Gertrud - 11

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und Unverstandene zu spielen und ihr geheimes Leiden irgend jemand
zu zeigen, wenn sie es auch mir nicht verbergen konnte. Doch hätte
sie auch von mir keinen Blick und keine Gebärde des Verstehens oder
Mitleids ertragen, wir sprachen und taten durchaus als wäre ihre Ehe
ohne Trübung.
Wie lange sich dieser Zustand würde erhalten lassen, war freilich
zweifelhaft und hing ganz von Muoth ab, dessen Unberechenbarkeit ich
hier zum erstenmal von einer Frau gebändigt sah. Mir taten beide leid,
doch war ich nicht sehr verwundert, die Dinge so zu finden. Die beiden
hatten ihre Leidenschaft gehabt und genossen, nun mochten sie entweder
Entsagung lernen und die gute Zeit in wehmütiger Erinnerung tragen,
oder den Weg zu einem neuen Glück und einer neuen Liebe finden.
Vielleicht würde ein Kind sie wieder zusammenführen, nicht mehr in
den verlassenen Paradiesgarten der Liebesglut zurück, wohl aber zu
einem neuen, guten Willen, gemeinsam zu leben und sich ineinander zu
schicken. Dazu hatte Gertrud die Kraft und die innere Heiterkeit, das
wußte ich. Ob auch Heinrich sie finden würde, darüber mochte ich mir
keine Gedanken machen. So leid sie mir taten, daß der große, schöne
Sturm ihrer ersten Glut und Freude aneinander schon vorüber war, so
freute mich doch die gute Haltung beider, die immer noch nicht nur vor
den Leuten, sondern auch voreinander ihre Schönheit und Würde bewahrt
hatten.
Die Einladung, in Muoths Hause zu wohnen, mochte ich indessen nicht
annehmen, und er ließ mir meinen Willen. Ich war täglich dort und es
tat mir wohl zu sehen, daß Gertrud mich gerne kommen sah und sich am
Plaudern und Musizieren mit mir freute, so daß ich nicht allein der
Nehmende war.
Die Aufführung der Oper sollte nun bestimmt im Dezember stattfinden.
Ich blieb zwei Wochen da, nahm an allen Orchesterproben Teil, mußte da
und dort streichen und anpassen, sah aber das Werk in guten Händen.
Es war mir wunderlich, die Sänger und Sängerinnen, die Geiger und
Flötisten, Kapellmeister und Chor mit meiner Arbeit beschäftigt zu
sehen, die mir selber fremd geworden war und ein Leben atmete, das
nicht mehr meines war.
»Warte nur,« sagte Heinrich Muoth zuweilen, »jetzt bekommst du bald
die verfluchte Luft der Öffentlichkeit zu atmen. Fast möchte ich dir
wünschen, es möchte keinen Erfolg geben. Denn dann hast du die Meute
hinter dir, du wirst dann bald mit Locken und Autographen handeln
können und sehen, wie geschmackvoll und liebenswürdig die Anbetung der
Herde ist. Von deinem lahmen Bein spricht schon jetzt jedermann. So
etwas macht populär!«
Nach den notwendigsten Proben und Versuchen reiste ich wieder ab, um
erst einige Tage vor der Aufführung wieder zu kommen. Teiser fand kein
Ende mit Fragen über die Aufführung, er dachte an hundert Einzelheiten
im Orchester, die ich kaum beachtet hatte, und sah der Sache mit
größerer Aufregung und Unruhe entgegen als ich selber. Als ich ihn
einlud, samt seiner Schwester der Aufführung beizuwohnen, tat er einen
Freudensprung. Dagegen wollte meine Mutter die Winterreise und die
Aufregungen nicht teilen, und mir war es nicht unlieb. Allmählich
spürte ich die Spannung doch und brauchte abends ein Glas Rotwein, um
einschlafen zu können.
Es wurde früh Winter und unser Häuschen lag tief eingeschneit in
seinem Garten, als eines Morgens die Geschwister Teiser mich im Wagen
abholten. Die Mutter winkte vom Fenster nach, der Wagen fuhr ab und
Teiser sang aus seinem dicken Halstuche heraus ein Reiselied. Auf
der ganzen langen Eisenbahnfahrt war er wie ein Knabe, der in die
Weihnachtsferien fährt, und die hübsche Brigitte glühte in stillerem
Vergnügen mit. Ich war froh, ihre Gesellschaft zu haben, denn meine
Ruhe war nun dahin und ich ging den Ereignissen der nächsten Tage wie
ein Verurteilter entgegen.
