Goethes Briefe an Auguste zu Stolberg - 1

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Goethes Briefe
an
Auguste zu Stolberg
Im Insel-Verlag zu Leipzig


Einleitung des Herausgebers

»Der Liebe Sehnsucht fordert Gegenwart.« -- Goethe, mit jedem
Pulsschlage seiner Empfindung nach greifbarer Gegenständlichkeit,
nach sinnenfälliger Wirklichkeit drängend, ist zu versichern
nicht müde geworden, daß persönliche Bekanntschaft erforderlich
sei, »das Siegel eigentlich auf jedes wahre sittliche Verhältnis
zu drücken.« Doch auch er hat einmal geglaubt, mit Augen der
Sehnsucht den fernenden Nebel durchdringen zu können, der ihm
ein leiblich nie geschautes Antlitz verbarg, mit Armen der
Freundschaft hinüberreichen zu können über eine Kluft, die
keine unmittelbare Begegnung überbrückte. In jener bedeutsamen
Zeit deutscher Geistesentwicklung ist das gewesen, da unsere
Literatur, wiedergeboren aus dem Schoße frisch erwachten
Naturgefühles, aufbrausend im »Sturm und Drang« erneuerter
Jugendfülle, alle suchenden Seelen in gleichen Bann schlug, da
Goethe, der diese neue Literatur mitgeschaffen, jung wie sie,
voll leidenschaftlichen Verlangens, einstimmende Herzen von Nähen
und Weiten forderte.
»Sturm und Drang« -- an dem ergreifendsten Erzeugnis dieser
aufgewühlten Epoche, an den »Leiden des jungen Werthers« hatte
sich Auguste Luise Gräfin zu Stolberg-Stolberg entzündet, als
sie im Januar 1775 an den ihr fremden Dichter den ersten Brief
richtete. Geboren am 7. Januar 1753, Sprößling eines uralten
niederdeutschen Geschlechtes, lebte sie »still und bewegt« ein
unscheinbares reiches Leben; das südliche Holstein, die dänische
Insel Seeland, die Niederungen der Elbmündung sind mit ihrem
Wechsel von Wiese und Buchenwald, von Moor und Ackerfläche, von
schäumender Meeresbrandung und kosendem Landsee der begränzte
Schauplatz dieses weiten Daseins gewesen. Gustchens Vater, Graf
Christian Günther, war seit 1756 Hofmarschall der Königin-Witwe
Sophia Magdalena in Kopenhagen; als er 1765 starb, hatte er jedes
seiner zahlreichen Kinder für alle Folgezeit gefestigt in dem
ihm eigenen Sinne lauterer Frömmigkeit und frohen Bekennermutes.
Die Mutter (gest. 1773), eine harmonische Natur, den »schönen
Seelen« des Pietismus verwandt, mit regsamer Empfindung und
Kraft der Phantasie begabt, ward den Ihren gemütvolle Erweckerin
einer entschiedenen Neigung und Fähigkeit zur Dichtkunst, und
dieser allgemeine poetische Geist vertiefte und verklärte sich
an Wesen und Werk des Messias-Dichters Klopstock, der, 1751 nach
Dänemark berufen, in vertrautester Freundschaft zur Familie
stand. Klopstock ist der Leitstern geblieben, nach dem die
Stolberge ihr Leben und Dichten gerichtet haben; nach seinem
Muster hat Gustchens ältere Schwester Katharina ihr biblisches
Drama »Moses« verfaßt. Und auch Bruder Friedrich Leopold, dessen
schöner ausdauernder Enthusiasmus sich die Liebe jugendlicher
Mitstrebenden wie die Anerkennung kritischer Nachwelt erwerben
durfte, ist der früh eingesogenen Bewunderung Klopstocks niemals
untreu geworden, ob er gleich voll Selbstgefühls sein _Zögling_
nicht hat heißen mögen, den schlichten Ton singbaren Liedes jeder
volltönenden Odenform vorgezogen hat und, von dem Wehen des
»Sturmes und Dranges« ergriffen, einzig im eigenen Bewußtsein,
in der sich selbst verbürgenden Dichterkraft Maß und Richtschnur
seines Schaffens hat erkennen wollen.
»Sturm und Drang« -- wohl müßte es reizvoll sein, diese mächtige
Bewegung sich in empfindsamer Mädchenseele bewähren zu sehen,
aber die Briefe Gustchens, die uns solchen Anblick bieten
könnten, sind den Flammen zum Opfer gefallen, denen Goethe 1797
die Dokumente aller seiner persönlichen Beziehungen überantwortet
hat. Dafür zeigen uns seine eigenen Antworten vom Jahre 1775
das Schauspiel der jungen Zeit in seiner erhabensten Gestalt.
Wie machtvoll weht uns aus diesen Zeilen, die mit strudelnder
Feder »hingewühlt« sind, der feurige Atem des Dichtergenius
entgegen, der das Mysterium der Welt und des eigenen Herzens zu
