Hermann Lauscher - 2

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nicht so deutliche Erklärung gegeben. Ich blieb daher nicht nur skeptisch
und ungerührt, sondern antwortete dem Freunde hohnlächelnd und mit großer
Genugtuung, er möge nur wieder zu seinem Vater gehen und ihm sagen, er wäre
ein Kamel. Diese Antwort trug mir erst von dem Beleidigten und dann von
meinem Vater Prügel ein.
Solchen Züchtigungen von der Hand des geliebten Vaters pflegte ich zwar
meistens Trotz und Schweigen entgegenzusetzen, aber mein kleines Herz
empfand sie unsäglich bitter, weh und beugend. Sie sind die frühesten
Leiden, auf die ich mich besinnen kann und in der Vorstellung, die ich von
meinen Kinderjahren habe, die einzigen Trübungen, die noch vor der
Schulzeit eintraten. Auch war es mit dem Schlagen und Trotzbieten
keineswegs getan, sondern der bittere Kern der Strafe war die Nötigung,
mich zu demütigen und um Verzeihung zu bitten, ehe ich das Auge der Eltern
wieder freundlich und ihr Ohr mir offen fand. Freilich wurde dadurch und
durch die jedesmalige freundlich ernste Versöhnung der Züchtigung der
Stachel abgebrochen, aber bis ich müd und verständig genug zum »Verzeih«
sagen war, kostete es immer wieder einen bitteren, tränenreichen Kampf. Der
erste Abend, an dem ich ohne Kuß und ohne Begleitung der Mutter stumm und
scheu zu Bette ging, ist mir noch wohl erinnerlich. Vielleicht hat, so oft
auch später mir das Wasser an die Kehle ging, doch das Gefühl namenlosen
Schmerzes und Zwiespaltes niemals mehr so unsäglich auf mir gelastet, wie
an jenem traurigen Abend. Es war auch der erste Abend, an welchem ich nicht
zu beten vermochte. Der Wortlaut meines Betverses stockte mir auf der
Zunge, zeigte mir zum erstenmal seinen schweren Ernst und würgte mich wie
einen Erstickenden. So diente diese dunkelste Stunde dazu, mir auf einmal
das Beten ohne Gedanken unmöglich zu machen.
Indessen wuchs mein Verstand und begann, auf die ersten Belehrungen und
Erfahrungen bauend, sich allmählich einer stiller werdenden eigenen
Tätigkeit zu erfreuen. Meine Spiele nahmen, ohne Vorbilder zu haben, die
verwickelteren, intelligenteren Formen der eigentlichen Knabenspiele an.
Das A-B-C gab mir einen angenehm herben Vorschmack der Schule. Ich besaß
schon Erinnerungen und gewöhnte mich, nachdem ein bestimmter Tag für meinen
Schulbeginn mir angesagt war, an morgen und übermorgen zu denken.
* * * * *
Dieses wenige ist der ganze Schatz von Erinnerungen an die ersten Jahre,
den ich noch besitze. Oder nicht der ganze, denn ich vermochte das Beste
nicht auszusprechen, die Empfindungen durchträumter Frühlinge und
beglückender Liebhabereien, das milde Nachgefühl kindlicher Freuden und
Wehen, herzlicher genossen und tiefer erlitten als viele größere Freuden
und Wehen der späteren Zeiten. Ich vermochte nicht die feinen Erinnerungen
niederzuschreiben, deren ich einen holden Strauß besitze, an Waldbesuche,
an Nachbarfreundschaften, an belauschte Katzenjunge und gestreichelte
Lämmer.
Komisch wehmütig berührt mich die letzte Zeit vor dem Besuch der Schule,
das Erwachen des Knabenstolzes, das Unsichere des Übergangs vom Träumen zum
Denken, und das langsame Verblassen der farbigen Phantasie und des ganzen
unbeschreiblichen Goldgrundes, auf welchen alle diese frühesten Bilder
gemalt sind. Mein Gedächtnis schließt mein letztes freies Kinderjahr mit
einem merkwürdigen Abend ab. Es war kurz vor meinem Eintritt in die Schule,
und der Geburtstag einer kleinen Schwester, der 27. November. Dieser
Schwester war für den Augenblick alle Sorgfalt und Liebe des Hauses
zugewendet, und ich saß beklommen und allein an einem dunkelnden Fenster.