Das merkte auch Muoth sofort, der uns am Bahnhof erwartete. »Du hast
Lampenfieber, Junge,« lachte er vergnügt. »Gott sei Dank dafür! Du bist
eben doch ein Musiker und kein Philosoph.«
Damit schien er recht zu haben, denn meine Erregung hielt bis zur
Aufführung an und ich habe in jenen Nächten nicht geschlafen. Von uns
allen war nur Muoth ruhig. Teiser brannte vor Unruhe, er kam zu jeder
Probe und fand kein Ende mit Kritisieren. Geduckt und lauernd saß er in
den Proben neben mir, schlug an heiklen Stellen den Takt laut mit der
Faust, lobte oder schüttelte den Kopf.
»Da fehlt ja eine Flöte!« rief er gleich bei der ersten Orchesterprobe
so laut, daß der Dirigent unwillig herüberschaute.
»Die haben wir streichen müssen,« sagte ich lächelnd.
»Die Flöte? Gestrichen? Ja warum denn? So eine Viecherei! Paß auf, die
verdudeln dir deine ganze Ouvertüre.«
Ich mußte lachen und ihn mit Gewalt zurückhalten, so wild ging er ins
Zeug. Aber bei seiner Lieblingsstelle in der Ouvertüre, wo Bratschen
und Celli einsetzten, lehnte er mit geschlossenen Augen zurück, drückte
meine Hand krampfhaft und flüsterte nachher beschämt: »Ja, das hat mir
fast nasse Augen gemacht. Sakrisch fein ist's.«
Die Sopranrolle hatte ich noch nicht singen hören. Nun war es mir
merkwürdig und wehmütig, sie zum erstenmal von einer fremden Stimme
zu vernehmen. Die Sängerin machte es gut und ich sagte ihr sogleich
meinen Dank, aber im Herzen dachte ich an die Nachmittage, da Gertrud
diese Worte gesungen hatte, und hatte ein Gefühl uneingestandenen
traurigen Mißbehagens, wie wenn man ein liebes Besitztum weggegeben hat
und nun zum erstenmal in fremden Händen sieht.
Gertrud sah ich in diesen Tagen wenig, sie beobachtete mein Fieber
lächelnd und ließ mich in Ruhe. Ich hatte mit den Teisers einen Besuch
bei ihr gemacht, da hatte sie Brigitte, die zu der schönen, vornehmen
Frau bewundernd aufsah, mit heiterer Zärtlichkeit aufgenommen. Seither
schwärmte das Mädchen für die schöne Frau und sang ihr Lob, in das auch
der Bruder einstimmte.
An die beiden Tage vor der Aufführung kann ich mich nicht mehr genau
erinnern, es war alles in mir durcheinander geraten. Dazu kamen andere
Aufregungen, ein Sänger wurde heiser, ein anderer war beleidigt, keine
größere Rolle zu haben, und benahm sich bei den letzten Proben sehr
übel, der Dirigent wurde immer gemessener und kälter, je mehr ich noch
zu sagen hatte. Muoth stand mir gelegentlich bei, lächelte seelenruhig
zu dem Tumult und war mir in dieser Lage mehr wert als der gute Teiser,
der wie ein Feuerteufel hin und wider fuhr und überall zu mäkeln
hatte. Brigitte sah mich ehrfurchtsvoll, doch auch mit einigem Bedauern
an, wenn wir in ruhigen Stunden gedrückt und ziemlich schweigsam im
Hotel beisammen saßen.
Nun, die Tage vergingen und es kam der Abend der Aufführung. Während
sich das Haus füllte, stand ich hinter der Bühne, ohne doch mehr
das Geringste tun oder raten zu können. Schließlich hielt ich mich
zu Muoth, der schon im Kostüm war und in einem Stübchen oder Winkel
abseits des Lärmens langsam eine halbe Flasche Champagner leerte.
»Willst du ein Glas?« fragte er teilnehmend.
