Hermann Lauscher - 5

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O zögere nicht länger
Und liebe deinen Sänger!
Ein Windstoß warf das Fenster klirrend zu. In diesem Augenblick erwachte
der Wirt im Büffet und kam verdrießlich aus der Schanktüre hervor. Erich
warf Geld auf den Tisch, ließ sein Bier stehen, verließ ohne Gruß die Stube
und rannte mit einem Satze die Vortreppe hinunter dem Guitarrespieler in
den Rücken, der niemand anders als der Referendar Ripplein war, welcher nun
mit Erich zankend und grimmig auf dem Wall unter den Kastanien davonging.
Die schöne Lulu löschte die Gasflammen in Wirtsstube und Flur aus und stieg
in ihre Kammer hinauf. Sie hörte beim Vorbeigehen in Hermann Lauschers
Zimmer aufgeregte Schritte und öftere lange Seufzer tönen. Kopfschüttelnd
erreichte sie ihr Schlafgemach und legte sich zur Ruhe. Da sie nicht
sogleich einschlafen konnte, überdachte sie noch einmal den Abend; aber sie
lachte jetzt nicht mehr, vielmehr war sie traurig, und alles kam ihr wie
ein mißratenes Possenspiel vor. Sie wunderte sich in ihrem reinen Herzen
darüber, wie alle diese Menschen so töricht und enge bloß an sich selber
dachten und auch an ihr im Grunde doch nur das hübsche Gesicht ehrten und
liebten. Diese jungen Männer schienen ihr wie irregeleitete arme
Nachtflügler um kleine Lichtlein zu taumeln, während sie große Reden im
Munde führten. Es erschien ihr traurig und lächerlich, wie sie immerfort
von Schönheit, Jugend und Rosen redeten, farbige Theaterwände von Worten um
sich her aufbauten, indes die ganze herbe Wahrheit des Lebens fremd an
ihnen vorüberlief. In ihrer kleinen einfachen Mädchenseele stand diese
Wahrheit schlicht und tief geschrieben, und daß die Kunst des Lebens im
Leidenlernen und Lächelnlernen bestehe.
Der Dichter Lauscher lag in seinem Bette im Halbschlummer. Die Nacht war
schwül. Rasche, unvollendete, fiebernde Gedanken stiegen in seiner heißen
Stirn empor und verloren sich in flüchtig verblassenden Träumen, ohne daß
darüber die schwere Schwüle der Augustnacht und das zähe, peinigende Singen
einiger Schnaken seinem Bewußtsein entschwunden wäre. Die Schnaken
folterten ihn am meisten; bald schienen sie zu singen:
Vollkommenheit,
Man sieht dich selten, aber heut . . .
bald war es das Lied der Traumharfe. Dann kam ihm plötzlich wieder in den
Sinn, daß nun die schöne Lulu seine Verse in Händen habe und von seiner
Liebe wisse. Daß Oskar Ripplein das Guitarreständchen gebracht, und daß
wahrscheinlich auch Erich heute Abend dem schönen Mädchen Geständnisse
gemacht habe, war ihm nicht verborgen geblieben. Das Rätselhafte im Wesen
der Geliebten, ihre ahnungsvoll unbewußte Verknüpfung mit dem Philosophen
Drehdichum, mit der askischen Sage und Hamelts Traum, ihre fremdartig
seelenvolle Schönheit und ihr alltäglich-graues Schicksal beschäftigten des
Dichters Gedanken. Daß die ganze eng befreundete Runde des Cénacle
plötzlich wie um den Magnetberg um das fremde Mädchen kreiste und daß er
selbst, statt Abschied zu nehmen und zu reisen, sich mit jeder Stunde enger
vom Netz dieses Liebesmärchens umstricken ließ, das alles kam ihm nun vor,
als wäre er und wären die andern lauter Traumgestalten eines
phantasierenden Humoristen oder Figuren einer grotesken Sage. In seinem
schmerzenden Haupte stieg die Vorstellung auf, dieses ganze Durcheinander
und er selbst und Lulu wären ohnmächtige, willenlose Fragmente aus einem
Manuskripte des alten Philosophen, hypothetische, versuchsweise kombinierte
Teile einer unvollendeten ästhetischen Spekulation. Dennoch sträubte sich
alles in ihm gegen ein solches unglückliches cogito ergo sum, er raffte
sich zusammen, stand auf und trat ans offene Fenster. Nun bei klarerem
Nachdenken erkannte er bald die hoffnungslose Albernheit seiner lyrischen
Liebeserklärung; er fühlte wohl, daß die schöne Lulu ihn nicht liebe und im
Grunde lächerlich fände. Traurig legte er sich ins Fenster, Sterne traten
zwischen den leichten Wolken hervor, ein Wind lief über die dunkeln Kronen
der Kastanien. Der Dichter beschloß, daß morgen sein letzter Tag in
Kirchheim sein sollte. Zugleich traurig und erlösend drang das Gefühl der
Entsagung durch seinen müden, vom Traum der letzten Tage schwül umfangenen
Sinn.