Draußen war Spätherbst und eine frühe, sternhelle Nacht. Neben dem Gedanken
an den erwarteten ersten Eintritt ins wirkliche Leben war eine
Abschiedsstimmung in mir lebendig, und ein halbbewußtes Rückverlangen nach
der Ungebundenheit und Traumtiefe der bisherigen Tage. Da wars, daß ich
eine Bewegung unter den Sternen zu sehen glaubte. Ich blickte nun starr und
unverwandt an den Himmel, und siehe, ein Stern begann seltsam zu flirren
und schoß plötzlich in die Finsternis, ohne Spur verglimmend. Und da wieder
einer, und dort zwei zugleich, und am Ende eine ganze bewegte Menge. Der
Vater kam herein, und die Dienstboten, und so standen wir eine gute Weile
still im Dunkeln, das seltene Schauspiel unzähliger Sternschnuppen
betrachtend und von der merkwürdigen Stunde berührt, jeder, wie ich glaube,
mit dem Gedanken, daß dieser Blick aus dem dunklen Zimmer auf die
gleitenden Sterne ihm unvergeßlich bleiben würde.
* * * * *
Mit dem Besuch der Schule begann nun mein menschlich gesellschaftliches
Leben. Hier wird das Dasein zuerst zum Bild der Welt im kleinen, hier
treten die Gesetze und Maßstäbe des »wirklichen« Lebens in Kraft, hier
beginnt Streben und Verzweifeln, Konflikt und Bewußtsein der Person,
Ungenügen und Zwiespalt, Kampf und Rücksichtnahme, und der ganze endlose
Kreislauf der Tage. Zuerst die Teilung der Zeit in Alltag und Feiertag! Man
muß nach Stunden leben und arbeiten, jeder Tag erhält sein Gewicht und
seine feste Geltung und löst sich aus der Zeit als ein besonderes Stück
heraus. Die Unergründlichkeit der Monate und Jahreszeiten, das Leben aus
dem Vollen hat ein Ende; Feste, Sonntage, Geburtstage treten nicht mehr als
Überraschungen vor uns hin, sondern ihre Zeit und Wiederkehr ist gleich den
Stundenzahlen auf der Uhr fest angeschrieben und wir wissen, wie lange der
Zeiger braucht, bis er sie erreicht.
Der Wunsch meines Vaters, mich selber zu unterrichten, hielt dem
allgemeinen Brauch und dem Rat aller Freunde und Verwandten nicht stand.
Ich wurde einer öffentlichen Schule übergeben, hatte mehrere Lehrer, die
jährlich wechselten, und litt unter allen Übelständen dieser Anstalten.
Schule und Haus waren zwei streng getrennte Dinge, mein Gehorsam hatte zwei
Oberhäupter, von denen das eine mit meiner Liebe, das andere mit meiner
Furcht rechnen mußte. Das erste Übel lag darin, daß ich, von einem strengen
Lehrer an häufige Schläge und Arrest gewöhnt, die väterlichen Strafen bald
nicht mehr in der früheren Weise achtete, so daß häusliche Züchtigungen
ihren Wert verloren und meinem Vater dieser einfachste Austrag moralischer
Unebenheiten allmählich unmöglich gemacht wurde. Daraus folgte für ihn
unendlich viel Sorge und Mühe und für mich viel Elend, da nun alle
Besserungen und Verzeihungen erschwert waren und lange Zeit erforderten. In
solchen kritischen Zeiten war ich manchesmal verzweifelt, krank vor Sorge
und Wut, und plagte mich mit Elend, Scham, Ärger und Stolz. In der Schule
übel behandelt, zu Hause von irgend einer begangenen Übeltat schweigend
bedrückt, warf ich mich oft in der großen Wiese zu Boden und rang
schluchzend gegen eine unbekannte, grausame Übermacht. Diese Stunden am
Mittagstisch, wenn kein Gespräch möglich war, wenn ich mit Angst an die
nächste böse Schulstunde dachte, während eine zurückgedrängte väterliche
Strafrede den Eltern, den jüngeren Geschwistern und sogar den Dienstboten
in allen Mienen zu lesen war, diese schweigsamen, trotzigen Spaziergänge
mit meinem Vater, auf denen ich die Bitte um Verzeihung oder sonst eine
Aussprache, welche er erwartete, aus Trotz und Scham in mir niederhielt,
liegen mir noch mit aller Schwere hart und widerlich im Gedächtnis.