»Nein,« sagte ich. »Regt dich denn das nicht auf?«
»Was? Der Spektakel draußen? Das ist immer so.«
»Ich meine den Sekt.«
»O nein, der macht mich ruhig. Ein Glas oder zwei nehme ich immer, wenn
ich etwas leisten will. Aber jetzt geh, es wird Zeit.«
Ich wurde von einem Diener in eine Loge gebracht, wo ich schon Gertrud
und beide Teisers sowie einen hohen Herrn von der Theaterleitung
antraf, der lächelnd grüßte.
Gleich darauf hörten wir das zweite Glockenzeichen. Gertrud schaute
mich freundlich an und nickte mir zu. Teiser, der hinter mir saß,
ergriff meinen Arm und kniff mich verzweifelt. Das Haus wurde dunkel
und aus der Tiefe stieg feierlich meine Ouvertüre zu mir herauf. Jetzt
wurde ich ruhiger.
Und jetzt erhob sich und erklang vor mir wohlbekannt und doch fremd
mein Werk, das meiner nimmer bedurfte und sein eigenes Leben hatte.
Lust und Mühe der vergangenen Tage, Hoffnungen und schlaflose Nächte,
Leidenschaft und Sehnsucht jener Zeit standen losgelöst und verkleidet
mir gegenüber, die Erregungen heimlicher Stunden klangen frei und
werbend in das Haus an tausend fremde Herzen. Muoth kam und hob mit
geschonter Kraft an, wuchs und gab sich her und sang mit seiner
dunklen, unwilligen Glut, und die Sängerin gab Antwort in hohen,
schwebenden, lichten Tönen. Da kam eine Stelle, die hatte ich noch
genau so im Ohr, wie ich sie von Gertrud einmal gehört hatte, und sie
war eine Huldigung für sie und ein leises Bekenntnis meiner Liebe
gewesen. Ich wandte den Blick und sah ihr in die stillen, reinen Augen,
die mich verstanden und freundlich grüßten, und in einem Augenblick
fühlte ich den ganzen Sinn meiner Jugend wie den feinen Duft einer
reifen Frucht mich berühren.
Von da an war ich ruhig und sah und hörte zu wie ein Gast. Beifall
klang herauf, die Sänger und Sängerinnen erschienen am Vorhang und
verneigten sich, Muoth wurde häufig gerufen und lächelte kühl ins
erleuchtete Haus hinab. Man drang auch in mich, daß ich mich zeigen
solle; doch war ich allzu benommen und hatte auch keine Lust, aus
meiner angenehmen Verborgenheit hervorzuhinken.
Teiser hingegen lachte wie eine Morgensonne, umarmte mich und
schüttelte auch dem hohen Herrn von der Theaterleitung unverlangt beide
Hände.
Das Bankett war bereit und hätte uns auch nach einem Mißerfolg
erwartet. Wir fuhren in Wagen hin, Gertrud mit ihrem Mann, ich mit
den Teisers. Auf der kurzen Fahrt begann Brigitte, die noch kein Wort
gesagt hatte, plötzlich zu weinen. Sie wehrte sich anfangs und wollte
widerstehen, hielt aber dann die Hände vors Gesicht und ließ die
Tränen laufen. Ich mochte nichts sagen und war verwundert, daß Teiser
gleichfalls schwieg und keine Frage an sie tat. Er legte nur den Arm um
sie und brummte wohlwollend und tröstend, wie man ein Kind beruhigt.
Als nachher das Händeschütteln und die Glückwünsche und Trinksprüche
kamen, blinzte Muoth mich sarkastisch an. Man fragte angelegentlich
nach meiner nächsten Arbeit und war enttäuscht als ich sagte, es sei
ein Oratorium. Dann stieß man auf meine nächste Oper an, die aber bis
heute nicht geschrieben ist.
Erst sehr spät in der Nacht, als wir uns losgemacht hatten und schlafen
gingen, konnte ich Teiser fragen, was seiner Schwester fehle und warum
sie geweint habe. Sie selber war längst zu Bett gegangen. Mein Freund
sah mich prüfend und etwas verwundert an, schüttelte den Kopf und
pfiff, bis ich meine Frage wiederholte.
»Du bist doch ein Huhn, ein blindes,« sagte er dann vorwurfsvoll. »Hast
du denn nie was gemerkt?«
»Nein,« sagte ich mit aufsteigender Ahnung der Wahrheit.