VII.
Als Lauscher andern Tages früh in die Wirtsstube hinabkam, war Lulu schon
mit den Tassen beschäftigt. Beide setzten sich zum dampfenden Kaffee. Lulu
erschien dem Gaste merkwürdig verändert. Eine fast königliche Klarheit
leuchtete auf ihrem reinen, süßen Gesicht, und eine besondere Güte und
Klugheit blickte aus ihren schönen, vertieften Augen.
»Lulu, Sie sind über Nacht schöner geworden,« sagte Lauscher bewundernd.
»Ich wußte nicht, daß dies möglich wäre.«
Sie lächelte nickend: »Ja, ich habe einen Traum gehabt, einen Traum . . .«
Der Dichter fragte mit einem erstaunten Blick über den Tisch hinüber.
»Nein,« sagte sie. »Ich darf ihn nicht erzählen.«
In diesem Augenblick trat die Morgensonne ins Fenster und glänzte durch die
dunkeln Haare der schönen Lulu stolz und golden wie eine Glorie. Andächtig
mit trauriger Freude hing des Dichters Blick an dem köstlichen Bilde. Lulu
nickte ihm zu, lächelte wieder und sagte: »Ich muß Ihnen noch danken,
lieber Herr Lauscher. Sie haben mir gestern Verse geschenkt, die mir hübsch
erscheinen, obwohl ich sie nicht ganz verstehen kann.«
»Es war ein schwüler Abend gestern,« sagte Lauscher und blickte der Schönen
in die Augen. »Darf ich das Blatt noch einmal sehen?«
Sie gab es ihm hin. Er überlas es leise noch einmal, faltete es zusammen
und verbarg es in seiner Tasche. Die schöne Lulu sah schweigend zu und
nickte nachdenklich. Nun wurde der Wirt auf der Treppe hörbar, Lulu sprang
auf und begann ihre Morgenarbeit. Grüßend trat der kleine, feiste Wirt
herein.
»Guten Morgen, Herr Müller!« antwortete Hermann Lauscher. »Ich bin heute
zum letzten Mal Ihr Gast. Morgen früh reise ich.«
»Aber ich hatte doch gedacht, Herr Lauscher . . .«
»Schon gut. Auf heute abend stellen Sie ein paar Flaschen Champagner kalt
und räumen uns das hintere Zimmer ein, zum Abschiedfeiern!«
»Wie Herr Lauscher befehlen!«
Lauscher verließ Stube und Gasthaus und begab sich auf den Weg zu Ludwig
Ugel, seinem Liebling, um diesen letzten Tag mit ihm zusammen zu sein.
Aus Ugels kleiner Bude in der Steingaustraße klang schon Morgenmusik. Ugel
stand in Hemdärmeln noch ungekämmt am Kaffeetisch und spielte seine brave
Violine, daß es eine Lust war. Das ganze Stüblein war voll Sonne.
»Ist's wahr, du willst morgen reisen?« rief Ugel dem Dichter entgegen. Der
war nicht wenig verwundert.
»Woher weißt du's denn schon?«
»Von Drehdichum.«
»Drehdichum? Der Teufel werde klug daraus!«
»Ja, der Alte war die halbe Nacht bei mir. Ein toller Bruder! Er faselte
wieder was Langes, Farbiges von seinen Prinzessingeschichten, Liliengärten
und dergleichen. Meinte, ich müsse die Prinzessin erlösen; er hätte sich in
dir getäuscht, du seiest nicht die wahre Harfe Silberlied. Verrückt, nicht?