Da meine Unruhe und eingedämmte Leidenschaftlichkeit und Lebensfülle Raum
forderte, warf ich mich auf die mir bisher fremden Knabenspiele mit aller
Wildheit meiner jungen Sinne. Ich sprang bald allen Kameraden voran, als
Turner, als Feldherr, als Räuberhauptmann oder Indianerhäuptling, am
hitzigsten, wenn zu Hause schlechtes Wetter war. Meine Eltern und am
meisten die bekümmerte Mutter sahen mich mit Trauer in den Ruf eines
Wildfangs und Anstifters geraten, während ich unter ihren Augen meistens
stumm und bedrückt umherschlich.
In meinem dritten Schuljahre hatte ich eines Tages einem armen Handwerker
in unserer Straße mit meiner Schleuder ein Fenster eingeworfen. Der Mann
lief zu meinem Vater, erzählte ihm meine, wie er glaubte, absichtlich
begangene Tat und fügte noch hinzu, daß ich auch außerdem ein Tunichtgut
und Straßentyrann wäre. Als am Abend mein Vater mir dies alles wieder
berichtete und auf ein Geständnis drang, war ich über den Ankläger so
empört, daß ich auch den unbestreitbar geschehenen Fensterschuß hartnäckig
leugnete. Ich wurde ungewöhnlich hart gezüchtigt und glaubte nun vollends
meinen Trotz nicht brechen lassen zu dürfen. So verhielt ich mich einige
Tage scheu und feindselig, während mein Vater schwieg und ein Schatten auf
dem ganzen Hause lag. In diesen Tagen war ich unglücklicher als jemals
vorher. Nun mußte mein Vater für eine Woche verreisen. Als ich an jenem Tag
aus der Schule kam, war er schon abgereist und hatte ein Brieflein für mich
dagelassen. Nach Tisch begab ich mich in die oberste Bodenkammer und
öffnete den Brief. Ein schönes Bild fiel heraus, und ein Zettel von der
Hand des Vaters:
»Ich habe dich für ein Vergehen gestraft, das du nicht gestanden hast. Hast
du die Sache dennoch begangen und mich also angelogen, wie soll ich dann
noch mit dir reden? Ists anders, dann habe ich dich mit Unrecht geschlagen.
In einer Woche, wenn ich wiederkomme, sollte doch einer von uns dem andern
verzeihen können.
Dein Vater.«
Den ganzen Tag lief ich beklommen und erregt mit dem Zettel in Haus und
Garten herum. Dieses Wort von Mann zu Mann erfüllte mich mit Stolz und Reue
und traf mich im Herzen, wie kein anderes Wort es hätte können. Am nächsten
Morgen kam ich mit dem Blatt ans Bett meiner Mutter, weinte und fand keine
Worte. Darauf ging ich im Hause umher wie nach einer langen Abwesenheit,
alles war so alt und neu, war mir wiedergeschenkt und von einem Bann
erlöst. Abends saß ich seit langer Zeit zum erstenmal meiner Mutter zu
Füßen und hörte sie erzählen wie in den Kleinkinderjahren. Es kam so süß
und mütterlich von ihrem Munde, aber was sie erzählte, war kein Märchen.
Sie sagte mir von Zeiten, da ich ihr fremd geworden sei, und wie da ihre
Angst und Liebe mich begleitete; sie beschämte und beglückte mich mit jedem
Wort, und dann redeten wir beide mit Namen der Liebe und Ehrfurcht von
meinem Vater und freuten uns mit Sehnsucht auf seine Heimkehr.
Der Tag seiner Zurückkunft war zugleich der letzte Tag vor meinen
Sommerferien und vollendete so mein Glück. Nach einer kurzen Unterredung
kam der Vater mit mir aus seinem Studierzimmer hervor und führte mich der
Mutter zu, indem er sagte:
»Hier hast du unseren Buben wieder, Mama. Er gehört seit heute wieder mir.«
»Mir schon seit einer Woche!« rief sie lächelnd dagegen, und wir saßen
fröhlich zu Tische.
