Geschichte des Agathon. Teil 1 - 01
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Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland
Erste Fassung (1766/1767)
--quid Virtus, et quid Sapientia possit Utile proposuit nobis exemplar.--
Geschichte des Agathon--Inhalt
Vorbericht
Erster Teil
Erstes Buch
Erstes Kapitel: Anfang dieser Geschichte
Zweites Kapitel: Etwas ganz Unerwartetes
Drittes Kapitel: Unvermutete Unterbrechung des
Bacchus-Festes
Viertes Kapitel: Agathon wird zu Schiffe gebracht
Fünftes Kapitel: Eine Entdeckung
Sechstes Kapitel: Erzählung der Psyche
Siebentes Kapitel: Fortsetzung der Erzählung der Psyche
Achtes Kapitel: Psyche beschließt ihre Erzählung
Neuntes Kapitel: Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden
Zehntes Kapitel: Ein Selbstgespräch
Eilftes Kapitel: Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft
Zweites Buch
Erstes Kapitel: Wer der Käufer des Agathon gewesen
Zweites Kapitel: Absichten des weisen Hippias
Drittes Kapitel: Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird
Viertes Kapitel: Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird,
daß diese Geschichte erdichtet sei
Fünftes Kapitel: Schwärmerei des Agathon
Sechstes Kapitel: Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven
Siebentes Kapitel: Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut
räsoniert
Achtes Kapitel: Vorbereitungen zum Folgenden
Drittes Buch
Erstes Kapitel: Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs
Zweites Kapitel: Theorie der angenehmen Empfindungen
Drittes Kapitel: Die Geisterlehre eines echten Materialisten
Viertes Kapitel: Worin Hippias bessere Schlüsse macht
Fünftes Kapitel: Der Anti-Platonismus in Nuce
Sechstes Kapitel: Ungelehrigkeit des Agathon
Viertes Buch
Erstes Kapitel: Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend
unsers Helden macht
Zweites Kapitel: Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab
Drittes Kapitel: Geschichte der schönen Danae
Viertes Kapitel: Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer
verschönernden Einbildungskraft zu sein
Fünftes Kapitel: Pantomimen
Sechstes Kapitel: Geheime Nachrichten
Fünftes Buch
Erstes Kapitel: Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von
unsern Personen vorgegangen
Zweites Kapitel: Eine kleine metaphysische Abschweifung
Drittes Kapitel: Worin die Absichten des Hippias einen merklichen
Schritt machen
Viertes Kapitel: Veränderung der Szene
Fünftes Kapitel: Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe
Sechstes Kapitel: Worin der Geschichtschreiber sich einiger
Indiskretion schuldig macht
Siebentes Kapitel: Magische Kraft der Musik
Achtes Kapitel: Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden
vorbereitet wird
Neuntes Kapitel: Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen
Mißverstandes
Zehentes Kapitel: Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie
nicht sehr glücklich oder vollkommne Stoiker sind,
überschlagen können
Eilftes Kapitel: Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von
der Seelenmischung
Sechstes Buch
Erstes Kapitel: Ein Besuch des Hippias
Zweites Kapitel: Eine Probe von den Talenten eines
Liebhabers
Drittes Kapitel: Konvulsivische Bewegungen der
wiederauflebenden Tugend
Viertes Kapitel: Daß Träume nicht allemal Schäume sind
Fünftes Kapitel: Ein starker Schritt zu einer Katastrophe
Siebentes Buch
Erstes Kapitel: Die erste Jugend des Agathons
Zweites Kapitel: En animam & mentem cum qua Di nocte
loquantur!
Drittes Kapitel: Die Liebe in verschiedenen Gestalten
Viertes Kapitel: Fortsetzung des Vorhergehenden
Fünftes Kapitel: Agathon entfliehet von Delphi, und findet
seinen Vater
Sechstes Kapitel: Agathon kommt nach Athen, und widmet sich
der Republik. Eine Probe der besondern Natur
desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura
popularis genennet wird
Siebentes Kapitel: Agathon wird von Athen verbannt
Achtes Kapitel: Agathon endigt seine Erzählung
Neuntes Kapitel: Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers
Helden
Zweiter Teil
Achtes Buch
Erstes Kapitel: Vorbereitung zum Folgenden
Zweites Kapitel: Verräterei des Hippias
Drittes Kapitel: Folgen des Vorhergehenden
Viertes Kapitel: Eine kleine Abschweifung
Fünftes Kapitel: Schwachheit des Agathon; unverhoffter Zufall,
der seine Entschließungen bestimmt
Sechstes Kapitel: Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze
Siebentes Kapitel: Eine oder zwo Digressionen
Neuntes Buch
Erstes Kapitel: Veränderung der Szene. Charakter der Syracusaner,
des Dionysius und seines Hofes
Zweites Kapitel: Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.