»Nun, ich darf es schon sagen. Das Mädel hat dich gern gehabt, schon
lang. Natürlich, sie hat mirs nie gesagt, so wenig wie dir, aber
gemerkt hab ich's und, offen gestanden, gefreut hätte mich's, wenn's
was geworden wär.«
»O weh!« sagte ich, aufrichtig traurig. »Aber was war nun das heut
abend?«
»Daß sie geheult hat? Du bist doch ein Kind! Ja meinst, wir hätten
nichts gesehen?«
»Was denn?«
»Lieber Gott! Du brauchst mir ja nichts davon zu sagen und es ist
recht, daß du's nie getan hast; aber dann hättest du auch die Frau
Muoth nicht so anschauen sollen. Jetzt wissen wir's eben.«
Ich bat ihn nicht, mein Geheimnis zu schonen, ich war seiner sicher.
Leise legte er mir seine Hand auf die Schulter.
»Ich kann mir jetzt auch allerlei denken, Freundl, was du in diesen
Jahren geschluckt und uns verschwiegen hast. Es ist mir früher auch
einmal ähnlich gegangen. Wir wollen jetzt brav zusammenhalten und
schöne Musik machen, gelt? Und schauen, daß das Mädel sich tröstet. Da,
gib mir die Hand, schön ist's gewesen! Und auf Wiedersehen daheim! Ich
fahr' mit dem Mädel morgen in der Frühe.«
Damit trennten wir uns, doch kam er nach wenigen Augenblicken noch
einmal zurückgelaufen und sagte eindringlich: »Du, bei der nächsten
Aufführung muß aber die Flöte wieder rein, gelt?«
So endete der Freudentag, und jeder von uns lag noch lange erregt in
Gedanken wach. Ich dachte an Brigitte. Die war nun alle diese Zeit in
meiner Nähe gewesen und ich hatte nichts als gute Kameradschaft mit
ihr gehabt und haben wollen, gerade wie Gertrud mit mir, und als sie
meine Liebe zu der andern erraten hatte, war es für sie dasselbe wie es
damals für mich gewesen war, als ich den Brief bei Muoth entdeckte und
den Revolver lud. Und so traurig es mich machte, mußte ich doch darüber
lächeln.
Die Tage, die ich noch in München blieb, brachte ich zumeist bei Muoths
hin. Es war kein Zusammensein mehr wie jene ersten Nachmittage, da
wir drei zuerst miteinander gespielt und gesungen hatten; aber es gab
doch im Nachglanz der Aufführung ein wortloses, gemeinsames Denken an
jene Zeit und ein gelegentliches Aufleuchten auch zwischen ihm und
Gertrud. Als ich Abschied genommen hatte, sah ich von draußen noch
eine Weile auf das stille Haus in den winterlichen Bäumen, hoffte dort
noch manchmal einzukehren und hätte gern mein bißchen Zufriedenheit
und Glück hingegeben, um den beiden drinnen von neuem und für immer
zueinander zu helfen.


Nach der Heimkehr empfing mich, wie Heinrich mir vorausgesagt hatte,
der Ruf des Erfolges mit vielen unangenehmen und zum Teil lächerlichen
Folgen. Die Geschäfte waren leicht abzuwälzen, indem ich die Oper einem
Agenten überließ. Aber es kamen auch Besuche, Zeitungsleute, Verleger,
törichte Briefe, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich an die
kleinen Lasten eines rasch bekannt gewordenen Namens gewöhnte und mich
von der ersten Enttäuschung erholte. Die Menschen machen ihre Rechte
an einen bekannt gewordenen Namen auf merkwürdige Art geltend, da ist
kein Unterschied zwischen Wunderkind, Komponist, Dichter, Raubmörder.
Der eine will sein Bild haben, der andere seine Handschrift, der
dritte bettelt um Geld, jeder junge Kollege schickt seine Arbeiten
ein, schmeichelt gewaltig und bittet um ein Urteil, und antwortet man
nicht oder sagt man seine Meinung, so wird derselbe Verehrer plötzlich
bitter, grob und rachsüchtig. Die Zeitschriften wollen das Bild des
Mannes abdrucken, die Zeitungen erzählen von seinem Leben, seiner
Herkunft, seinem Aussehen. Schulkameraden bringen sich in Erinnerung
und entfernte Verwandte wollen schon vor Jahren gesagt haben, daß ihr
Vetter noch einmal berühmt werde.