lösen ringt, der die Wirrsale des Daseins, das Wonne und Schmerz
zugleich ist, in künstlerischen Formen zu bändigen strebt!
Wie wechselt in diesem klopfenden Busen, der Himmel und Hölle
nebeneinander umschließt, die Flut der tiefsten Empfindung;
aus lichter Klarheit und Götternähe ins Dunkel der Erdennot
hinabgestürzt, auftauchend aus Kleinmut und Verzweiflung zu
hoffnungfreudiger Zuversicht auf die eingeborene Kraft und das
waltende Schicksal, ergreift dieses Gemüt jeden neuen Zustand
mit ungestümer Leidenschaft. Dem Überschwang des Gefühls versagt
sich das sonst so gefügige Wort; in bedeutungschwerem Stammeln,
halben abgebrochenen Lauten einer erschütterten Vollnatur macht
sich der Sturm des Innern Luft. »Ich bin wie ein klein Kind«, ein
Kind, das, hingegeben jedem Augenblick, sich in lallenden Tönen
überstürzt, um von Leiden und Freuden sich zu entlasten, die das
Herz erdrücken möchten. So hatte auch Werther einst gerufen:
»O was ich ein Kind bin!« Und wie hier die »Leiden des jungen
Werthers«, so klingen andere Dichtungen dieser reichen Epoche an
anderen Stellen unserer Briefe an. »Ich will Ihnen keinen Namen
geben, denn was sind Namen gegen das unmittelbare Gefühl«, dieses
erste Wort Goethes an Gustchen ist wahrhaft wesensverwandt jenem
Faustischen Bekenntnis: »Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich
habe keinen Namen Dafür!«
»Faust« steigt auf aus unseren Briefen; unmittelbar in die
Werkstatt des Dichters wird uns ein Einblick erlaubt, wenn
wir auf die Umschreibung des »Rattenliedes« stoßen. Und neben
»Faust« steht »Stella«, das kühne »Schauspiel für Liebende«,
herausgeboren aus dem seligschmerzlichen Verhältnis zu Lili
Schönemann. Lili -- das ist der Gegenstand der Frankfurter
Briefe. Wir sehen das unlösbare Geflecht von Qual und Entzücken,
in dem sich Goethe verfangen hat. Das blütenjunge Mädchen,
vollkommen schön und liebenswürdig, in kindlicher Harmlosigkeit
sich des Zaubers erfreuend, der von ihr ausgeht, und wiederum
fähig und bereit, dem Geliebten Familie und Heimat aufzuopfern,
erhebt ihn mit der Kraft ihrer innigen Neigung zur Höhe
überirdischen Glückes, und eine finstere Gewalt zerrt ihn
unbarmherzig hinab in den Abgrund innerlicher Verstörtheit:
das Grauen vor der Alltäglichkeit, der er sich überliefern
soll, die Furcht vor dem platten Nachbar- und Gevatterwesen,
der Widerwillen gegen das spießbürgerliche Getriebe, die leere
Selbstgefälligkeit eines verrottenden Gemeinwesens. Hin und her
gerissen zwischen Liebe und Freiheitssehnen, findet Goethe keinen
Standpunkt zu ruhiger Erwägung, sein Groll kehrt sich gegen die
Braut, die des unseligen Zwiespaltes unschuldige Ursache ist, er
plagt sie mit abweisender Kälte und büßt sein Unrecht in bittern
Selbstvorwürfen, er übergibt sich dem Strudel gesellschaftlicher
Vergnügungen, um die innere Unruhe zu übertäuben. So geht das
herzbeklemmende Schauspiel dem unausweichlichen Ende entgegen:
»Lili sieben Worte gesagt«. Mit der grandiosen Unbefangenheit des
Genies läßt er seinen Schmerz auf dem heiligsten Vorgang aller
Geschichte als auf einem Gleichnis eigenen Erlebens haften:
seine Liebe ist es, die er ans Kreuz geheftet hat, die das Haupt
senkt und spricht: Es ist vollbracht.
Getreuen Bericht dieser traurig-süßen Bräutigamszeit hat Goethe
dem unbekannten Mädchen abgestattet; aber immer aufs neue bricht
die Klage durch, daß er das Letzte, Tiefste, Geheimste nur von
Mund zu Munde sagen könne. So ist er denn also schon damals der
bittern Wahrheit inne geworden, daß aller Seelenkraft zum Trotz
die persönliche Gegenwart ganz allein ein wahres Verhältnis zu
bestimmen und zu befestigen vermögend sei, und doch bleibt er
noch unerschöpflich in der Erfindung von Mitteln, das Getrennte
wirksam zu vereinigen. Von Tag um Tag, von Stunde um Stunde
gibt er Rechenschaft, um sich über alle Fernen hinweg ganz
darzustellen; er bittet: »Schreiben Sie doch auch immer die
Daten«, weil er die lange Zeit hinwegtilgen zu können hofft, die
Gustchens Briefe haben reisen müssen, er borgt Hilfe von seiner
Zeichenkunst und gibt der Freundin ein Bild seiner Stube --