Eine Digression
Drittes Kapitel: Eine Probe, daß die Philosophie so gut zaubern
könne, als die Liebe
Viertes Kapitel: Philistus und Timocrates
Fünftes Kapitel: Agathon wird der Günstling des Dionysius
Zehentes Buch
Erstes Kapitel: Von Haupt--und Staats-Aktionen. Betragen Agathons
am Hofe des Königs Dionys
Zweites Kapitel: Beispiele, daß nicht alles, was gleißt, Gold ist
Drittes Kapitel: Große Fehler wider die Staats-Kunst, welche Agathon
beging--Folgen davon
Viertes Kapitel: Nachricht an den Leser
Fünftes Kapitel: Moralischer Zustand unsers Helden
Eilftes Buch
Erstes Kapitel: Apologie des griechischen Autors
Zweites Kapitel: Die Tarentiner. Charakter eines liebenswürdigen
alten Mannes
Drittes Kapitel: Eine unverhoffte Entdeckung
Viertes Kapitel: Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte
Fünftes Kapitel: Abdankung
VORBERICHT
Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig
Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in
der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei; daß er am
besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen, und dem Leser
zu überlassen, davon zu denken, was er will.
Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um
die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein
komischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt
sein muß:) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts
wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich
verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer
Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte
zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den
Archiven des alten Athens gefunden worden sei?
Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern
hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles
mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charakter nicht willkürlich,
und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet,
sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in
der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit,
die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden
Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche
sie durch den Individual-Charakter und die Umstände einer jeden Person
bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Charakter
des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird,
niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein
hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es
erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen
werde. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen,
und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte
des Agathons zu versprechen.
Seine Hauptabsicht war, sie mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden
würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten
bekannt zu machen. Ohne Zweifel gibt es wichtigere als derjenige, auf den
seine Wahl gefallen ist. Allein, da er selbst gewiß zu sein wünschte,
daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er
denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat.
Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die
meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind,
wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und
in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und
besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur
Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das
Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht
noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der
glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen
haben.
Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit
unwahrscheinlichere Dinge begegnen, als der Chevalier de Mouhy selbst zu
erdichten sich getrauen würde. Es würde also sehr übereilt sein, die
Wahrheit des Charakters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil
es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe,
wie er. Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und
ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon
von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder
wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder
übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit
Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er
positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe.
Zu gutem Glücke finden sich in den beglaubtesten Geschichtschreibern, und
schon allein in den Lebensbeschreibungen des Plutarch Beispiele genug, daß
es möglich sei, so edel, so tugendhaft, so enthaltsam, oder, nach der
Sprache des Hippias, und einer ansehnlichen Klasse von Menschen zu reden,
so seltsam, so eigensinnig und albern zu sein als es unser Held in einigen
Gelegenheiten seines Lebens ist.
Man hat an verschiedenen Stellen des gegenwärtigen Werks die Ursachen
angegeben, warum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen
tugendhaften Mannes gemacht hat. Da die Welt mit ausführlichen
Lehrbüchern der Sittenlehre angefüllt ist, so steht einem jeden frei, (und
es ist nichts leichters) sich einen Menschen einzubilden, der von der
Wiege an bis ins Grab, in allen Umständen und Verhältnissen des Lebens,
allezeit und vollkommen so empfindt, denkt und handelt, wie eine Moral.
Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele
ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich,
nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin
andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist,
daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den
wenigsten Fehlern hat,) denjenigen nenne, der unter allen nach dem
natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen
genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon.
Es ist möglich, daß irgend ein junger Taugenichts, wenn er siehet, daß ein
Agathon den reizenden Verführungen der Liebe und einer Danae endlich
unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chärea
beim Terenz von einem Gemälde machte, welches eine von den Schelmereien
des Vater Jupiters vorstellte,--und daß er, wenn er mit herzlicher Freude
gelesen haben wird, daß ein so vortrefflicher Mann habe fallen können, zu
sich selbst sagen mag: Ego homuncio hoc non facerem? ego vero illud
faciam ac lubens.
Es ist eben so möglich, daß ein übelgesinnter oder ruchloser Mensch, den
Diskurs des Sophisten Hippias lesen, und sich einbilden kann, die
Rechtfertigung seines Unglaubens und seines lasterhaften Lebens darin zu
finden: Aber alle rechtschaffnen Leute werden mit uns überzeugt sein, daß
dieser junge Bube, und dieser ruchlose Freigeist beides gewesen und
geblieben wären, wenn gleich keine Geschichte des Agathon in der Welt wäre.
Dieses letztere Beispiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der
Schwachheit gewisser gutgesinnter Leute, deren Wille besser ist, als ihre
Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem ärgernis
oder ungerechten Urteilen zu verwahren, uns verbunden glauben. Wir
gestehen gerne, daß wir in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten
eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt nötig wäre,
wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte, welche einer unsrer
Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag. 58, unter den Text zu
setzen, gut befunden.
Diese Erläuterung betrifft die Einführung des Sophisten Hippias in unsere
Geschichte, und den Diskurs, wodurch er den Agathon von seinem
liebenswürdigen und tugendhaften Enthusiasmus zu heilen, und zu einer
Denkungsart zu bringen hofft, welche er nicht ohne guten Grund für
geschickter hält, sein Glück in der Welt zu machen. Leute, die aus
gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus
dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller
Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz
deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig
sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch
für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem
heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister
treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu
empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen
wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig
gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und
gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen
der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von
Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu grunde
richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der
Menschen damit angesteckt werden könnte. Wir glauben also vor allem
Verdacht über diesen Artikel sicher zu sein. Aber da unter unsern Lesern
ehrliche Leute sein können, welche uns wenigstens eine Unvorsichtigkeit
Schuld geben, und davor halten möchten, daß wir diesen Hippias entweder
gar nicht einführen, oder wenn dieses der Plan unsers Werkes ja erfodert
hätte, seine Lehrsätze ausführlich hätten widerlegen sollen: So sehen wir
für billig an, ihnen die Ursachen zu sagen, warum wir das erste getan, und
das andere unterlassen haben.