Unter den Briefen dieser Art, die mich in Verlegenheit und Bedrängnis
brachten, war auch einer von Fräulein Schniebel, der uns belustigte,
und einer von jemand, an den ich lange nimmer gedacht hatte. Es war die
hübsche Liddy, die mir schrieb, jedoch ohne unserer Schlittenfahrt zu
erwähnen, sondern ganz im Tone einer alten treuen Freundin. Sie hatte
einen Musiklehrer in ihrer Heimat geheiratet und gab mir ihre Adresse,
damit ich recht bald alle meine Kompositionen mit einer hübschen
Widmung an sie schicken könne. Sie legte ihr Bildnis bei, das jedoch
die wohlbekannten Züge gealtert und vergröbert zeigte, und ich gab ihr
möglichst freundlich Antwort.
Doch gehören diese kleinen Dinge zum Untergesunkenen, das keine Spuren
läßt. Auch die guten und herrlichen Früchte meines Erfolges, die
Bekanntschaft mit edlen und feinen Menschen, die die Musik im Herzen
und nicht nur im Munde haben, gehören nicht zu meinem eigentlichen
Leben, das nach wie vor in der Stille blieb und sich seither wenig mehr
verändert hat. Es bleibt mir nur übrig zu erzählen, welche Wendung das
Schicksal meiner nächsten Freunde genommen hat.
Der alte Herr Imthor sah nicht mehr so viel Gesellschaft wie früher,
als Gertrud dagewesen war. Aber es gab in seinem Hause zwischen
den vielen Bildern alle drei Wochen einen Abend mit auserwählter
Kammermusik, den ich regelmäßig besuchte. Ich brachte zuweilen
auch Teiser dahin mit. Doch hielt Imthor darauf, daß ich ihn auch
sonst besuche. So kam ich manchmal früh am Abend, das war seine
Lieblingsstunde, zu ihm in sein einfaches Schreibzimmer, wo ein Bild
von Gertrud hing, und da es allmählich zwischen dem alten Herrn und mir
zu einem äußerlich kühlen, doch haltbaren Verständnis und Redebedürfnis
gekommen war, kam unser Gespräch nicht selten auf das, was uns beide
im Herzen am meisten beschäftigte. Ich mußte von München erzählen
und verschwieg nicht, welchen Eindruck ich vom Verhältnis der Gatten
bekommen hatte. Er nickte dazu.
»Es kann wohl noch alles gut werden«, sagte er seufzend, »aber wir
können nichts dazu tun. Ich freue mich auf den Sommer, da habe ich das
Kind zwei Monate für mich. In München besuche ich sie selten und nicht
gerne, sie hält sich auch so tapfer, daß ich sie nicht stören und weich
machen darf.«
Gertruds Briefe brachten nichts Neues. Als sie aber in der Zeit um
Ostern zu Besuch beim Alten war und auch uns in unserem Häuschen
besuchte, sah sie mager und gespannt aus, und so sehr sie mit uns
freundlich war und sich zu verstecken suchte, sahen wir doch oft in
ihren ernst gewordenen Augen eine ungewohnte Hoffnungslosigkeit stehen.
Ich mußte ihr meine neue Musik spielen, aber als ich sie bat uns etwas
zu singen, schüttelte sie den Kopf und sah mich abwehrend an.
»Ein andermal wieder«, sagte sie unsicher.
Wir sahen alle, daß es ihr nicht gut ging, und ihr Vater gestand mir
nachher, er habe ihr vorgeschlagen, ganz bei ihm zu bleiben, doch habe
sie es nicht angenommen.
»Sie liebt ihn«, sagte ich.
Er zuckte die Achseln und sah mich bekümmert an. »Ach, ich weiß nicht.