jener Stube, die seine Seufzer um Lili gehört, seinen »Faust«,
seine »Stella« hat entstehen sehen. Aber »Sturm und Drang« legt
sich zur Ruhe, Goethe reift fester Männlichkeit entgegen, die
nur in unmittelbarer Gegenständlichkeit wesen und wirken mag,
und in demselben Maße, wie ihm volle Realität alles Seins zur
Lebensbedingung wird, welkt das hastig emporgetriebene Verhältnis
zu Gustchen Stolberg ab.
Die einzige Gelegenheit, die sich ihm geboten hat, die Vertraute
seiner Frankfurter Leiden persönlich kennen zu lernen, hat
Goethe versäumt, als er im Dezember 1775 ihre Brüder, entgegen
dem ursprünglichen Plane, allein von Weimar abreisen ließ.
Der herzogliche Freund hielt ihn damals fest, und sie, die
nun auf länger denn ein Jahrzehnt seines heißen Verlangens
unerreichbarer Pol sein sollte, Charlotte v. Stein. Nur selten
wird Charlottens Name genannt in den Briefen, die Gustchen noch
aus Weimar erhalten hat, der Einfluß ihres stetig-milden Wesens
ist jedoch nicht zu verkennen. Wie viel ruhiger der Ton, wie
viel gleichmäßiger Bericht und Erzählung, wie viel gedämpfter
der Ausdruck neuen Leides, dessen Ursache im Dunkel bleibt! Die
zahlreichen Gedankenstriche, die, wie Erdrisse einen heißen Boden
zerklüften, die fiebernden Frankfurter Briefe durchsetzten,
kommen seltener und seltener aus ruhig fortlaufender Feder. Wie
erfrischender Frühwind eines herrlichen Sommermorgens weht es
heran, wie ein Wipfelgruß aus dem geliebten Garten am Park. Alle
seine früheren Geliebten habe sie beerbt, hat Goethe der teuern
Frau gestanden; sie ist auch in Gustchen Stolbergs Besitzrecht
eingetreten, als verstehende Frauenseele die Beichten eines
umgetriebenen Dichterherzens entgegenzunehmen. Hier war die
lebendige Hand, die sich kühlend auf die erhitzte Stirne legen
konnte, Fülle der Wirklichkeit, Kraft der Gegenwart -- da mußte
Gustchens Bild zu leerem Schemen verblassen.
Und noch einmal, nach einem Menschenalter voll wechselnden
Schicksals, ist Gustchen ungerufen vor den Stummgewordenen
hingetreten, um in eindringlichem Bekehrungsversuch zu erweisen,
wie nahe ihrem liebevollen Herzen der Freund der Jugend geblieben
sei. Kein Mephistopheles begrinse das Vertrauen dieser guten
Seele, die, ihres Glaubens voll, sich heilig quält, ihn, der ihr
einst so viel von seinem tiefsten Selbst geschenkt, verloren
halten zu sollen! Goethes Antwort, ernst und würdig, ist das
erhabenste Bekenntnis seiner reinen Weltfrömmigkeit. Mehr
als einmal ist er das Ziel eifriger Christianisierungslust
gewesen, die er dann wohl mit derbem Spott in ihre Schranken
zurückverwiesen hat -- was ist's, das ihn gutmeinender Anmaßung
hier mit Milde und verzeihendem Verständnis begegnen heißt? Ist
es der beredt-herzliche Ton der unerbetenen Mahnung? das Andenken
längst versunkener Zeit? der gesellschaftliche Rang der Gräfin?
Alles das mag zusammengewirkt haben, aber ein Entscheidendes
kommt hinzu: die letzte Liebe ist's, die wie der volle Glockenton
einer weltentrückten Bergeskirche vernehmbar wird. Was ihn Ulrike
v. Levetzow empfinden gelehrt hatte, die liebliche Jungfrau, der
er im Sommer 1821 entgegengetreten war, das hat Goethe, wenige
Monate nach dem Briefe an Gustchen, offenbart:
Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden
Mehr als Vernunft beseliget -- wir lesen's --
Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden
In Gegenwart des allgeliebten Wesens.
Der Friede Gottes, dem frommen Gemüt eines Kindes entflossen,
er ist es, der Goethes letzten Brief an Gustchen Stolberg
durchzieht; die reine Seele, die nur darum in Goethes Leben
eingetreten zu sein scheint, um wie ein Spiegel das Bild seines
Liebens aufzunehmen, sie hat nun ihre Sendung ganz erfüllt, da
auch Ulrikens ätherischer Geist leise an ihr vorübergeglitten ist.
Eine zierliche Greisin, das feine Gesicht von kurzgeschnittenen
silberweißen Haaren umrahmt, hat Gustchen im Kreise liebender
Enkel ihren Lebensabend verbracht, regsam und anteilnehmend bis
ans Ende. Sie ist gestorben in Kiel am 30. Juni 1835.
_Max Hecker._