Weil nach unserm Plan der Charakter unsers Helden auf verschiedene Proben
gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend
erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und
nach abgesondert würde; so war es um so viel nötiger ihn auch dieser Probe
zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maßen, eine historische Person ist,
und mit den übrigen Sophisten derselben Zeit sehr vieles zur Verderbnis
der Sitten unter den Griechen beigetragen hat. überdem diente er den
Charakter und die Grundsätze unsers Helden durch den Kontrast, den er mit
selbigen macht, in ein desto höheres Licht zu setzen. Und da es mehr als
zu gewiß ist, daß der größeste Teil derjenigen, welche die große Welt
ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach seinen Grundsätzen handelt;
so war es auch in dem Plan der moralischen Absichten, welche wir uns bei
diesem Werke vorgesetzt haben, zu zeigen, was für einen Effekt diese
Grundsätze machen, wenn sie in den gehörigen Zusammenhang gebracht werden.
Und dieses sind die hauptsächlichsten Ursachen, warum wir diesen
Sophisten (welchen wir nicht schlimmer vorgestellt haben, als er wirklich
war, und als seine Brüder noch heutiges Tages sind) in die Geschichte des
Agathon eingeflochten haben.
Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und
gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in
Absicht unsers Plans ein wahres hors d'oeuvre gewesen, und schien uns auch
in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm
Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch
das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das
Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist.
Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes
den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den
Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er
sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen. Dieses war
unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente.
Wir würden dem zweiten Teile, dessen Ausgabe von der Aufnahme des ersten
abhangen wird, den Vorteil der Neuheit und den Lesern zu gleicher Zeit ein
künftiges Vergnügen rauben, wenn wir den Inhalt desselben vor der Zeit
bekannt machten. Genug, daß man unsern Helden in der Folge in eben so
sonderbaren und interessanten Umständen und Verwicklungen sehen wird, als
in dem ersten Teil. Alles, was wir vorläufig von der Entwicklung sagen
können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens,
welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als
tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht,
) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum
vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es
zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.
ERSTER TEIL
ERSTES BUCH
ERSTES KAPITEL
Anfang dieser Geschichte
Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in
einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen
Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er
noch zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend
einen bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte. Er
schleppte sich also mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen
den Gesträuchen gewahr ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges
erreicht hatte, fühlt er sich so entkräftet, daß er den Mut verlor den
Gipfel erreichen zu können, der sich immer weiter von ihm zu entfernen
schien, je mehr er ihm näher kam. Er warf sich also ganz Atemlos unter
einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschattete, auf welcher er die
einbrechende Nacht zuzubringen beschloß.
Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man
unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin
wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. Vor wenigen Tagen
noch ein Günstling des Glücks, und der Gegenstand des Neides seiner
Mitbürger, befand er sich, durch einen plötzlichen Wechsel, seines
Vermögens, seiner Freunde, seines Vaterlands beraubt, allen Zufällen des
widrigen Glücks, und selbst der Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte
Leben, das ihm allein übrig gelassen war, erhalten möchte. Allein
ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten, die sich vereinigten seinen Mut
niederzuschlagen, versichert uns doch die Geschichte, daß derjenige, der
ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, weder in seiner Miene noch in
seinen Gebärden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von
Mißvergnügen hätte bemerken können.
Vielleicht erinnern sich einige hiebei an den Weisen der Stoiker von
welchem man ehmals versicherte, daß er in dem glühenden Ochsen des
Phalaris zum wenigsten so glücklich sei, als ein Morgenländischer Bassa in
den weichen Armen einer jungen Circasserin. Da sich aber in dem Lauf
dieser Geschichte verschiedne Proben einer nicht geringen Ungleichheit
unsers Helden mit dem Weisen des Seneca zeigen werden, so halten wir für
wahrscheinlicher, daß seine Seele von der Art derjenigen gewesen sei,
welche dem Vergnügen immer offen stehen, und bei denen eine einzige
angenehme Empfindung hinlänglich ist, sie alles vergangnen und künftigen
Kummers vergessen zu machen. Eine öffnung des Waldes zwischen zween
Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts
mehr als diesen Anblick, um die Empfindung seiner widrigen Umstände zu
unterbrechen. Er überließ sich der Begeisterung, worin dieses
majestätische Schauspiel empfindliche Seelen zu setzen pflegt, ohne eine
lange Zeit sich seiner dringendsten Bedürfnisse zu erinnern. Endlich
weckte ihn doch das Rauschen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus
einem Felsen hervor sprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worin er
etliche Minuten sich selbst vergessen hatte; er stand auf, und schöpfte
mit der hohlen Hand von diesem Wasser, dessen fließenden Kristall, seiner
Einbildung nach, eine wohltätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem
Marmorkrug entgegen goß; und anstatt die von Cyprischem Wein sprudelnde
Becher der Athenischen Gastmähler zu vermissen, deuchte ihm, daß er
niemals angenehmer getrunken habe. Er legte sich hierauf wieder nieder,
entschlief unter dem sanftbetäubenden Gemurmel der Quelle, und träumte,
daß er seine geliebte Psyche wieder gefunden habe, deren Verlust das
einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seufzer auspreßte.