Wer will sich in dem Elend noch auskennen! Aber sie hat gesagt, es sei
seinetwegen, daß sie bei ihm bleibe, er sei so zerstört und unglücklich
und brauche sie mehr als er selber wisse. Ihr sage er nichts, aber es
stehe ihm im Gesicht geschrieben.«
Dann senkte der Alte die Stimme und sagte ganz leise und beschämt: »Sie
meint, er trinke.«
»Ein wenig hat er das immer getan«, sagte ich tröstend, »aber ich
habe ihn nie betrunken gesehen. Er hält auf sich. Er ist ein nervöser
Mensch, der sich nicht in der Zucht hat, aber an seinem Wesen selber
vielleicht mehr leidet als er andre leiden macht.«
Wie furchtbar die beiden schönen, herrlichen Menschen in der Stille
litten, wußten wir alle nicht. Ich glaube nicht, daß sie jemals
aufgehört haben einander zu lieben. Aber im Grunde ihres Wesens
gehörten sie nicht zusammen, sie fanden sich nur in Erregung und im
Glanz gesteigerter Stunden. Das heiter ernste Hinnehmen des Lebens,
das beruhigte Atmen in der Klarheit des eigenen Wesens hatte Muoth nie
gekannt, und Gertrud konnte sein Stürmen und Brüten, sein Fallen und
Wiederaufstehen, seinen ewigen Durst nach Selbstvergessen und Rausch
nur dulden und bemitleiden, nicht ändern und nicht mitleben. So liebten
sie einander und kamen doch nie ganz zusammen, und während er seine
stille Hoffnung betrogen sah, durch Gertrud zu Frieden und Genügen
zu kommen, mußte sie sehen und leiden, daß ihr Wille und ihr Opfer
vergebens war, und daß auch sie ihn nicht trösten und vor sich selbst
retten konnte. So war ihnen beiden der geheime Traum und sehnlichste
Wunsch zerstört, sie konnten nur mit Opfern und Schonung beisammen
bleiben, und es war tapfer, daß sie es taten.
Ich sah Heinrich erst im Sommer wieder, als er Gertrud zu ihrem Vater
brachte. Da war er mit ihr und mit mir zart und behutsam, wie ich
ihn nie gesehen hatte, und ich merkte wohl, wie er sie zu verlieren
fürchtete, und ich fühlte auch, daß er den Verlust nicht ertragen
würde. Sie aber war müde und verlangte nichts als Ruhe und stille Tage,
um sich wiederzufinden und wieder Kraft und Gleichmut zu gewinnen.
Wir brachten einen lauen Abend bei uns im Garten zu. Da saß Gertrud
zwischen meiner Mutter und Brigitte, deren Hand sie hielt, Heinrich
ging leise zwischen den Rosen hin und wider und ich spielte mit Teiser
auf der Terrasse eine Geigensonate. Wie da Gertrud stille ruhte und
den Frieden der Stunde atmete, und wie Brigitte verehrend sich an
die schöne leidende Frau schmiegte, und wie Muoth geneigt mit leisen
Schritten draußen im Schatten ging und horchte, das ist mir als ein
unverlierbares Bild in der Seele geblieben. Nachher sagte Heinrich
leise scherzend, aber mit traurigen Augen zu mir: »Wie da die drei
Frauen beieinander sitzen! Und glücklich sieht von allen dreien nur
deine Mutter aus. Wir wollen sehen, daß wir auch so alt werden.«
Dann reisten wir auseinander, Muoth allein nach Bayreuth, Gertrud
mit ihrem Vater in die Berge, die Teisers nach Steiermark und ich
mit meiner Mutter wieder an die Nordsee. Da ging ich oft am Strande
und hörte dem Meere zu und dachte nicht anders als ich es vor Jahren
in der ersten Jugend getan hatte, mit Verwunderung und Grauen an die
traurig närrischen Wirrnisse des Lebens, daß Liebe vergebens sein kann,
und daß Menschen, die es gut miteinander meinen, doch einer am andern
vorbei ihr Schicksal leben, jeder sein eigenes, unbegreifliches, und
wie jeder den andern helfen und nahe sein möchte und nicht kann, wie in
sinnlosen trüben Angstträumen. Und ich dachte oft auch wieder an Muoths
Worte über Jugend und Alter und war neugierig, ob auch mir einmal das
Leben einfach und klar werden würde. Meine Mutter lächelte dazu, wenn
ich im Gespräch daran rührte, und sah wirklich zufrieden aus. Und sie
erinnerte mich zu meiner Beschämung an meinen Freund Teiser, der noch
nicht alt war und doch alt genug, um seinen Teil erfahren zu haben, und
der als ein Kind mit einer Mozartmelodie auf den Lippen unbeschwert
dahin lebte. Es lag nicht am Alter, das sah ich wohl, und vielleicht
war unser Leid und Nichtwissen doch nur jene Krankheit, von der mir
einst Herr Lohe gesprochen hatte. Oder war auch dieser Weise eben ein
Kind wie Teiser?