Die mit diesem Tag beginnende Ferienzeit liegt in meinen Schuljahren wie
ein umzäunter, grüner Garten. Tage voll Sonne, Abende mit Spiel und
Geplauder, Nächte festen Schlafs mit gutem Gewissen! Jeden Abend wanderte
mein Vater Hand in Hand mit mir in einen Steinbruch, der eine halbe Stunde
weit vor der Stadt lag. Dort bauten wir Häuser und Höhlen, schleuderten
Steine nach dem Ziel und hämmerten nach Versteinerungen. Auf dem Rückweg
tranken wir Milch und aßen Brot in einem Meierhof und verzichteten darauf
stolz auf das mütterliche Abendessen, die Mutter mit allerlei Geheimnissen
neckend und uns jedes Meisterwurfes und jedes gefundenen Rötels oder
Glitzersteines rühmend. Mein Vater erwies sich als Pfadfinder, Jäger,
Scheibenschütz und Erfinder. Halbe Tage wanderten und ruhten wir in Wiesen
und an Waldabhängen, ganz mit uns allein, einen Brotlaib in der Tasche,
Wege entdeckend und Pflanzen sammelnd, und ich spürte etwas davon, daß mein
Vater seine eigene Jugend wieder aufsuchte und sich seiner erfrischten
Brust und seiner geröteten Wangen erfreute, denn er war von zarter
Gesundheit und wurde viel von Kopfschmerzen und anderen Leiden heimgesucht.
Nun wanderten wir wie zwei Knaben miteinander, schnitten Lanzen, ließen
Drachen steigen, gruben im Garten und zimmerten im Hofraum allerlei Gerät
und Kasten zusammen.
In dieser Zeit etwa begann mein Ohr zu erwachen und meine Phantasie sich
mit Melodien zu beschäftigen. Ich liebte es, in Freistunden zum Münster zu
gehen und mich durch das Tor zu schleichen, um das Spiel des Organisten zu
hören, der stundenlang dort sich seiner Kunst erfreute. Ich summte und sang
auf dem Schulweg, im Garten, sogar im Bette, und prägte mir viele Choräle
und Liedermelodien frühe ein.
Und mit neun Jahren, an meinem Geburtstage, schenkten mir die Eltern eine
Geige. Von diesem Tage an ist das hellbraune Geiglein auf allen Fahrten mit
mir gegangen, viele Jahre lang, und von diesem Tage an hatte ich ein
Abseits, eine innere Heimat, eine Zuflucht, wo seither unzählige
Erregungen, Freuden und Kümmernisse sich versammelten.
Der Lehrer war mit mir zufrieden. Mein Gehör und Gedächtnis war scharf und
peinlich treu, und allmählich zeigte sich im Lauf der Lehrjahre das, was
den Geiger macht, der feste, fähige Arm, das freie Gelenk, die
ausdauernden, kräftigen Finger.
Fürs erste erwies sich leider die Musik als ein unerwartetes Übel, denn sie
nahm mich fast völlig gefangen und verleidete mir den Schülerfleiß. Dagegen
lenkte sie meinen Ehrgeiz und meine Knabenwildheit von den gröberen Spielen
und Freveln ab, sie milderte meine Hitze und Leidenschaft, sie machte mich
schweigsam und verträglich. Ich wurde keineswegs zum Geiger erzogen, mein
Lehrer war sogar ein Dilettant, daher war der Unterricht mir ein Vergnügen
und zielte weniger auf strenge Übung und Präzision, als auf ein baldiges
Etwaskönnen. Der erste Choral, zum Geburtstag der Mutter gespielt, war ein
festliches Ereignis. Und alsdann die erste Gavotte, die erste Haydnsonate!