ZWEITES KAPITEL
Etwas ganz Unerwartetes
Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der
genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß
diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher
scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere
Begebenheiten erzählt, als ein Romanen--Schreiber zu dichten wagen dürfte.
Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue
Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß noch der Süßigkeit des
Schlafs, den Homer für ein so großes Gut hält, daß er ihn auch den
Unsterblichen zueignet; als er durch ein lärmendes Getöse plötzlich
aufgeschreckt wurde. Er horchte gegen die Seite, woher es zu kommen
schiene, und glaubte in dem vermischten Getümmel ein seltsames Heulen und
Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf
eine fürchterliche Art widerhallte. Agathon, der nur im Schlaf erschreckt
werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Mut entgegen zu gehen,
womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem
nächtlichen Klappern der Walkmühlen Trotz bot. Er bestieg also den obern
Teil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den dämmernden
Schatten hob, begünstigte sein Unternehmen. Das Getümmel nahm immer zu,
je näher er dem Rücken des Berges kam; er unterschied itzt den Schall von
Trummeln und das Flüstern regelloser Flöten, und fing an zu erraten, was
dieser Lärm zu bedeuten haben möchte; als sich ihm plötzlich ein
Schauspiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den Weisen selbst,
dessen wir oben erwähnet haben, seiner eingebildeten Göttlichkeit
vergessen zu machen. Ein schwärmender Haufen von jungen Thracischen
Weibern war es, welche von der Orphischen Wut begeistert, sich in dieser
Nacht versammelt hatten, die unsinnigen Gebräuche zu begehen, die das
heidnische Altertum zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus
Indien eingesetzt hatte. Ohne Zweifel könnte eine ausschweifende
Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer solchen Szene
ein ziemlich verführerisches Gemälde machen; allein die Eindrücke die der
wirkliche Anblick auf unsern jungen Helden machte, waren nichts weniger
als von der reizenden Art. Das stürmisch fliegende Haar, die rollenden
Augen, die beschäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln, die wilden
Gebärden und die rasende Fröhlichkeit, mit der diese Unsinnigen in frechen
Stellungen, ihre mit zahmen Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre
Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit
lallender Zunge stammelten; alle diese Ausbrüche einer fanatischen Wut,
die ihm nur desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben zur Quelle
hatte, machten seine Augen unempfindlich, und erweckten ihm einen Ekel vor
Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren
hatten. Er wollte zurück fliehen, aber es war unmöglich, weil er in eben
dem Augenblick, da er sie erblickte, von ihnen bemerkt worden war. Der
unerwartete Anblick eines Jüngling, an einem Ort und bei einem Feste,
welches kein männliches Aug entweihen durfte, hemmte plötzlich den Lauf
ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle ihre Aufmerksamkeit auf diese
Erscheinung zu wenden.
Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht länger verhalten, der in
diese ganze Geschichte einen großen Einfluß hat. Agathon war von einer so
wunderbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons seiner Zeit, weil sie
die Hoffnung aufgaben, eine vollkommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den
zerstreuten Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum
Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus vorstellen wollten.
Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblickt, ohne die Schuld ihres
Geschlechts zu bezahlen, welches die Natur für die Schönheit so
empfindlich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigenschaft den
meisten unter ihnen die Abwesenheit aller übrigen verbirgt. Agathon hatte
ihr in diesem Augenblick noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem
Schicksal des Pentheus. Seine Schönheit setzte diese Mänaden in
Erstaunen. Ein Jüngling von einer solchen Gestalt, an einem solchen Ort,
zu einer solchen Zeit! Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als
für den Bacchus selbst? In dem Taumel worin sich ihre Sinnen befanden,
war nichts natürlichers als dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie
auf einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie die Gestalt dieses
Gottes vor sich sahen, sie alles übrige hinzudichtete, was ihm zu einem
vollständigen Dionysus mangelte. Ihre bezauberten Augen stellten ihnen
die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor, die um ihn her schwärmten,
und Tyger und Leoparden die mit liebkosender Zunge seine Füße leckten;
Blumen, so deucht es sie, entsprangen unter seinen Fußsohlen, und Quellen
von Wein und Honig sprudelten von jedem seiner Tritte auf, und rannen in
schäumenden Bächen die Felsen hinab. Auf einmal erschallte der ganze
Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von ihrem lauten "Evan, Evan!"
mit einem so entsetzlichen Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß
Agathon, bei dem das, was er in diesem Augenblick sah und hörte, alles
überstieg, was er jemals gesehen, gehört, gedichtet oder geträumt hatte,
von Entsetzen und Erstaunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb,
indes, daß die entzückten Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her machten,
und durch tausend unsinnige Gebärden ihre Freude über die vermeinte
Gegenwart ihres Gottes ausdrückten.