Ich verstand kein Wort.«
»Ich verstehe es,« sagte Lauscher leise. »Der Alte hat recht.«
Noch eine Weile hörte er Ugeln zu, der nun die begonnene Sonate zu Ende
spielte. Bald darauf verließen beide Freunde Arm in Arm die Stadt und
wandten sich gegen die Plochinger Steige in den Wald. Sie redeten wenig;
der Abschied machte beide stumm. Der Morgen lag warm und glänzend über den
schönen Bergen der Alb. Bald bog die Straße in den tiefen Wald, und die
Spaziergänger legten sich abseits vom Wege in das kühle Moos.
»Wir wollen einen Strauß für die schöne Lulu machen,« sagte Ugel und begann
im Liegen große Farnkräuter zu brechen.
»Ja,« sagte der andere leise, »einen Strauß für die schöne Lulu!« Er riß
eine ganze hohe rotblühende Staude aus der Erde. »Nimm das dazu! Roter
Fingerhut. Ich habe ihr sonst nichts zu geben. Wild, fieberrot und giftig
. . .«
Er redete nicht weiter; süß und bitter stieg es in seiner Kehle auf, wie
Schluchzen. Düster wendete er sich ab; Ugel aber bog den Arm um seine
Schulter, legte sich an seine Seite und wies mit ablenkender Geberde empor
in das wunderbare Spiel des Lichtes im hellgrünen Laub. Jeder von den
beiden dachte an seine Liebe, und schweigend ruhten sie lange Zeit,
Waldkronen und Himmel über sich. Über ihre Stirnen lief der kräftige, kühle
Wind, über ihre Seelen spannte, vielleicht zum letzten Mal, die selige
Jugend ihre blauen, ahnungsvollen Himmel aus. Leise begann Ugel ein Lied zu
singen:
Die Fürstin heißt Elisabeth --
Ein Hauch von Sonne, die vergeht.
Ich wollt, ich hätte einen Namen,
Der sich verneigt vor lieben Damen,
Vor Schönheit, vor Elisabeth,
Der süß von zarten Rosen weht,
Von Blättern lind, so leicht, so laß,
Von Rosen weiß, von Rosen blaß,
Ein Schimmer späten Abendgolds
Und wie der Fürstin Mund so stolz
Und wie der Fürstin Stirn so rein,
Und müßte singen von Glück und Pein --
So froh und traurig müßt er sein!
Dem Freunde weitete die stille Traurigkeit der schönen Stunde die Brust in
Schmerz und Lust. Er schloß die Augen; aus seiner Seele stieg das Bild der
schönen Lulu auf, wie er sie am heutigen Morgen gesehen hatte, so
sonneverklärt, so milde, so leuchtend, klug und unnahbar, daß sein Herz in
erregten schmerzlichen Schlägen pochte. Seufzend fuhr er mit der Hand über
die Stirn, fächerte sich mit dem roten Fingerhut und sang:
Ich will mich tief verneigen
Vor dir und ziehen den Hut,
Ich will dir Lieder geigen
Rot wie Rosen und rot wie Blut.
Ich will mich vor dir bücken,
Wie man vor Fürstinnen tut,
Und will dich mit Rosen schmücken,
Mit Rosen rot wie Blut.
Ich will auch zu dir beten,
Wie man vor Heiligen kniet,
Mit meiner wilden, verschmähten
Liebe und meinem Lied.
* * * * *
Er hatte kaum geendigt, als aus dem innersten Walde hervor der Philosoph
Drehdichum die Liegenden anrief. Aufschauend sahen sie ihn aus den
Gebüschen treten.
»Guten Tag,« rief er näherkommend, »guten Tag, meine Freunde! Nehmet dies
zu euerm Strauß für die schöne Lulu!« Damit gab er Lauschern eine große
weiße Lilie in die Hand. Behaglich ließ er sich sodann den Freunden
gegenüber auf einem moosigen Felsen nieder.
»Sagen Sie, Zauberer,« redete Lauscher ihn an, »da Sie doch überall sind
und alles wissen: wer ist eigentlich die schöne Lulu?«
»Viel gefragt!« schmunzelte der Graubart. »Sie weiß es selber nicht. Daß
sie die Stiefschwester der verdammten Müllerin sei, glauben Sie wohl nicht,
und ich auch nicht. Sie selber hat nicht Vater, nicht Mutter gekannt, und
ihr einziger Heimatbrief ist die Strophe eines merkwürdigen Liedes, das sie
zuweilen singt und worin sie einen gewissen König Ohneleid ihren Vater
nennt.«
»Dummes Zeug!« fluchte Ugel ärgerlich.