Goethes Briefe
an
Auguste Gräfin Stolberg


Der erste Brief

Meine Teure -- ich will Ihnen keinen Nahmen geben, denn was sind
die Nahmen Freundinn Schwester, Geliebte, Braut, Gattin, oder ein
Wort das einen Complex von all denen Nahmen begriffe, gegen das
unmittelbaare Gefühl, zu dem -- ich kann nicht weiter schreiben,
Ihr Brief hat mich in einer wunderlichen Stunde gepackt. Adieu,
gleich den ersten Augenblick! --
Ich komme doch wieder -- ich fühle Sie können ihn tragen diesen
zerstückten, stammelnden Ausdruck wenn das Bild des Unendlichen
in uns wühlt. Und was ist das als Liebe! -- Musste _er_ Menschen
machen nach seinem Bild, ein Geschlecht das ihm ähnlich sey, was
müssen wir fühlen wenn wir Brüder finden, unser Gleichniss, uns
selbst verdoppelt.
Und so solls weg, so sollen Sie's haben dieses Blat, obiges
schrieb ich wohl vor acht Tagen, unmittelbaar auf den Empfang
Ihres Briefs.
Haben Sie Geduld mit mir, bald sollen Sie Antwort haben. Hier
indess meine Silhouette, ich bitte um die Ihrige, aber nicht
in's kleine, den grosen von der Natur genommenen Riss bitt ich.
Adieu ein herzlichstes Adieu. Fr[ank]furt d. 26. Jan. 1775.
Goethe.

Der Brief ist wieder liegen blieben o haben Sie Geduld mit mir.
Schreiben Sie mir und in meinen Besten Stunden will ich an Sie
dencken. Sie fragen ob ich glücklich bin? Ja meine beste ich
bins, und wenn ich's nicht bin, so wohnt wenigstens all das
tiefe Gefühl von Freud und Leid in mir. Nichts ausser mir stört,
schiert, hindert mich. Aber ich bin wie ein klein Kind weis Gott.
Noch einmal Adieu.


