche plötzlich so beklommen, traurig und
sehnsüchtig wurde, daß die schöne Maria davonlief und daß die Nachtigall im
dunkeln Abendlaub so angstvoll süß und herzbeklemmend zu singen begann.
O wenn ich diese Nachtigall nie gehört hätte! Dann hätten nicht die
liebsten Lieder aufgehört mich zu erfreuen, dann wäre nicht die dunkle
Sehnsucht in mir erwacht. Dann hätte ich nicht begonnen, von jenem Glück zu
träumen, das irgendwo hinter dem Leben wie hinter einer verwunschenen Hecke
schläft. Dann wäre auch der unselige Traum noch ungeträumt, daß das beste,
seligste Stück meines Lebens in jenem Buche ungelesen und unerlebt
geblieben sei. Dann wäre ich kein Dichter geworden und die traurig beredte,
zweifelsüchtige Sprache des Leidens wäre mir unbekannt geblieben.
Aber Träume sind keine Schäume. Und das Lied unserer Nachtigall mit seiner
letzten, grausam schönen Dissonanz klingt in mir weiter und sehnt sich nach
seiner Lösung. Und es verwandelte sich in meinen Lieblingstraum von jenem
Lied der Lieder, dessen ungesungene, vereinzelt aufdämmernde Takte mir in
Blut und Leben übergegangen sind und mich stündlich mit ihren feinen, noch
ungelösten Dissonanzen peinigen. Ich glaube nicht an jene Dichter, aus
deren Haupte, wie man sagt, die fertigen klingenden Verse wie gepanzerte
Göttinnen hervorspringen. Ich weiß, wieviel innerstes Leben und wieviel
rotes Herzblut jeder einzige echte Vers getrunken haben muß, ehe er auf
seinen Füßen stehen und wandeln kann. Und das wäre noch leicht zu ertragen.
Aber dann jedesmal das spottend grausame Gefühl, daß der Vers, so hübsch er
sei, doch wieder nicht die Tiefe erschöpft, doch wieder den Keim der alten
Dissonanz in sich trägt und doch wieder nur ein Spiegel des Dichters und
nicht der Spiegel seines glühend schönen, sehnsüchtigen Traumes ist! Und
doch hat er so tief an unserm Leben sich genährt und so viel Herzblut
mitgenommen! Ach und dann, wenn man älter wird und seine Grenzen ahnt --
diese Hast, dieses Wechseln von Schonung und Verschwendung, diese immer
enger drückende, furchtbare Angst zu sterben, ehe der geträumte Ton
erklang, zu sterben ohne Erfüllung nach einem lebenlangen Warten und
Vorbereiten! Und dazu bei jedem neuen Unterliegen und Zweifeln diese
vorwurfsvolle Stimme der dem Unbewußten entrissenen, gemarterten eigenen
Seele, deren Entblößung nur durch das unberechenbare Glücken des großen,
unsterblichen Wortes versöhnt und geheiligt wird! Ach, man hat so viel
Schimpfliches von den Dichtern gesagt, aber das Schimpflichste wußten und
wissen sie selber und halten es ängstlich geheim -- sogar vor den eigenen
Augen!
* * * * *

Die sechste Nacht.
Finsternis, Stille, Einsamkeit. Diese furchtbaren Nächte sind endlos für
das winzige Taktmaß meiner tickenden Uhr und meines in den heißen Schläfen
fiebernden Blutes. An alles Sanfte und Tröstende versuche ich zu denken,
ich beschwöre alle milden Erinnerungen, alle freundlichen Sterne des
Gedankens und der Poesie, alle besänftigenden Gleichnisse. Es ist umsonst,
und kein Gedanke hält vor der bedrückenden Gegenwart dieser Stunde stand.
Wenn jetzt selbst meine Mutter sich zu mir setzte und mir alle
Zärtlichkeiten der Liebe und Erinnerung gewährte -- ich würde lächeln und
nicht weniger leiden.
O schlaflose Nacht! Alle Kräfte und Beziehungen meines Wesens und meines
Lebens an die trübe Oberfläche dieser einen Nacht gedrängt zu machtlos
müder Selbstbetrachtung! Hat kein von mir verehrter Gott so viel Mitleid,
hat kein Andenken oder Gebet eines fernen Freundes so viel Leben und keine
meiner liebsten Erinnerungen so viel Wahrheit, den Bann dieses unsäglichen
Leidens zu brechen? Alles, was mich jemals freute und über die Stunde
erhob, hat Blick und Wärme verloren. Meine Götter sind steinern, und mein
Leben war ein blasser Traum, dessen Bildungen mein inneres Auge nur wie
fremde Schattenbilder berühren.