»Weshalb, lieber Herr?« entgegnete sanftmütig der Alte. »Aber dem sei wie
ihm wolle, man darf an solchen Geheimnissen nicht allzuviel tasten . . .
Ich höre, Herr Lauscher, Sie wollen schon morgen uns und dieses Land
verlassen? Wie man sich täuschen kann! Ich hätte gewettet, Sie blieben noch
länger hier, da Sie, wie mir schien, eben durch die Lulu . . .«
»Genug, genug, Herr!« fiel ihm Lauscher wild aufbrausend in die Rede. »Was
zum Teufel gehen Sie anderer Leute Liebesaffären an!«
»Nicht so heftig!« beruhigte lächelnd der Philosoph. »Davon,
Wertgeschätzter, war ja gar nicht die Rede. Daß ich mich mit den
Verwicklungen fremder Schicksale, besonders Dichterschicksale,
beschäftigte, gehört zu meiner Wissenschaft. Für mich besteht kein Zweifel
darüber, daß zwischen Ihnen und unserer Lulu gewisse subtile magische
Beziehungen statthaben, wenn schon, wie ich ahne, ihrer ersprießlichen
Wirkung zurzeit noch unüberwindliche Hemmnisse im Wege liegen.«
»Erklären Sie mir das doch, bitte, etwas näher!« sagte der Dichter kühl,
aber doch neugierig.
Der Alte zuckte die Achseln. »Ei nun,« sagte er, »jedes irgend höher
stehende Menschenwesen strebt instinktmäßig nach jener Harmonie, die im
glücklichen Gleichgewicht des Bewußten und des Unbewußten bestände. Solange
aber der zerstörende Dualismus das Lebensprinzip des denkenden Ich zu sein
scheint, neigen strebende Naturen gerne in halbverstandenem Instinkt zu
Bündnissen mit entgegengesetzt Strebenden. Sie verstehen mich. Solche
Bündnisse können ohne Worte, sogar ohne Wissen geschlossen werden, können
wie Verwandtschaften unerkannt, rein gefühlsmäßig leben und wirken.
Jedenfalls sind sie vorbestimmt und stehen außerhalb der Sphäre des
persönlichen Willens. Sie sind ein unermeßlich wichtiges Element dessen,
was man Schicksal nennt. Es ist vorgekommen, daß das eigentliche,
wohltätige Leben eines solchen Bündnisses erst im Augenblicke der Trennung
und Entsagung begann; denn diese unterliegen unserm Wollen, dem die Macht
jener Sympathie sich entzieht.«
»Ich verstehe Sie,« sagte Lauscher mit verändertem Ton. »Sie scheinen mein
Freund zu sein, Herr Drehdichum!«
»Zweifelten Sie daran?« lächelte dieser fröhlich.
»Sie kommen heute Abend zu meiner Abschiedsfeier in der Krone!«
»Will sehen, Herr Lauscher. Nach gewissen Berechnungen wird mir diesen
Abend eine wichtige Aufgabe zuteil werden, ein alter Traum sich erfüllen
. . . Aber vielleicht läßt es sich vereinigen. Auf Wiedersehen!« Er sprang
auf, grüßte mit winkender Hand und verlor sich rasch auf der talwärts
führenden Straße.
Die Freunde blieben bis zum Mittag im Walde, beide von Abschiedsgedanken
und jeder von seiner Liebe erfüllt und mit widerstreitenden Empfindungen
gesättigt. Verspätet suchten sie den Mittagstisch der Krone auf. Sie fanden
Lulu daselbst in fröhlicher Stimmung und mit einem neuen, hellen Kleide
geschmückt. Freundlich nahm sie die mitgebrachten Blumen an und stellte den
Strauß in eine Vase auf den Ecktisch, an dem die beiden zu speisen
pflegten. Heiter und geschäftig bewegte sich die schöne Gestalt bedienend
mit den Tellern, Schüsseln und Flaschen hin und wider. Nach Tisch, beim
Weine setzte sie sich zu den Freunden. Man sprach von Lauschers geplanter
Abschiedsfeier.