Ich war selber voll Freude und Eitelkeit, aber allmählich spürte meine
Natur doch einen Mangel, so daß ich vor einem gewissen flotten Strich,
einer Dilettantenverve gefährlicher Art, bewahrt blieb. Die Schule ging
neben dem her und behielt für mich alle die Jahre bis zum vierzehnten
hindurch die Schwüle einer Zwangsanstalt. Wie viel von meinen Leiden und
meiner Verbitterung, neben meinen eigenen Fehlern, der ganzen Erziehungsart
zur Last fällt, kann ich nicht urteilen; aber in den acht Jahren, welche
ich in den niederen Schulen zubrachte, fand ich nur einen einzigen Lehrer,
den ich liebte und dem ich dankbar sein kann. Wer die Kindesseele ein wenig
kennt und selber einen Rest ihrer Zartheit sich bewahrt hat, der kennt das
Leiden, dessen ein Schulknabe fähig ist, und zittert noch in Scham und
Zorn, wenn er sich der Rohheiten mancher Schulmeister erinnert, der
Quälereien, der berührten Wunden, der grausamen Strafen, der unzähligen
Schamlosigkeiten. Wahrlich, ich meine nicht die fleißige Rute, deren jeder
Knabe bedarf; ich meine aber die Frevel, die an dem Glauben und dem
Rechtssinn des Kindes geschehen, die rohen Antworten auf schüchterne
Kinderfragen, die Gleichgültigkeit gegen den Trieb der Kindheit nach einer
Einigung ihrer stückweise erworbenen Kenntnis der Dinge, den Spott als
Antwort auf kindergläubige Naivetäten. Ich weiß, daß ich nicht allein in
solcher Weise gelitten habe, und daß mein Unwille darüber und meine Trauer
um zerstörte und verkümmerte Teile meiner jungen Seele nicht die
Verbitterung eines nervösen Einzelnen ist; denn ich habe von vielen diese
Klagen gehört. Ich weiß wohl mit der eigentümlichen Art des Knabenalters zu
rechnen, als einer heiklen, problematischen Zeit der Scheidungen,
Beschneidungen und Häutungen, voll von schwer verständlichen Erregungen und
Exzessen; aber ich kann mich der Trauer und der Anklage nicht enthalten.
Die ganze Zeit meines späteren Lebens bin ich mit einer besonderen Vorliebe
den kleinen Knaben zugetan gewesen und fand gar oft meine ehemaligen Ängste
in errötenden Knabengesichtern wieder.
Es widerstrebt mir, einige dieser Bitternisse aufzuzeichnen, meine
Erinnerung irrt in dieser Zeit der verwelkenden Kindheit und erwachsenden
Jünglingszeit befangen und bedrückt umher.
Hell und verklärt von Verehrung und Liebe zeigen sich mir die
Unterweisungen, die ich in Garten, Feld und Studierzimmer von meinem Vater
genoß. Diese schlossen mir die verschwisterten Reiche der Geschichte und
der Dichtung auf. Mit gekrönten Königen und geschlagenen Duldern, mit
Heerzügen und prachtvollen Städten breitete sich die Geschichte der
Griechen aus, und die der Römer mit ruhmbekränzten Siegern, unterjochten
Erdteilen und fabelhaften Triumphzügen, neben welcher Pracht und Höhe lange
Zeit die Jagden und blutigen Wanderungen der ältesten deutschen Zeit mir
wenig Freude machten.
Der freundschaftlich in Frage, Antwort und Erzählung erteilte väterliche
Unterricht legte einen guten Grund in mir. Was in der Schulstube und im
Mund der Lehrer mir langweilig und peinlich erschien, gewann hier
anziehende Formen und schien mir alles ernstlichen Fleißes würdig.
In meiner Klasse pflegte ich, obwohl ich nie ein Lehrerliebling war, meist
mich auf den oberen Plätzen zu halten und besonders im lateinischen
Unterricht mir gute Zeugnisse zu erwerben. Die lateinische Sprache lernte
ich leicht und mit Eifer, sie blieb durch meine Schülerzeit und durch mein
Leben mir befreundet und geläufig.
So fand man mich zur Vorbereitung auf den Eintritt in eine schwäbische
gelehrte Schule würdig. Das Examen wurde leidlich bestanden. Meine erste
Schulzeit war zu Ende und ein sommerlicher Ferienmonat lag vor dem
ehrgeizig erstrebten Eingang der gelehrten Klosterpforte.
In diesen Ferien las mir mein Vater zum erstenmal Lieder Goethes vor. Ȇber
allen Wipfeln« war sein Liebling.
An einem silbernen Abend, im frühen Monde, stand er mit mir auf einem
bewaldeten Berge. Wir atmeten vom Steigen aus und schwiegen nach einem
ernsten, herzlichen Gespräch vor der Schönheit der mondhellen, stillen
Landschaft.