Der zweite Brief

Wenn Sie sich, meine liebe, einen Goethe vorstellen können, der
im galonirten Rock, sonst von Kopf zu Fuse auch in leidlich
konsistenter Galanterie, umleuchtet vom unbedeutenden Prachtglanze
der Wandleuchter und Kronenleuchter, mitten unter allerley Leuten,
von ein Paar schönen Augen am Spieltische gehalten wird, der in
abwechselnder Zerstreuung aus der Gesellschafft, ins Conzert, und
von da auf den Ball getrieben wird, und mit allem Interesse des
Leichtsinns, einer niedlichen Blondine den Hof macht; so haben
Sie den gegenwärtigen Fassnachts Goethe, der Ihnen neulich einige
dumpfe tiefe Gefühle vorstolperte, der nicht an Sie schreiben mag,
der Sie auch manchmal vergisst, weil er sich in Ihrer Gegenwart
ganz unausstehlich fühlt.
Aber nun giebts noch einen, den im grauen Biber-Frack mit dem
braunseidnen Halstuch und Stiefeln, der in der streichenden
Februarlufft schon den Frühling ahndet, dem nun bald seine liebe
weite Welt wieder geöffnet wird, der immer in sich lebend,
strebend und arbeitend, bald die unschuldigen Gefühle der
Jugend in kleinen Gedichten, das kräfftige Gewürze des Lebens
in mancherley Dramas, die Gestalten seiner Freunde und seiner
Gegenden und seines geliebten Hausraths mit Kreide auf grauem
Papier, nach seiner Maase auszudrücken sucht, weder rechts
noch lincks fragt: was von dem gehalten werde was er machte?
weil er arbeitend immer gleich eine Stufe höher steigt, weil
er nach keinem Ideale springen, sondern seine Gefühle sich zu
Fähigkeiten, kämpfend und spielend, entwickeln lassen will. Das
ist der, dem Sie nicht aus dem Sinne kommen, der auf einmal
am frühen Morgen einen Beruf fühlt Ihnen zu schreiben, dessen
gröste Glückseligkeit ist mit den besten Menschen seiner Zeit zu
leben.
Hier also meine beste sehr mancherley von meinem Zustande, nun
thun Sie dessgleichen und unterhalten mich von dem Ihrigen, so
werden wir näher rücken, einander zu schauen glauben -- denn
das sag ich Ihnen voraus dass ich Sie offt mit viel Kleinigkeit
unterhalten werde, wie mirs in Sinn schiesst.
Noch eins was mich glücklich macht, sind die vielen edlen
Menschen, die von allerley Enden meines Vaterlands, zwar freylich
unter viel unbedeutenden, unerträglichen, in meine Gegend, zu mir
kommen, manchmal vorübergehn, manchmal verweilen. Man weiss erst
dass man ist wenn man sich in andern wiederfindet.
Ob mir übrigens verrathen worden: wer und wo sie sind, thut
nichts zur Sache, wenn ich an Sie dencke fühl ich nichts als
Gleichheit, Liebe, Nähe! Und so bleiben Sie mir, wie ich gewiss
auch durch alles Schweben und Schwirren, durch unveränderlich
bleibe. Recht wohl --! diese Kusshand -- Leben Sie recht wohl.
Franckfurt. den 13. Febr.
1775. Goethe.