Allein die unmäßigste Schwärmerei hat ihre Grenzen, und weicht endlich der
Obermacht der Sinnen. Zum Unglück für den Helden unsrer Geschichte kamen
diese Unsinnigen allmählich aus einer Entzückung zurück, worüber sich
vermutlich ihre Einbildungskraft gänzlich abgemattet hatte, und bemerkten
immer mehr menschliches an demjenigen, den seine ungewöhnliche Schönheit
in ihren trunknen Augen vergöttert hatte. Etliche, die das Bewußtsein
ihrer eignen stolz genug machte, die Ariadnen dieses neuen Bacchus zu sein,
Christoph Martin Wieland
Erste Fassung (1766/1767)
--quid Virtus, et quid Sapientia possit Utile proposuit nobis exemplar.--
Geschichte des Agathon--Inhalt
Vorbericht
Erster Teil
Erstes Buch
Erstes Kapitel: Anfang dieser Geschichte
Zweites Kapitel: Etwas ganz Unerwartetes
Drittes Kapitel: Unvermutete Unterbrechung des
Bacchus-Festes
Viertes Kapitel: Agathon wird zu Schiffe gebracht
Fünftes Kapitel: Eine Entdeckung
Sechstes Kapitel: Erzählung der Psyche
Siebentes Kapitel: Fortsetzung der Erzählung der Psyche
Achtes Kapitel: Psyche beschließt ihre Erzählung
Neuntes Kapitel: Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden
Zehntes Kapitel: Ein Selbstgespräch
Eilftes Kapitel: Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft
Zweites Buch
Erstes Kapitel: Wer der Käufer des Agathon gewesen
Zweites Kapitel: Absichten des weisen Hippias
Drittes Kapitel: Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird
Viertes Kapitel: Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird,
daß diese Geschichte erdichtet sei
Fünftes Kapitel: Schwärmerei des Agathon
Sechstes Kapitel: Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven
Siebentes Kapitel: Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut
räsoniert
Achtes Kapitel: Vorbereitungen zum Folgenden
Drittes Buch
Erstes Kapitel: Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs
Zweites Kapitel: Theorie der angenehmen Empfindungen
Drittes Kapitel: Die Geisterlehre eines echten Materialisten
Viertes Kapitel: Worin Hippias bessere Schlüsse macht
Fünftes Kapitel: Der Anti-Platonismus in Nuce
Sechstes Kapitel: Ungelehrigkeit des Agathon
Viertes Buch
Erstes Kapitel: Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend
unsers Helden macht
Zweites Kapitel: Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab
Drittes Kapitel: Geschichte der schönen Danae
Viertes Kapitel: Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer
verschönernden Einbildungskraft zu sein
Fünftes Kapitel: Pantomimen
Sechstes Kapitel: Geheime Nachrichten
Fünftes Buch
Erstes Kapitel: Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von
unsern Personen vorgegangen
Zweites Kapitel: Eine kleine metaphysische Abschweifung
Drittes Kapitel: Worin die Absichten des Hippias einen merklichen
Schritt machen
Viertes Kapitel: Veränderung der Szene
Fünftes Kapitel: Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe
Sechstes Kapitel: Worin der Geschichtschreiber sich einiger
Indiskretion schuldig macht
Siebentes Kapitel: Magische Kraft der Musik
Achtes Kapitel: Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden
vorbereitet wird
Neuntes Kapitel: Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen
Mißverstandes
Zehentes Kapitel: Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie
nicht sehr glücklich oder vollkommne Stoiker sind,
überschlagen können
Eilftes Kapitel: Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von
der Seelenmischung
Sechstes Buch
Erstes Kapitel: Ein Besuch des Hippias
Zweites Kapitel: Eine Probe von den Talenten eines
Liebhabers
Drittes Kapitel: Konvulsivische Bewegungen der
wiederauflebenden Tugend
Viertes Kapitel: Daß Träume nicht allemal Schäume sind
Fünftes Kapitel: Ein starker Schritt zu einer Katastrophe
Siebentes Buch
Erstes Kapitel: Die erste Jugend des Agathons
Zweites Kapitel: En animam & mentem cum qua Di nocte
loquantur!
Drittes Kapitel: Die Liebe in verschiedenen Gestalten
Viertes Kapitel: Fortsetzung des Vorhergehenden
Fünftes Kapitel: Agathon entfliehet von Delphi, und findet
seinen Vater
Sechstes Kapitel: Agathon kommt nach Athen, und widmet sich
der Republik. Eine Probe der besondern Natur
desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura
popularis genennet wird
Siebentes Kapitel: Agathon wird von Athen verbannt
Achtes Kapitel: Agathon endigt seine Erzählung
Neuntes Kapitel: Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers
Helden
Zweiter Teil
Achtes Buch
Erstes Kapitel: Vorbereitung zum Folgenden
Zweites Kapitel: Verräterei des Hippias
Drittes Kapitel: Folgen des Vorhergehenden
Viertes Kapitel: Eine kleine Abschweifung
Fünftes Kapitel: Schwachheit des Agathon; unverhoffter Zufall,
der seine Entschließungen bestimmt
Sechstes Kapitel: Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze
Siebentes Kapitel: Eine oder zwo Digressionen
Neuntes Buch
Erstes Kapitel: Veränderung der Szene. Charakter der Syracusaner,
des Dionysius und seines Hofes
Zweites Kapitel: Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.