Mein Vater setzte sich auf einen Stein, blickte rundum, zog mich zu sich
nieder, schlang den Arm um mich und sprach leise und feierlich jenes
unergründliche, wunderbare Lied:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch,
Die Vöglein schweigen im Walde,
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Hundertmal habe ich seitdem diese Worte gehört und gelesen und gesprochen,
in hundert Lagen und Stimmungen -- die Vöglein schweigen im Walde -- und
jedesmal befiel mich eine milde, herzlösende Schwermut, und jedesmal senkte
ich dabei das Haupt und hatte ein seltsam wehes Glücksgefühl, als kämen die
Worte aus dem Munde meines an mich gelehnten Vaters, als fühlte ich seinen
Arm um mich gelegt, und sähe seine große, klare Stirn, und hörte seine
leise Stimme.


Die Novembernacht.
Eine Tübinger Erinnerung.
(Geschrieben 1899.)

Über Tübingen hing eine schwarze, verwölkte Novembernacht. Sturm und
Sprühregen klirrte und zitterte durch die engen Gassen, aufflackernde rote
Laternenlichter glänzten trüb auf dem nassen Pflaster wider. Trüb und
schwarz mit zwei, drei kleinen roten Fensteraugen lag das alte Schloß wie
ein halbschlafendes träges Untier auf seinem langen Hügel, Fetzen von
Wolkenschleiern um die spitzen Dächer. In den großen, ernsten Alleen
standen die alten Kastanien, Linden und Platanen kahl und hager im Sturm
wie eine trübselig standhafte Armee von Greisen. Blätterwirbel trieben über
die feuchten Wege, faul und grau lagen die großen Herbstwiesen, an den
Rändern da und dort von einer windscheuen Laterne zackig und roh
beleuchtet. Der langgezogene, müde Pfiff des letzten Reutlinger Zuges drang
vom nahen Bahnhof durch die schwere Luft und paßte mit seinem heiseren,
hinsterbenden Geräusch vortrefflich in die Tonart des ganzen Abends.
In den Pausen des Sturmes ward das kühle Rauschen des Neckars laut. Die
Ufer lagen tief in graue, traurige Ruhe gehüllt und von den vielen hellen
liederlauten Sommerabendfesten war keine leise Spur mehr geblieben, so
wenig dem breiten, traurigen Stiftsgebäude noch eine Spur von den
zahlreichen, glänzenden Geistern anhing, die darin vor Zeiten
schwärmerische, dämmernde Jugendsemester verlebten. Es seien denn einzelne
nachklingende, elegische Laute aus der umflorten Harfe des armen Hölderlin.
Statt dessen brannte dort die strenge, fleißige Gegenwart in zahlreichen
Studierampeln über die ganze Breitseite des Stifts verteilt und glänzte
mattrot durch die breiten, niederen Fenster. Dort lagen jetzt Kompendien,
Wörterbücher und Texte ohne Zahl vor ernsthaften, jungen Augen
aufgeschlagen, Ausgaben des Platon, Aristoteles, Kants, Fichtes, vielleicht
auch Schopenhauers, Bibeln in hebräischer, griechischer, lateinischer und
deutscher Sprache; vielleicht brütete hinter diesen Fenstern zur Stunde ein
junges, philosophisches Genie über seinen ersten Spekulationen, während
zugleich ein zukünftiger schwergeharnischter Apologet die ersten Steine
seines Trutzgebäudes legte.
Zwei junge Männer, die jetzt von der unteren Neckarbrücke her durch die
Platanenallee gegangen kamen, blickten lachend hinüber und zeigten wenig
Respekt vor der ernsten zukunftschwangeren Geistesburg. Sie wandelten, in
grauen Lodenmänteln, des Regens ungeachtet, langsam durch die stürmende
Herbstnacht. »Hast du noch was drin?« fragte der Kandidat Otto Aber seinen
Begleiter, worauf dieser, der Dichter Hermann Lauscher, eine bauchige
Benediktinerflasche aus der Manteltasche zwängte und dem Kandidaten
reichte.
»Der letzte Schluck!« rief dieser und schwenkte die Flasche gegen das
jenseits des Flusses ragende Stift. »Prosit Stift!«
Er leerte die Bouteille mit einem kurzen Schluck.