Liegt jetzt vielleicht einer meiner Freunde in einer fernen Stadt auf
seinem Bette wach und denkt an mich? Ach, er schläft! Und wohin ich meinen
trostbedürftigen Gedanken wende, finde ich nichts. Oder finde doch nur
Mitleidende, andere Dulder, eine blasse müde Gemeinde von Schlaflosen,
deren jeder so wie ich gepeinigt ohne Ruhe liegt, bleich, großäugig und
leidend. Ich grüße euch, traurige Brüder, die ihr fern von mir und fern
voneinander in vielen einsamen und dunkeln Schlafgemächern lieget. Ihr
leidet wie ich, ihr suchet mit großen Augen die unsichtbaren Gestalten der
Finsternis und habt Schmerzen, sobald ihr die starren Lider schließet.
Denkt ihr an Eure Brüder? Denkt ihr an mich? Ach wenn wir alle aneinander
dächten und alle das Gefühl dieser unsichtbaren schweigenden Gemeinde
hätten! Ich glaube, wir verständen uns, unsre feinen, rastlosen Nerven
wären der Mitteilung und Erwiderung fähig. Wir könnten uns ohne Worte über
viele stille nächtliche Meilen hinweg unser Leben, unsre Leiden und
Hoffnungen erzählen. Wir könnten vielleicht über fremde Schicksale weinen
und die eigenen würden uns im Mitteilen wieder neu und lieb. Wir würden
Zusammenhänge und Ahnungen, die uns im eigenen Leben emporstiegen, bei
Fremden wiederfinden, der Kreis erweiterte sich und wir sähen die Fäden,
deren Anfang und Ende wir in Händen zu halten glaubten, über Erdteile und
Geschlechter gemeinsam gezogen. An diesen Fäden rührend wie an einzelnen
Saiten einer Riesenharfe würden wir uns ein gemeinsames klareres Leben
weiterdichten und Schritte in der Erkenntnis des Ewigen tun, die wir allein
nicht tun können.
Ich kann euch nicht zurufen, meine Brüder. Aber ich will in jeder Nacht
mich euer erinnern und euch mit dem Gruß des Mitleidenden grüßen.
Indes ich dieses denke, berührt mich eine sanfte Hand. Meine Muse! O wie
ich Heimweh nach ihr hatte! Und sie wartete nur, bis in meiner
alleingelassenen Seele ein Gedanke der Güte aufstiege!
Die Nacht wird weicher, linder und freundlicher, die Sterne glänzen zarter,
und vor meiner Seele beginnt ein bekanntes Bild sich aus der Dunkelheit zu
lösen. Ich kenne dich! Das ist der Park, das ist die halbrunde Träumerbank,
das ist der Morgenduft jener Stunde, in der ich mein erstes Lied gedichtet
habe! Mein erstes Lied! Eine junge frühlinghafte Blutbuche stand darüber
und hüllte mich in ihre goldig roten Schatten. O jene süße, von Dichtung
und Liebe schüchtern berührte Stunde! Ich danke dir, meine Muse!
* * * * *

Die siebente Nacht.
Frag nicht so viel! Von der Blutbuchenbank im Park von B . . . soll ich dir
erzählen? Und von der toten Elise? Und wieder von Maria, und von den andern
-- lauter Liebesgeschichten?
Es sind so viele! Frauen, die mich liebten, und andere Frauen, schönere,
wunderbarere, geliebtere, die mich nicht liebten. Ich weiß nicht, welche
mich mehr gequält haben. Jene drei Sterne erster Größe, die so hell und
schwärmerisch am Himmel meiner Jugend und meiner Dichtung stehen: Maria,
Elise, Lilia -- die haben mich nicht geliebt. Von allen dreien aber litt
ich nicht solche Qual wie von der Einen, wilden Eleonor, und diese liebte
mich. Eleonor! Schon der Name! Fürstlich, schön, kühl, übermütig, süß und
feindselig zugleich. Ach, ich werde einmal von ihr singen --: Abend,
Spätsommer, tiefsammetblau, Sterne fallen aus der warmen Höhe. Wir beide in
der Spätrosenlaube, ich und Eleonor, selig elend, eins des andern innersten
Mangel kennend. Eleonor! Vorwissend spielten wir unsre Liebe zu Ende,
tragisch hohen Stils, mit großen Gebärden und in jedem Blick schon
unverhüllt der Anfang vom Ende! Und nahmen Abschied in einer
wetterleuchtenden Spätsommernacht zwischen letzten falben Rosen und rotem
Weinlaub, lachend-leidend, und gossen die herbe Hefe der Leidenschaft aus
zerspringenden Gläsern in die Nacht.