»Wir müssen das Zimmer und alles recht festlich zubereiten,« sagte Lulu;
»wie Sie sehen, habe ich an mir selber den Anfang gemacht und ein
nagelneues Kleid angezogen. Es fehlt noch an Blumen . . .«
»Besorgen wir schon,« fiel ihr Ugel in die Rede.
»Gut,« lächelte sie. »Dann wäre es hübsch, ein paar Lampions und farbige
Bänder zu haben.«
»Soviel Sie wollen!« rief wieder Ugel. Lauscher nickte stumm.
»Sie sprechen ja kein Wort, Herr Lauscher!« zürnte nun Lulu. »Sind Sie
nicht einverstanden?« Lauscher gab keine Antwort. Er sagte nur, während
sein Auge an ihrer schlanken Gestalt und dem feinen Antlitz hing: »Wie
schön Sie heute sind, Lulu!« Und noch einmal: »Wie schön Sie sind!«
Er war unersättlich, die ganze ziere Gestalt immer wieder zu betrachten. Zu
sehen, wie sie mit dem Freunde die Anstalten zu seinem Abschied betrieb,
verursachte ihm eine eigentümliche Qual und machte ihn stumm und
verdüstert. Jeden Augenblick kam ihm wieder der Gedanke, peinigend und
bitter stachelnd, daß seine Entsagung und sein Fortgehen unwahr sei, daß er
ihr zu Füßen stürzen und sie mit allen lodernden Flammen seiner
Leidenschaft umgeben müsse, um sie werben, sie anflehen, sie zwingen und
rauben -- irgend etwas, nur nicht so tatlos vor ihr sitzen und fühlen, wie
von den letzten Stunden ihrer Gegenwart ein seliger Augenblick um den
andern eilig und unwiederbringlich zerrann. Dennoch bezwang er sich in
hartem Kampf und begehrte nur noch in diesen letzten Stunden ihr herrliches
Bild sich glühend und schmerzlich in die Seele zu senken zu unvergeßlichem
Heimweh.
Schließlich, da die drei noch allein im Zimmer saßen und Ugel zum Aufbruch
drängte, erhob sich Lauscher, trat vor Lulu hin und faßte ihre Hand mit
seiner heißen, zitternden Rechten und sagte leise in einem gezwungenen,
feierlich komischen Ton: »Meine schöne Prinzessin, wollet geruhen die
Darbietung meiner Dienste in Hulden anzunehmen! Betrachtet mich, ich bitte
Euch, als Euern Ritter oder als Euern Sklaven, Euern Hund oder Narren,
befehlet mir . . .«
»Gut, mein Ritter,« unterbrach Lulu ihn lächelnd. »Ich fordere einen Dienst
von Euch. Es fehlt mir auf den Abend ein recht herzensfroher Gesellschafter
und Spaßmacher, der mir ein gewisses Fest unterhaltsam und lustig machen
helfe. Wollet Ihr das?«
Lauscher wurde sehr bleich. Dann lachte er heftig auf, ließ sich mit
komischer Verrenkung ins Knie nieder und sprach mit theatralischer
Feierlichkeit: »Ich gelobe es, edle Dame!«
Nun eilte er mit Ludwig Ugel hinweg. Sie suchten vor allem die schöne
Kunst- und Handelsgärtnerei beim Friedhofe auf und wüteten mit der Schere
ohne Schonung in des Gärtners Rosenzucht. Besonders Lauscher war nicht zu
halten. »Ich muß einen großen Korb voll Weiße haben,« rief er wiederholt,
wandte alle Zweige um und hieb die Lieblingsrosen der schönen Lulu zu
Dutzenden ab. Dann bezahlte er den Gärtner, hieß ihn die Rosen auf den
Abend in die Krone bringen und bummelte mit Ugel weiter durch die Stadt. Wo
etwas Buntes in den Schaufenstern hing, da brachen sie ein; Fächer, Tücher,
Seidenbänder, Papierlaternen wurden zusammengekauft, am Ende auch noch ein
starker Posten Kleinfeuerwerk, so daß in der Krone die schöne Lulu mit
Inempfangnehmen und Unterbringen alle Hände voll zu tun hatte. Dabei half
ihr, ohne daß jemand darum wußte, der gute Drehdichum bis zum Abend.