Der dritte Brief

Warum soll ich Ihnen nicht schreiben, warum wieder die Feder
liegen lassen, nach der ich bisher so offt reichte. Wie immer
immer hab ich an Sie gedacht. Und iezzo! -- Auf dem Land bey sehr
lieben Menschen -- in Erwartung -- liebe Aug[u]ste -- Gott weis
ich bin ein armer Junge -- d. 28 Febr haben wir getanzt die
Fassnacht beschlossen -- ich war mit von den ersten im Saale,
ging auf und ab, dachte an Sie -- und dann -- viel Freud und Lieb
umgab mich -- Morgends da ich nach Hause kam, wollt ich Ihnen
schreiben, liess es aber und redete viel mit Ihnen -- Was soll
ich Ihnen sagen, da ich Ihnen meinen gegenwärtigen Zustand nicht
ganz sagen kann, da Sie mich nicht kennen. Liebe! Liebe! Bleiben
Sie mir hold -- Ich wollt ich könnt auf ihrer Hand ruhen, in
Ihrem Aug rasten. Groser Gott was ist das Herz des Menschen! --
Gute Nacht. Ich dachte mir sollts unterm Schreiben besser werden
-- Umsonst mein Kopf ist überspannt. Ade. Heut ist der 6. März
denck ich. Schreiben Sie doch auch immer die Daten in solcher
Entfernung ist das viel Freud.
Guten Morgen liebe. Die Zimmerleute, die dadrüben einen Bau
aufschlagen, haben mich aufgewegt, und ich habe keine Rast im
Bette. Ich will an meine Schwester schreiben, und dann mit Ihnen
noch ein Wort.
Es ist Nacht, ich wollte noch in Garten, musste aber unter
der Thüre stehen bleiben, es regnet sehr. Viel hab ich an Sie
gedacht! Gedacht dass ich für Ihre Silhouette noch nicht gedanckt
habe! Wie offt hab ich schon dafür gedanckt, wie ist mein und
meines Bruder Lavaters Phisiognomischer Glaube wieder bestätigt.
Diese rein sinnende Stirn diese süsse Festigkeit der Nase, diese
liebe Lippe dieses gewisse Kinn, der Adel des ganzen dancke meine
Liebe dancke. -- Heut war der Tag wunderbaar. Habe gezeichnet --
eine Scene geschrieben. O wenn ich iezt nicht Dramas schriebe
ich ging zu Grund. Bald schick ich Ihnen eins geschrieben --
Könnt ich gegen Ihnen über sizzen, und es selbst in Ihr Herz
würcken, -- Liebe nur dass es Ihnen nicht aus Händen kommt. Ich
mag das nicht drucken lassen denn ich will, wenn Gott will
künftig meine Freu[den] und Kinder, in ein Eckelgen begraben oder
etabliren, ohne es dem Publiko auf die Nase zu hängen. Ich bin
das ausgraben, und seziren meines armen Werthers so satt. Wo ich
in eine Stube trete find ich das Berliner ppp Hundezeug, der eine
schilt drauf, der andre lobts, der dritte sagt es geht doch an,
und so hezt mich einer wie der andre -- Nun denn Sie nehmen mir
auch das nicht übel -- Nimmt mirs doch nichts an meinem innern
Ganzen, rührt und rückts mich doch nicht in meinen Arbeiten,
die immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens
sind -- denn ob ich gleich finde dass es viel #raisonnabler# sey
Hünerblut zu vergiessen als sein eignes -- die Kinder tollen über
mir, es ist mir besser ich geh hinauf als zu tief in Text zu
gerathen.
Ich hab das ältste Mädgen lassen anderthalb Seiten im
Paradiesgärtlein herab buchstabieren, mir ist ganz wohl, und so
gesegnete Mahlzeit. Ade! -- Warum sag ich dir nicht alles --
Beste -- Geduld Geduld hab mit mir!
den 10ten, wieder in der Stadt auf meiner Bergere, aufm Knie
schreib ich Ihnen. Liebe der Brief soll heute fort, und nur sag
ich Ihnen noch dass mein Kopf ziemlich heiter mein Herz leidlich
frey ist -- Was sag ich --! o beste wie wollen wir Ausdrücke
finden für das was wir fühlen! Beste wie können wir einander was
von unserm Zustande melden, da der von Stund zu Stund wechselt.
Ich hoffe auf einen Brief von Ihnen, und die Hoffnung lässt nicht
zu schanden werden.
[Illustration]
Geseegnet der gute Trieb der mir eingab statt allen weitern
Schreibens, Ihnen meine Stube, wie sie da vor mir steht, zu
zeichnen. Adieu. Halten Sie einen armen iungen am Herzen. Geb
Ihnen der gute Vater im Himmel viel muthige frohe Stunden wie ich
deren offt hab, und dann lass die Dämmrung kommen, tränenvoll und
seelig -- Amen
Ade liebe Ade!
Goethe.