Ich will nicht mehr davon erzählen. Es ist seit jener Nacht, daß ich vom
Leben weiß, daß es ist wie die Bewegung eines Schläfers, wie das Aufstehen
einer kleinen Woge, wie das Lallen eines Halbwachen, und daß es kaum wert
ist, gelebt zu werden. -- Laß mich lieber von jenen andern Frauen reden!
Sie liebten mich nicht, sie hatten für mich nur jenes Mitleid, das in
großen gütigen Frauenaugen so unerträglich schön und grausam aussieht. Und
Eine davon verstand auch die Schönheit meiner Liebe und begriff, daß sie
nicht mit Umarmungen zu stillen wäre.
Dichterliebe! Du weißt, die Menschen achten sie nicht hoch, so wenig als
den Schmerz oder die Schönheit eines Liedes -- es ist ja nur ein Lied! Daß
einer liebt und vom ersten Tag seiner Liebe an auf den Genuß dieser Liebe
verzichtet und sie, ihm selbst unerreichbar, bekränzt zu Sehnsucht und
Traum in den Kreis der Sterne erhebt -- wie sollten sie es auch verstehen?
Sie wissen ja nicht, was Leben ist. Sie steigen wie kleine Wellen aus dem
Fluß der Zeit, und fallen zurück, und haben nie gewünscht, ihr Dasein mit
irgend einem Faden an die Ewigkeit zu knüpfen. Sie wissen nicht, daß jeder
Dichter sein Leben lang, oft halbbewußt, an den unsinnlich schönen Zügen
einer Beatrice dichtet. Heraufgespült und rasch stromab getrieben vom
trüben Fluß der Tage, schiffbrüchig schwimmend zwischen Geburt und Tod --
wo sollten wir mit unsern sehnsüchtigen Blicken das in uns gespiegelte Bild
des Ewigen suchen, wenn nicht in den Sternen? Von ihnen wissen wir, daß es
dieselben sind, an denen schon in heimatlos durchirrten Nächten das kluge,
traurige Auge des Dulders Odysseus hing.
O meine Muse, laß nicht die schönen Augen so mitleidig auf mir ruhen!
Siehst du, wie hinter dieser wachen, blassen Stirn ein unbegriffenes
körperloses Leben in fruchtlos aufzuckenden Flammen verlodert? Siehst du
schon die Nacht, in der ich so wie jetzt vor dir liegen werde, nur blasser,
ruhiger; die Nacht, in der die letzten verzweifelten Flammen hinter dieser
Stirn verglüht sein werden?
Doch nein! Daran denkst du nicht. Ich verstehe dich nun. Dein Blick verrät
mir: du weißt, daß du meine letzte Liebe bist. Daß du Maria, Elise, Lilia
und Eleonor hießest. Daß du Beatrice bist! Ich wußte es längst und brauchte
es nicht aus der florentinischen Schlankheit deiner Glieder, aus deinen
dantesken Zügen zu lesen. Vor deiner süßen Nähe zitterte mein Knabenherz
unter der Blutbuche, und es waren deine Augen, aus denen ich in jener
schwülen Spätsommernacht so viel Liebe und Elend las.
Und dein Blick verrät mir: du weißt, daß ich dein eigen bin und daß du mir
den Fuß auf den Nacken setzen darfst. Das ist der Mitleidblick im Auge
jener Frauen, vor denen eine edelgeborene Mannheit auf Knien liegt, jenes
halbe Herneigen, jene Lust einen Sklaven zu haben -- und dahinter die
spöttisch traurige Frage: Ist das Alles? Ist das die Liebe?
Wende diesen Blick von mir! Ich ertrage ihn nicht, mit seiner verborgenen
Frage, mit seiner traurigen Grausamkeit. O wie könnte ich dir mit Vorwürfen
antworten! Aber ich kenne dich. Du hörst mich an, du lächelst, nickst
sogar, wenn ich dich der Bitterkeit und des Bruches erinnere, die durch
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