»Was machen wir mit dem Scherben?« fragte Lauscher. »Wir könnten auf die
Wache gehen und ihn der lieben Tübinger Stadtpolizei verehren.«
»Was Stadtpolizei!« lachte Aber. »Da!« und er schleuderte die Flasche über
den Neckar, daß sie an einem Pfeiler des Stiftsbaues zersplitterte. »Jetzt
wohin?«
»Ja wohin?« sagte Lauscher nachdenklich. »In der Steinlach krepiert man am
Wein, in der Silberburg ist die Schorschel nimmer da, im Kaiser säuft der
Roigel, in der Sonne ists zu voll, im Löwen --«
»Halloh, in den Löwen!« rief Aber. »Mir fällt ein, daß der Säbelwetzer und
der Elenderle heut abend dort sind und die Mensur vom Donnerstag
verschwellen. Komm! Übrigens ists ein Sauwetter.«
Der Kandidat zog seinen langen Mantel enger an sich und schlug ein
rascheres Tempo an.
»Was rennst du!« rief Lauscher. »Für uns ist das Wetter lang gut genug. Mir
paßt's so besser, als Lump im Sonnenschein zu spielen. Wenn der
Benediktiner nicht ausgepfiffen hätte, wär ich für eine Naturkneipe.
Außerdem ist der Säbelwetzer langweilig und der Elenderle wird schon bald
wieder am Heulen sein. -- Trinken sie Uhlbacher? Dann geh ich nicht mit,
der Uhlbacher vom Löwen haßt mich. Aber was versteht ihr von Wein!«
»Weinprotz!« lachte Aber. »Nein, sie haben eine uralte Moselwette dort
stehen, oder Winkler oder was ähnliches. Jedenfalls was besseres. -- Dabei
fällt mir ein: warum gründen wir eigentlich nichts? Wir vier oder fünf
hocken doch ewig zusammen, man könnte den Appenzeller und so ein paar
Bierhühner mitlotsen, es gäbe so was wie eine Ausstellung der
Zurückgewiesenen.«
»Gründen?« brauste Lauscher auf, der damals das spätere cénacle noch nicht
ahnte. »Lieber werd ich Eremit.«
»Warum nicht gar! Es gäbe ein Kollegium von Ausgetretenen aus allen
fashionablen Verbindungen, oder von Rettungslosen aus allen Fakultäten. Der
Elenderle würde die Sündenlast der Gesellschaft in Tränen umsetzen, der
Säbelwetzer bekäme ein Dauerpaukwams und würde auf alle Waffen für uns
losgehen, ich wäre die Bierkommission, du Schrift- und Weinwärtel . . .«
»Und so weiter. Schon gut.«
»Der Appenzeller würde sich unübertrefflich dazu qualifizieren,
Mitteilungen und Forderungen der Gesellschaft den Chargierten der
Verbindungen zu überbringen. Der Nebukadnezar wäre ein censor morum
ohnegleichen. Der Kaißer hat einen Onkel, der Weinberge besitzen soll; der
Schnauzer ist reich und dumm --«
»Und dann würden wir eine Kneipe mieten und zweimal in der Woche
>Altheidelberg< und >es geht ein Lumpidus< miteinander singen. Und Füchse
keilen. Und Präsidepauken schwingen. Ich danke.«
»Warum? Wir könnten im Schwarzwälder kneipen und im Komment alle
anständigen Lokäler verbieten. Z. B.: Wer im Ochsen oder im Innern der Aula
betroffen wird, zahlt eine Mark Buße. Wer fachsimpelt, zahlt zwei Maß
. . .«
»Nein, bitte, du fängst wieder an nach Komment zu riechen.«
Die Freunde waren auf der alten Brücke angelangt. Aus der Kneipe der
Burschenschaft klang lauter Chorgesang. Der Neckar strömte wild um den
breiten Brückenpfeiler, auf dem raschen Wasser glänzten unruhig die
Laternenlichter, schwarz und großartig streckte sich die Platanenallee in
die Nacht. Vom Turm der Stiftskirche tönte das Stundenhorn, zackig und
wechselvoll beleuchtet, stand die malerische Häuserreihe des hohen
Neckarufers bis zum alten Stift hinab. Beide Freunde schwiegen, so lange
sie über die Brücke gingen. Vielleicht stieg beim Anblick der schönen,
nächtlichen Stadt, beim Rauschen des Neckars und Singen der Studenten in
beiden das Erinnern an die kaum vergangenen Tage auf, da ihnen noch die
eigentümliche, romantische Schönheit und Stimmung dieser Stelle ahnungsvoll
und freudig ans Herz gerührt hatte, da sie noch mit der Hoffnung und dem
ganzen süßen, krausen Stimmungsduft der ersten Semester hier gegangen
waren.