Der vierte Brief

Mir ist's wieder eine Zeit her für Wohl u. Weh, dass ich nicht
weis ob ich auf der Welt bin, und da ist mir's doch als wär ich
im Himmel. Dies liebe Schwester den 19. Merz Nachts um eilfe.
Gute Nacht!
Den 23. Abends bald sieben. Ich komme von meiner Mutter herauf,
noch einige Worte dir o du liebe. Heut nach Tisch kam dein
Brief, eben da ich beym Braten gemurrt hatte, dass so lang
keiner kam. Ich dancke dir tausendmal. um 2 Uhr musst ich zu
einem verdrüslichen Geschäfft, da ging ich unter allerley Leuten
herum und dacht an dich und schrieb mit Bleystifft beigehendes
Zettelgen. So recht! Tritt u. Schritt muss ich wissen von meinen
lieben, denn ich bilde mir ein dass euch von mir das all auch so
werth ist; also dancke dancke für die Schildrung dein und deines
Lebens, wie wahr, wie voraus von mir gefühlt! -- O könnt ich
auch! -- -- Behalt mich lieb --
Jetzt bitt ich noch um die Silhouetten all deiner lieben, deines
Ehlers der mir verzeihen soll dass ich ihm nicht schreibe, ich
habe warrlich nimmer nichts zu sagen, nur ihr Mädgen kriegt
mich doch wieder dran. Dann die Schattenrisse deiner Brüder von
denen ich auch Briefe habe, meiner Brüder, und deiner innigen
Freundin. #NB.# alle wie sie auf der Wand gezeichnet worden ohn
ausgeschnitten.
Jetzt gute Nacht und weg mit dem Fieber! -- doch wenn du leidest,
schreib mir -- ich will alles theilen -- o dann lass mich auch
nicht stecken edle Seele zur Zeit der Trübsaal, die kommen
könnte, wo ich dich flöhe und alle Lieben! Verfolge mich ich
bitte dich, verfolge mich mit deinen Briefen dann, und rette mich
von mir selbst.
Auf beyliegendem Blättgen ist abgeschrieben das Bleystifft
Zettelgen wovon ich vorhin sprach. Liebe! liebe! und so leb wohl.
d. 25. Merz 1775.
Nicht doch du musst das Original haben! -- Was wär' ein Kuss in
#Copia#! --


Der fünfte Brief

Hier Beste, ein Liedgen von mir darauf ich hab eine Melodie
von Gretri umbilden lassen! Ach Gott Ihre Brüder kommen, unsre
Brüder, zu mir! -- Liebe Schwester, das liebe Ding, das sie Gott
heissen, oder wie's heisst, sorgt doch sehr für mich. Ich bin in
wunderbaarer Spannung, und es wird mir so wohl thun sie zu haben.
Ihren Schattenriss kriegen Sie, ich muss aber einen neuen von
Ihnen haben, _gros_.
Thun Sie doch einen Blick in den zweiten Band der Iris wenn Ihnen
der aufstöst, es sind allerley [Lieder] von mir drinn.
Ich halte mich offt in Gedancken an Sie.
Wenn ich wieder munter werde sollen Sie auch Ihr Theil davon
haben, lassen Sie nur meine Briefe sich nicht fatal werden, wie
ich mir selbst bin da ich schreibe. Ich meyne alle Falten des
Gesichts drückten sich drinn ab.
Den 15. Apr. Ade! Ade! Beste.

Wie erwart ich unsre Brüder! Welch ein lieber Brief von Euch
dreyen! Hier die Schattenrisse. Sie sind nicht alle gleichgut,
doch alle mit fühlender Hand geschnitten. Diesmal kein Wort
weiter. Behalten Sie mich am Herzen! d. 26. Apr. 1775.
G.


Der sechste Brief

Den 25. Jul. 75.
Ich will Ihnen schreiben Gustgen liebe Schwester, ob ich gleich,
wäre ich iezt bey Ihnen schwerlich reden würde. Ich muss
anfangen! Wie weit ists nun von mir zu Ihnen. Gut denn, wir
werden uns doch sehn.
Bin wieder in Franckfurt, habe mich von unsern Brüdern in Zürch
getrennt, schweer ward's uns doch. -- Das denck ich, wird Gustgen
sagen. -- Friz, meine Liebe, ist nun im Wolckenbade und der gute
Geist der um uns alle schwebt, wird ihm gelinden Balsam in die
Seele giessen. Ich litt mit ihm und durft nicht dergleichen thun.
Ich bitte Sie -- wenigstens lassen Sie mich iezt nichts davon
sagen -- und wer kann davon sagen -- Ich war dabey wie die lezte
Nachricht kam. Es war in Strasburg. Gute Nacht Schwester Engel.
Einen herzlichen Grus der Gräfin Bernsdorf.
Den 31. Jul. Wenn mirs so recht weh ist, kehr ich mich nach
Norden, wo sie dahinten ist zweyhundert Meil[en] von mir meine
geliebte Schwester. Gestern Abend Engel hatt' ich viel Sehnen
zu ihren Füssen zu liegen, ihre Hände zu halten, und schlief
drüber ein, und heute früh ist[s] wieder frisch mit dem Morgen.
Beste theilnehmende Seele, immer den Himmel im Herzen und nur
unglücklich durch die Deinigen! -- Aber wie du auch geliebt wirst!
Ich muss noch viel herumgetrieben werden, und dann einen
Augenblick an Ihrem Herzen! -- Das ist immer so mein Traum,
meine Aussicht durch viel Leiden. -- Ich habe mich so offt am
Weiblichen Geschlecht betrogen -- O Gustgen wenn ich nur einen
Blick in Ihr Aug thun könnte! -- Ich will schweigen -- Hören Sie
nicht auf, auch für mich zu seyn. Ade.
Hier Gustgen ein altes verlohrnes Zettelgen das ich wiederfinde.