Eine Digression
Drittes Kapitel: Eine Probe, daß die Philosophie so gut zaubern
könne, als die Liebe
Viertes Kapitel: Philistus und Timocrates
Fünftes Kapitel: Agathon wird der Günstling des Dionysius
Zehentes Buch
Erstes Kapitel: Von Haupt--und Staats-Aktionen. Betragen Agathons
am Hofe des Königs Dionys
Zweites Kapitel: Beispiele, daß nicht alles, was gleißt, Gold ist
Drittes Kapitel: Große Fehler wider die Staats-Kunst, welche Agathon
beging--Folgen davon
Viertes Kapitel: Nachricht an den Leser
Fünftes Kapitel: Moralischer Zustand unsers Helden
Eilftes Buch
Erstes Kapitel: Apologie des griechischen Autors
Zweites Kapitel: Die Tarentiner. Charakter eines liebenswürdigen
alten Mannes
Drittes Kapitel: Eine unverhoffte Entdeckung
Viertes Kapitel: Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte
Fünftes Kapitel: Abdankung
VORBERICHT
Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig
Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in
der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei; daß er am
besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen, und dem Leser
zu überlassen, davon zu denken, was er will.
Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um
die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein
komischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt
sein muß:) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts
wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich
verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer
Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte
zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den
Archiven des alten Athens gefunden worden sei?
Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern
hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles
mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charakter nicht willkürlich,
und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet,
sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in
der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit,
die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden
Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche
sie durch den Individual-Charakter und die Umstände einer jeden Person
bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Charakter
des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird,
niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein
hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es
erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen
werde. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen,
und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte
des Agathons zu versprechen.
Seine Hauptabsicht war, sie mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden
würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten
bekannt zu machen. Ohne Zweifel gibt es wichtigere als derjenige, auf den
seine Wahl gefallen ist. Allein, da er selbst gewiß zu sein wünschte,
daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er
denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat.
Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die
meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind,
wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und
in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und
besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur
Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das
Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht
noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der
glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen
haben.
Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit
unwahrscheinlichere Dinge begegnen, als der Chevalier de Mouhy selbst zu
erdichten sich getrauen würde. Es würde also sehr übereilt sein, die
Wahrheit des Charakters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil
es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe,
wie er. Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und
ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon
von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder
wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder
übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit
Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er
positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe.
Zu gutem Glücke finden sich in den beglaubtesten Geschichtschreibern, und
schon allein in den Lebensbeschreibungen des Plutarch Beispiele genug, daß
es möglich sei, so edel, so tugendhaft, so enthaltsam, oder, nach der
Sprache des Hippias, und einer ansehnlichen Klasse von Menschen zu reden,
so seltsam, so eigensinnig und albern zu sein als es unser Held in einigen
Gelegenheiten seines Lebens ist.
Man hat an verschiedenen Stellen des gegenwärtigen Werks die Ursachen
angegeben, warum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen
tugendhaften Mannes gemacht hat. Da die Welt mit ausführlichen
Lehrbüchern der Sittenlehre angefüllt ist, so steht einem jeden frei, (und
es ist nichts leichters) sich einen Menschen einzubilden, der von der
Wiege an bis ins Grab, in allen Umständen und Verhältnissen des Lebens,
allezeit und vollkommen so empfindt, denkt und handelt, wie eine Moral.
Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele
ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich,
nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin
andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist,
daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den
wenigsten Fehlern hat,) denjenigen nenne, der unter allen nach dem
natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen
genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon.
Es ist möglich, daß irgend ein junger Taugenichts, wenn er siehet, daß ein
Agathon den reizenden Verführungen der Liebe und einer Danae endlich
unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chärea
beim Terenz von einem Gemälde machte, welches eine von den Schelmereien
des Vater Jupiters vorstellte,--und daß er, wenn er mit herzlicher Freude
gelesen haben wird, daß ein so vortrefflicher Mann habe fallen können, zu
sich selbst sagen mag: Ego homuncio hoc non facerem? ego vero illud
faciam ac lubens.
Es ist eben so möglich, daß ein übelgesinnter oder ruchloser Mensch, den
Diskurs des Sophisten Hippias lesen, und sich einbilden kann, die
Rechtfertigung seines Unglaubens und seines lasterhaften Lebens darin zu
finden: Aber alle rechtschaffnen Leute werden mit uns überzeugt sein, daß
dieser junge Bube, und dieser ruchlose Freigeist beides gewesen und
geblieben wären, wenn gleich keine Geschichte des Agathon in der Welt wäre.
Dieses letztere Beispiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der
Schwachheit gewisser gutgesinnter Leute, deren Wille besser ist, als ihre
Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem ärgernis
oder ungerechten Urteilen zu verwahren, uns verbunden glauben. Wir
gestehen gerne, daß wir in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten
eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt nötig wäre,
wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte, welche einer unsrer
Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag. 58, unter den Text zu
setzen, gut befunden.
Diese Erläuterung betrifft die Einführung des Sophisten Hippias in unsere
Geschichte, und den Diskurs, wodurch er den Agathon von seinem
liebenswürdigen und tugendhaften Enthusiasmus zu heilen, und zu einer
Denkungsart zu bringen hofft, welche er nicht ohne guten Grund für
geschickter hält, sein Glück in der Welt zu machen. Leute, die aus
gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus
dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller
Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz
deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig
sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch
für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem
heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister
treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu
empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen
wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig
gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und
gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen
der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von
Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu grunde
richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der
Menschen damit angesteckt werden könnte. Wir glauben also vor allem
Verdacht über diesen Artikel sicher zu sein. Aber da unter unsern Lesern
ehrliche Leute sein können, welche uns wenigstens eine Unvorsichtigkeit
Schuld geben, und davor halten möchten, daß wir diesen Hippias entweder
gar nicht einführen, oder wenn dieses der Plan unsers Werkes ja erfodert
hätte, seine Lehrsätze ausführlich hätten widerlegen sollen: So sehen wir
für billig an, ihnen die Ursachen zu sagen, warum wir das erste getan, und
das andere unterlassen haben.