VIII.
Lulu war schön und fröhlich wie noch nie. Lauscher und Ugel hatten ihr
Abendessen beendet; die Freunde kamen nacheinander im Gasthause an. Als
alle beisammen waren, begab man sich unter dem Vortritt Lauschers, der die
schöne Lulu zierlich am Arme führte, in die große Hinterstube. Hier waren
alle Wände mit Tüchern, Bändern und Girlanden behängt, eine Menge farbiger
Laternen war an der Decke in Figuren gereiht und angezündet, der große
Tisch weiß gedeckt, mit Champagnerkelchen besetzt und mit frischen Rosen
überstreut. Der Dichter überreichte seiner Dame die Lilie des Philosophen,
steckte ihr eine halbgeöffnete Teerose ins Haar und führte sie an den
Ehrenplatz. Alle setzten sich froh und lärmend; ein im Chor gesungenes Lied
eröffnete den Abend. Nun sprangen die Stöpsel von den Flaschen,
überschäumend floß der helle, edle Wein in die zarten Gläser, wozu Erich
Tänzer die Champagnerrede hielt. Witz und Gelächter löste sich ab, mit
Tosen wurde der nachträglich angekommene Drehdichum empfangen, Ugel und
Lauscher trugen jeder ein paar lachende Verse vor. Dann sang die schöne
Lulu ein Lied, das hieß:
Ein König lag in Banden
Und tief in Dunkelheit --
Nun ist er auferstanden
Und heißet Ohneleid.
Nun glänzen bunte Lichter
Und Lieder blank ins Land,
Nun tragen alle Dichter
Ihr farbigstes Festgewand.
Nun blühen Lilien und Rosen
So weiß und rot wie nie,
Nun singt die Harfe Silberlied
Ihre seligste Melodie.
Als das Lied zu Ende war, griff Lauscher tief in den vor ihm stehenden
Rosenkorb und warf applaudierend der Sängerin ganze Hände voll weißer Rosen
zu. Der fröhliche Krieg wurde allgemein, Rosen flogen von Sitz zu Sitz,
Dutzende, hundert, weiße, rote; dem alten Drehdichum hing das Haar und der
graue Bart ganz voll davon. Dieser erhob sich nun, es war schon nahe an
Mitternacht, und begann zu reden:
»Liebe Freunde und schöne Lulu! Wir sehen alle, daß das Reich des Königs
Ohneleid von neuem beginnt. Auch ich muß heute von euch Abschied nehmen,
doch nicht ohne Hoffnung auf Wiedersehen; denn mein König, zu dem ich
zurückkehre, ist ein Freund der Jugend und der Dichter. Wäret ihr
Philosophen, so würde ich euch eine schöne allegorisch-mystische Geschichte
von der Wiedergeburt des Schönen und speziell von der Erlösung des
poetischen Prinzips durch die ironische Metamorphose des Mythus erzählen,
welche Geschichte heute ihr seliges Ende erfährt. So aber tue ich besser,
euch den zu lösenden Rest dieser Geschichte in angenehmen Bildern vor Augen
zu führen. Schauet her, ein askisches Stück!«
Alle blickten seinem ausgestreckten Zeigefinger nach auf einen großen
gestickten Vorhang, mit dem eine Ecke des Zimmers verhangen war. Dieser
Vorhang wurde plötzlich sanft von innen erleuchtet und zeigte ein Gewebe
von zahllosen silbernen Lilien, die eine schön in Marmor gefaßte starke
Quelle umrahmten. Die Kunst des Gewebes und der Beleuchtung war so
wunderbar, daß man die Lilien wachsen, sich neigen und verschlingen, daß
man die Quelle sprudeln und sich ergießen sah, ja, daß man ihr edles kühles
Rauschen stark vernahm.
Aller Augen hingen an dem prachtvollen Vorhang, und keiner bemerkte, daß
schnell nacheinander im Zimmer alle Laternen erloschen. Sie folgten
entzückt und erregt dem Zauberspiel der künstlichen Lilien; nur der Dichter
achtete es nicht, sondern heftete durch das Dunkel den Blick glühend und
anbetend auf die schöne Lulu. Ein heilig schönes, zartes Leuchten lag auf
ihrem feinen Gesicht, matthell und gleichsam vergeistigt schimmerte in
ihrem prachtvollen dunkeln Haar die weiße Rose.