Der siebente Brief

Gustgen! Gustgen! Ein Wort dass mir das Herz frey werde, nur
einen Händedruck. Ich kann Ihnen nichts sagen. Hier! -- Wie soll
ich Ihnen nennen das _hier_! Vor dem Stroheingelegten bunten
Schreibzeug -- da sollten feine Briefgen ausgeschrieben werden
und diese Trähnen und dieser Drang! Welche Verstimmung. O dass
ich Alles sagen könnte. Hier in dem Zimmer des Mädgens das mich
unglücklich macht, ohne ihre Schuld, mit der Seele eines Engels,
dessen heitre Tage _ich_ trübe, *ich!* Gustgen! Ich nehme vor
einer Viertelstunde Ihren Brief aus der Tasche, ich les ihn! --
Vom 2 Jun! und sie _bitten_, _bitten_, um Antwort, um ein Wort
aus meinem Herzen. Und heut der 3 Aug. Gustgen und ich habe noch
nicht geschrieben. -- Ich habe geschrieben, der Brief liegt in
der Stadt angefangen. O mein Herz -- Soll ich's denn anzapfen,
auch dir Gustgen, von dem Hefetrüben Wein schencken! -- Und wie
kann ich von Frizzen reden, vor dir, da ich in seinem Unglück,
gar offt das meine beweint habe. Lass Gustgen. Ihm ist wohler wie
mir -- Vergebens dass ich drey Monate, in freyer Lufft herumfuhr,
tausend neue Gegenstände in alle Sinnen sog. Engel, und ich sizze
wieder in Offenbach, so vereinfacht wie ein Kind, so beschränckt
als ein Papagey auf der Stange, Gustgen und sie so weit. Ich
habe mich so offt nach Norden gewandt, Nachts auf der Terrasse
am Mayn, ich seh hinüber, und denck an dich! So weit! So weit!
-- Und dann du und Friz, und ich! und alles wirrt sich in einen
Schlangenknoten! Und ich finde nicht Lufft zu schreiben. -- Aber
iezt will ich nicht aufhören biss iemand an die Thüre kommt und
mich wegrufft. -- Und doch Engel manchmal wenn die Noth in meinem
Herzen der grösst ist, ruf ich aus, ruf ich dir zu: Getrost!
Getrost! Ausgeduldet und es wird werden. Du wirst Freude an
deinen Brüdern haben, und wir an uns selbst. Diese Leidenschafft
ists die uns aufblasen wird zum Brand, in dieser Noth werden wir
um uns greifen, und brav seyn, und handeln, und gut seyn, und
getrieben werden, dahin wo Ruhe Sinn nicht reicht. -- Leide nicht
vor uns! -- Duld uns! -- Gieb uns eine Trähne, einen Händedruck,
einen Augenblick an deinen Knieen. Wische mit deiner Lieben Hand
diese Stirn ab. Und ein Krafftwort, und wir sind auf unsern
Füssen.
Hundertmal wechselts mit mir den Tag! O wie war mir so wohl mit
deinen Brüdern. Ich schien gelassen, mir war's weh für Frizzen
der elender war als ich, und mein Leiden war leidlicher. Jezt
wieder allein. --
In ihnen hatte ich _sie_ bestes Gustgen, denn ihr seyd eins in
Liebe und Wesen. Gustgen war bey uns und wir bey ihr! -- Jezt
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