Weil nach unserm Plan der Charakter unsers Helden auf verschiedene Proben
gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend
erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und
nach abgesondert würde; so war es um so viel nötiger ihn auch dieser Probe
zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maßen, eine historische Person ist,
und mit den übrigen Sophisten derselben Zeit sehr vieles zur Verderbnis
der Sitten unter den Griechen beigetragen hat. überdem diente er den
Charakter und die Grundsätze unsers Helden durch den Kontrast, den er mit
selbigen macht, in ein desto höheres Licht zu setzen. Und da es mehr als
zu gewiß ist, daß der größeste Teil derjenigen, welche die große Welt
ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach seinen Grundsätzen handelt;
so war es auch in dem Plan der moralischen Absichten, welche wir uns bei
diesem Werke vorgesetzt haben, zu zeigen, was für einen Effekt diese
Grundsätze machen, wenn sie in den gehörigen Zusammenhang gebracht werden.
Und dieses sind die hauptsächlichsten Ursachen, warum wir diesen
Sophisten (welchen wir nicht schlimmer vorgestellt haben, als er wirklich
war, und als seine Brüder noch heutiges Tages sind) in die Geschichte des
Agathon eingeflochten haben.
Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und
gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in
Absicht unsers Plans ein wahres hors d'oeuvre gewesen, und schien uns auch
in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm
Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch
das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das
Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist.
Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes
den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den
Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er
sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen. Dieses war
unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente.
Wir würden dem zweiten Teile, dessen Ausgabe von der Aufnahme des ersten
abhangen wird, den Vorteil der Neuheit und den Lesern zu gleicher Zeit ein
künftiges Vergnügen rauben, wenn wir den Inhalt desselben vor der Zeit
bekannt machten. Genug, daß man unsern Helden in der Folge in eben so
sonderbaren und interessanten Umständen und Verwicklungen sehen wird, als
in dem ersten Teil. Alles, was wir vorläufig von der Entwicklung sagen
können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens,
welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als
tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht,
) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum
vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es
zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.
ERSTER TEIL
ERSTES BUCH
ERSTES KAPITEL
Anfang dieser Geschichte
Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in
einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen
Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er
noch zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend
einen bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte. Er
schleppte sich also mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen
den Gesträuchen gewahr ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges
erreicht hatte, fühlt er sich so entkräftet, daß er den Mut verlor den
Gipfel erreichen zu können, der sich immer weiter von ihm zu entfernen
schien, je mehr er ihm näher kam. Er warf sich also ganz Atemlos unter
einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschattete, auf welcher er die
einbrechende Nacht zuzubringen beschloß.
Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man
unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin
wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. Vor wenigen Tagen
noch ein Günstling des Glücks, und der Gegenstand des Neides seiner
Mitbürger, befand er sich, durch einen plötzlichen Wechsel, seines
Vermögens, seiner Freunde, seines Vaterlands beraubt, allen Zufällen des
widrigen Glücks, und selbst der Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte
Leben, das ihm allein übrig gelassen war, erhalten möchte. Allein
ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten, die sich vereinigten seinen Mut
niederzuschlagen, versichert uns doch die Geschichte, daß derjenige, der
ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, weder in seiner Miene noch in
seinen Gebärden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von
Mißvergnügen hätte bemerken können.
Vielleicht erinnern sich einige hiebei an den Weisen der Stoiker von
welchem man ehmals versicherte, daß er in dem glühenden Ochsen des
Phalaris zum wenigsten so glücklich sei, als ein Morgenländischer Bassa in
den weichen Armen einer jungen Circasserin. Da sich aber in dem Lauf
dieser Geschichte verschiedne Proben einer nicht geringen Ungleichheit
unsers Helden mit dem Weisen des Seneca zeigen werden, so halten wir für
wahrscheinlicher, daß seine Seele von der Art derjenigen gewesen sei,
welche dem Vergnügen immer offen stehen, und bei denen eine einzige
angenehme Empfindung hinlänglich ist, sie alles vergangnen und künftigen
Kummers vergessen zu machen. Eine öffnung des Waldes zwischen zween
Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts
mehr als diesen Anblick, um die Empfindung seiner widrigen Umstände zu
unterbrechen. Er überließ sich der Begeisterung, worin dieses
majestätische Schauspiel empfindliche Seelen zu setzen pflegt, ohne eine
lange Zeit sich seiner dringendsten Bedürfnisse zu erinnern. Endlich
weckte ihn doch das Rauschen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus
einem Felsen hervor sprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worin er
etliche Minuten sich selbst vergessen hatte; er stand auf, und schöpfte
mit der hohlen Hand von diesem Wasser, dessen fließenden Kristall, seiner
Einbildung nach, eine wohltätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem
Marmorkrug entgegen goß; und anstatt die von Cyprischem Wein sprudelnde
Becher der Athenischen Gastmähler zu vermissen, deuchte ihm, daß er
niemals angenehmer getrunken habe. Er legte sich hierauf wieder nieder,
entschlief unter dem sanftbetäubenden Gemurmel der Quelle, und träumte,
daß er seine geliebte Psyche wieder gefunden habe, deren Verlust das
einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seufzer auspreßte.