Die Lilien bewegten sich unbeschreiblich schlank und harmonisch in einem
seltsamen Blumenreigen um die Quelle. Ihre Bewegung und feine Verschlingung
hüllte den Sinn der atemlos Zuschauenden in ein süßes, träumendes Netz von
Wunder und Wohlgefallen. Da schlug eine Uhr Mitternacht. Blitzschnell
rollte der glänzende Vorhang in die Höhe: eine weite Bühne tat sich in
tiefer Dämmerung auf. Der Philosoph erhob sich; man hörte im Dunkeln, wie
er den Sessel rückte. Er verschwand und erschien allsogleich auf der Bühne,
Haar und Bart noch voll von Rosen. Allmählich war der Raum der Bühne von
einem immer mehr zunehmenden Licht erfüllt, bis klar und glänzend Quelle
und Liliengarten des Vorhangs nun in edler Wirklichkeit blühend und
rauschend zu erblicken waren.
Damitten stand der Geist Haderbart, als Drehdichum trotz der erhöhten
Gestalt erkennbar. Im Hintergrunde stieg berückend in perlblauer Schönheit
das Opalschloß empor, in dessen Saale durch die weiten Fensterbögen der
König Ohneleid in mächtiger Ruhe thronend zu sehen war. Während das Licht
immer mehr zu strahlendem Glanze wuchs, trug Haderbart durch die sich
bückenden Lilien eine riesige, fabelhafte Harfe aus Silber in die Mitte der
Schaubühne. Der Glanz des Lichtes war nun blendend herrlich geworden und
schauerte in fiebernden Wellen silbern und irisfarbig über die Opalmauern
hin.
Lauschend schlug der Geist eine einzelne tiefe Saite der Harfe an. Ein
großer, königlicher Ton erquoll. Langsam traten die Lilien des
Vordergrundes zur Seite, eine festliche Treppe senkte sich von der Bühne
herab. Im dunkeln Zimmer erhob sich hoch und schlank die schöne Lulu,
schritt über die hinter ihr wieder zurückweichende Treppe hinan und stellte
sich in unsäglicher Schönheit als Prinzessin dar. Mit tiefer Verbeugung
überließ ihr der Geist Haderbart die Harfe; Tränen flossen aus seinen
klaren alten Augen und fielen zusammen mit einer gelösten Rose aus seinem
Bart zur Erde.
Die Prinzessin stand hoch und glänzend vor der Harfe Silberlied. Sie
streckte die Rechte in höchster Bewegung nach dem Schlosse aus, zog die
Harfe an ihre Schulter her und lief mit schlanken Fingern über alle Saiten.
Ein Lied von unerhörter Seligkeit und Harmonie hob an, huldigend scharten
sich alle hohen Lilien um ihre Herrin. Noch ein voller, reiner Griff in die
tönenden Zaubersaiten -- da rauschte mit kurzem Aufschlag der Vorhang
nieder. Einen Augenblick war er noch ganz von inwendigem Glanze
durchleuchtet, in heftiger Bewegung tanzten die gestickten Lilien
durcheinander, immer schneller und rasender, bis nur noch ein einziger
silberner Wirbel zu sehen war, der plötzlich lautlos in völlige Finsternis
versank.
Betäubt und sprachlos standen und saßen die Freunde im finstern Zimmer.
Bald sodann fingen sie an sich zu besinnen. Licht wurde gemacht. Durch
Unvorsichtigkeit kam das ganz vergessene Feuerwerk in Brand und knallte mit
abscheulichem Lärmen durcheinander. Wirt und Wirtin liefen herzu, klagten
und schalten. Ein Nachtwächter pochte von der Straße aus mit dem Spieß an
die verschlossenen Fensterläden. Man schrie und fragte, jeder an den andern
hin.
Aber niemand fand mehr eine Spur von Lulu und dem Philosophen. Der
Referendar Ripplein begann ärgerlich zu werden und von Gaunerei zu reden;
doch hörte niemand auf ihn. Hermann Lauscher war in sein Zimmer entwichen
und hatte von innen geriegelt.