Sie bogen um die Brückenmühle, stiegen die steile Gasse zum Holzmarkt
hinauf, gingen an der Stiftskirche vorüber, über die schmale Kirchgasse und
den öden Markt an der Sonne vorbei und gelangten durch Nässe und Schmutz an
die Hintertür des Löwen, durch welche man über drei steile Stufen hinab
direkt in das »Nebenzimmer« tritt. Ehe sie eintraten, blickten sie durch
eins der niederen Fenster in die schmale Stube hinab und sahen Elenderle
und Säbelwetzer am letzten Tisch beim Wein sitzen.
»Sie trinken Winkler!« frohlockte Aber. »Hab ich's nicht gesagt? Du meldest
dich mit deiner Blume, wegen ungebührender Respektlosigkeit.«
»Prolet! Meinetwegen,« murrte Lauscher, und trat zuerst in die schmale Tür.
Aber folgte nach, drehte unwillig ein an der Wand hängendes Gerolsteiner
Mineralwasserplakat um und ließ sich von der herzueilenden Wirtstochter
Mathilde den Mantel abnehmen.
Jetzt bemerkten die Weintrinker die Ankommenden.
»Höchste Zeit,« rief der Säbelwetzer. »Wollet ihr trinken? Wollet ihr ein
Bad nehmen? Wollet ihr euch ersäufen? An Winkler fehlt es nicht. Mein Leben
mach ich keine solche Wette mehr. Fünfzehn Flaschen, ists nicht zum
Langweiligwerden?«
»Keine Angst!« rief Lauscher. »Mathilde, zwei Gläser!« Er prüfte eine der
im Kübel stehenden Flaschen und schenkte ein. »Meine Blume, Aber!«
»Saufs!«
»Na?« fragte der Säbelwetzer.
»Er ist gut,« gab Lauscher kurz zur Antwort, ließ den linken Arm über die
Stuhllehne hängen, füllte seinen Römer nach und trank ihn mit einem langen
sicheren Schluck hinunter.
»Wo spuckts wieder?« fragte der Säbelwetzer. »Du hast deinen
allerbeinernsten Schädel aufgesetzt.«
»Du weißt,« fiel Aber ein, »Schnaps verträgt er nicht. Der Benediktiner --«
Lauscher stieß durch die Zähne einen langen Pfiff.
»Halts Maul, Aberchen! Überhaupt fragt man nicht so dumm, Säbelwetzer.« Er
trank ein neues Glas an. »Ihr seid eigentlich doch eine Schweinebande,
liebe Freunde,« fuhr er dann langsam und ernsthaft fort, »und mich wunderts
selber, daß ich allemal wieder bei euch bin.«
Elenderle lachte und trank dem Dichter zu.
»Aber was tun? Ihr seid wenigstens bloß langweilig und im übrigen gute
Brüder.«
»Hm -- hm --«
»Ja, brummt nur! Oder hat vielleicht einer von euch etwas anderes an Geist
zu verbrauchen, als die übrigen Brocken aus seiner Fuchsenzeit? Oder hat
einer von euch eine Ahnung von Humor, von Philosophie, von Kunst? Oder --«
»Na hör mal,« lachte der Kandidat Aber, »eh du so proletest, sei doch so
gut und serviere uns einmal deine Kunst, deine Philosophie, deinen Humor!
Er muß anderswo als in deinen sentimentalen Versen stecken --«
»Das tut er auch. Was Verse! Daß ich hier sitze und euren Wein mit euch
trinke und eure desperaten Schädel betrachte, während ich Gold, Silber,
Paläste, Märchen und Kleinode in mir liegen habe, das ist der Humor. Was
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