ZWEITES KAPITEL
Etwas ganz Unerwartetes
Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der
genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß
diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher
scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere
Begebenheiten erzählt, als ein Romanen--Schreiber zu dichten wagen dürfte.
Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue
Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß noch der Süßigkeit des
Schlafs, den Homer für ein so großes Gut hält, daß er ihn auch den
Unsterblichen zueignet; als er durch ein lärmendes Getöse plötzlich
aufgeschreckt wurde. Er horchte gegen die Seite, woher es zu kommen
schiene, und glaubte in dem vermischten Getümmel ein seltsames Heulen und
Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf
eine fürchterliche Art widerhallte. Agathon, der nur im Schlaf erschreckt
werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Mut entgegen zu gehen,
womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem
nächtlichen Klappern der Walkmühlen Trotz bot. Er bestieg also den obern
Teil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den dämmernden
Schatten hob, begünstigte sein Unternehmen. Das Getümmel nahm immer zu,
je näher er dem Rücken des Berges kam; er unterschied itzt den Schall von
Trummeln und das Flüstern regelloser Flöten, und fing an zu erraten, was
dieser Lärm zu bedeuten haben möchte; als sich ihm plötzlich ein
Schauspiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den Weisen selbst,
dessen wir oben erwähnet haben, seiner eingebildeten Göttlichkeit
vergessen zu machen. Ein schwärmender Haufen von jungen Thracischen
Weibern war es, welche von der Orphischen Wut begeistert, sich in dieser
Nacht versammelt hatten, die unsinnigen Gebräuche zu begehen, die das
heidnische Altertum zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus
Indien eingesetzt hatte. Ohne Zweifel könnte eine ausschweifende
Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer solchen Szene
ein ziemlich verführerisches Gemälde machen; allein die Eindrücke die der
wirkliche Anblick auf unsern jungen Helden machte, waren nichts weniger
als von der reizenden Art. Das stürmisch fliegende Haar, die rollenden
Augen, die beschäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln, die wilden
Gebärden und die rasende Fröhlichkeit, mit der diese Unsinnigen in frechen
Stellungen, ihre mit zahmen Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre
Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit
lallender Zunge stammelten; alle diese Ausbrüche einer fanatischen Wut,
die ihm nur desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben zur Quelle
hatte, machten seine Augen unempfindlich, und erweckten ihm einen Ekel vor
Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren
hatten. Er wollte zurück fliehen, aber es war unmöglich, weil er in eben
dem Augenblick, da er sie erblickte, von ihnen bemerkt worden war. Der
unerwartete Anblick eines Jüngling, an einem Ort und bei einem Feste,
welches kein männliches Aug entweihen durfte, hemmte plötzlich den Lauf
ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle ihre Aufmerksamkeit auf diese
Erscheinung zu wenden.
Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht länger verhalten, der in
diese ganze Geschichte einen großen Einfluß hat. Agathon war von einer so
wunderbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons seiner Zeit, weil sie
die Hoffnung aufgaben, eine vollkommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den
zerstreuten Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum
Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus vorstellen wollten.
Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblickt, ohne die Schuld ihres
Geschlechts zu bezahlen, welches die Natur für die Schönheit so
empfindlich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigenschaft den
meisten unter ihnen die Abwesenheit aller übrigen verbirgt. Agathon hatte
ihr in diesem Augenblick noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem
Schicksal des Pentheus. Seine Schönheit setzte diese Mänaden in
Erstaunen. Ein Jüngling von einer solchen Gestalt, an einem solchen Ort,
zu einer solchen Zeit! Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als
für den Bacchus selbst? In dem Taumel worin sich ihre Sinnen befanden,
war nichts natürlichers als dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie
auf einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie die Gestalt dieses
Gottes vor sich sahen, sie alles übrige hinzudichtete, was ihm zu einem
vollständigen Dionysus mangelte. Ihre bezauberten Augen stellten ihnen
die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor, die um ihn her schwärmten,
und Tyger und Leoparden die mit liebkosender Zunge seine Füße leckten;
Blumen, so deucht es sie, entsprangen unter seinen Fußsohlen, und Quellen
von Wein und Honig sprudelten von jedem seiner Tritte auf, und rannen in
schäumenden Bächen die Felsen hinab. Auf einmal erschallte der ganze
Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von ihrem lauten "Evan, Evan!"
mit einem so entsetzlichen Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß
Agathon, bei dem das, was er in diesem Augenblick sah und hörte, alles
überstieg, was er jemals gesehen, gehört, gedichtet oder geträumt hatte,
von Entsetzen und Erstaunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb,
indes, daß die entzückten Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her machten,
und durch tausend unsinnige Gebärden ihre Freude über die vermeinte
Gegenwart ihres Gottes ausdrückten.
Allein die unmäßigste Schwärmerei hat ihre Grenzen, und weicht endlich der
Obermacht der Sinnen. Zum Unglück für den Helden unsrer Geschichte kamen
diese Unsinnigen allmählich aus einer Entzückung zurück, worüber sich
vermutlich ihre Einbildungskraft gänzlich abgemattet hatte, und bemerkten
immer mehr menschliches an demjenigen, den seine ungewöhnliche Schönheit
in ihren trunknen Augen vergöttert hatte. Etliche, die das Bewußtsein
ihrer eignen stolz genug machte, die Ariadnen dieses neuen Bacchus zu sein,
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