Als er andern Tages in aller Frühe verreiste, war von der schönen Lulu noch
keine Spur gefunden. Da Lauscher sich sogleich ins Ausland begab, kann er
über den ferneren Verlauf der Dinge in Kirchheim keinerlei Mitteilung
machen. Denn er selber hat die vorstehende Geschichte der Wahrheit gemäß
aufgeschrieben.


Schlaflose Nächte.
(Geschrieben 1901.)

Widmung.
Kennt ihr die Muse der Schlaflosigkeit? Die bleiche, wachsame, die an
einsamen Betten sitzt?
An meinem einsamen Bette saß sie viele lange Nächte lang, sie legte mir die
geschmeidige, kranke Hand auf die Stirn, sie sang mir Lieder mit ihrer
müden Stimme, Lieder ohne Zahl, Heimatlieder, Kinderlieder, Lieder der
Liebe, des Heimwehs und der Melancholie. Und statt des entflohenen
Schlummers breitete sie über meine ermüdeten Augen den dünnen, farbigen
Schleier der Erinnerung und der Phantasie.
O diese langen, schleichenden Nächte, in denen unser wahrstes Wesen alle
tagüber gewobenen schmucken Gewänder von sich streift und uns mit Fragen,
Bitten und Vorwürfen bestürmt wie ein krankes Kind! O diese schmerzhaft
klaren Erinnerungen an alle Augenblicke unseres Lebens, in denen wir wider
uns selbst und wider die geheimen Gesetze des Lebens gesündigt haben! Diese
Kette von Blindheit, Grausamkeit und Mißverständnis, mit der wir uns selbst
zu unentrinnbarer Qual an diese angstvollen Stunden geschmiedet haben. Gibt
es einen Menschen von solcher Reinheit, daß er nur eine einzige solche
Nacht seiner Seele in die wahrhaftigen Kinderaugen blicken könnte, ohne
unzähligen Vorwürfen und Selbstpeinigungen zur Beute zu fallen?
Ich weiß es nicht und glaube es nicht. Und dennoch entrann ich diesen
Stunden und lernte sie segnen und sah die Verzweiflung nur auf dunkler
Lauer verborgen liegen, unberührt von ihrem giftigen Atem.
Das war jene Muse, jene bleiche, wachsame, die mit den geschmeidigen Händen
mich vom Abgrund zurückhielt. Ich danke dir, du Fremde, Phantastische, und
widme dir diese Erinnerungen unsrer gemeinsam verträumten, wachen Nächte.
Wie schön du warst, wenn du dein feines, tröstendes Frauengesicht über
meine fiebernden Augen beugtest! Wie schön du warst, wenn du mit mir der
Erinnerung eines alten Liedes lauschtest, still, vorgebeugt, das tiefe Auge
in die Nacht gewendet, die helle vergeistigte Stirn von einer losen Locke
märchenblonden Haares überhangen! Wie schön du warst, wenn du weintest,
wenn du das Auge senktest und schweigend auf dem weißen Bette meine Hand
mit deiner schmalen Linken suchtest, wenn der Traum einer verlorenen Liebe
über dein ernstes Gesicht wie ein leiser schmerzlicher Schatten lief!
Wie schön du warst!
* * * * *

Die erste Nacht.
Regen, Stille, Mitternacht. Wie heißest du, schöne Blasse? Du lächelst, du
legst deine Hand neben meine auf den Rand des Bettes, daß sie wie
Geschwister aussehen. Ich will dich Maria nennen.
Wie hast du mich wiedergefunden, wunderliche Schwester, die ich so langeher
nicht mehr gesehen? Das war vor manchem schönen Jahr, daß ich dir jene
Dichtung vorlas, mit der ich deine Gunst verscherzte. Du bist seither
schöner geworden -- ach hättest du damals den Schluß meiner Novelle
abgewartet, so wären wir zusammen jung geblieben und du säßest nicht an
meinem Bette, um mir die vielen Stunden von Mitternacht bis Morgen ertragen
zu helfen. Aber du nahmst meine Geschichte für Ernst und hast sie damit uns
selber zum Ernst gemacht. Jener ungelesene Schluß ist in den Märchenbrunnen
zurückgefallen und unsre guten Feen weinten, und weinen noch heute darüber.
Erinnerst du dich jenes letzten Abends? Im Veilchengarten, alle Amseln
schlugen. Wir saßen auf der grünen Großvaterbank und hatten unsere Zukunft
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