Allein so oder so, mein Denken und Brüten änderte nichts. Wenn mir
Musik die Seele bewegte, dann verstand ich ohne Worte doch alles,
fühlte in der Tiefe alles Lebens reine Harmonien und glaubte zu wissen,
daß ein Sinn und schönes Gesetz in allem Geschehen verborgen sei. Wenn
es auch eine Täuschung war, ich lebte doch darin und war darin beglückt.
Vielleicht wäre es besser gewesen, Gertrud hätte sich für den Sommer
nicht von ihrem Mann getrennt. Sie begann zwar sich zu erholen und sah
wirklich im Herbst, als ich sie nach der Reise wiedersah, gesünder
und widerstandsfähiger aus. Aber die Hoffnungen, die wir auf diese
Kräftigung bauten, waren Täuschungen.
Gertrud hatte es nun einige Monate bei ihrem Vater gut gehabt, sie
hatte ihrem Bedürfnis nach Ruhe nachgeben können und sich diesem
stillen Zustand ohne tägliche Kämpfe aufatmend überlassen, wie sich ein
Ermüdeter dem Schlaf überläßt, sobald man ihn liegen läßt. Es zeigte
sich aber jetzt, daß sie tiefer erschöpft war als wir geglaubt und als
sie selber gewußt hatte. Denn jetzt, wo Muoth sie bald wieder abholen
sollte, verfiel sie in mutlose Angst, verlor den Schlaf und bat ihren
Vater flehentlich, sie noch einige Zeit bei sich zu behalten.
Natürlich war Imthor zwar etwas erschreckt, da er hatte glauben
müssen, sie freue sich darauf mit neuer Kraft und neuem Willen zu
Muoth zurückzukehren; doch widersprach er nicht und legte ihr sogar
vorsichtig den Gedanken an eine vorläufige längere Trennung als
Einleitung zu einer späteren Scheidung nahe. Allein dagegen wehrte sie
sich mit großer Erregung.
»Ich liebe ihn doch!« rief sie heftig, »und will ihm niemals untreu
werden. Es ist nur so schwer, mit ihm zu leben! Ich will nur noch ein
wenig Ruhe haben, ein paar Monate vielleicht, bis ich wieder besseren
Mut habe.«
Der alte Imthor suchte sie zu beruhigen und hatte selber gar nichts
dagegen, sein Kind noch eine Weile behalten zu dürfen. Er schrieb an
Muoth, Gertrud sei noch leidend und wünsche noch einige Zeit zu Hause
zu bleiben. Leider nahm dieser die Nachricht nicht leicht. In ihm war
während der Trennungszeit die Sehnsucht nach seiner Frau überstark
geworden, er hatte sich auf sie gefreut und war voll guter Vorsätze,
sie wieder ganz zu gewinnen und zu eigen zu bekommen.
Nun traf ihn Imthors Brief als eine schwere Enttäuschung. Er
schrieb sogleich leidenschaftlich zurück, voll Argwohn gegen den
Schwiegervater. Er glaubte, dieser habe gegen ihn gearbeitet, da er die
Trennung der Ehe wünsche, und verlangte eine sofortige Zusammenkunft
mit Gertrud, auf deren Wiedergewinnung er sicher hoffte. Der Alte
kam mit dem Briefe zu mir und wir überlegten lange, was zu tun sei.
Es schien uns beiden richtig, daß eine Zusammenkunft der Gatten im
Augenblick vermieden werde, da Gertrud offenbar jetzt keine Stürme
ertragen konnte. Imthor war voll Besorgnis und bat mich, selber zu
Muoth zu reisen und ihm zuzureden, er möge Gertrud für eine Weile in
Ruhe lassen. Ich weiß jetzt, daß ich das hätte tun sollen. Damals hatte
ich Bedenken und hielt es für gefährlich, meinen Freund wissen zu
lassen, daß ich der Vertraute seines Schwiegervaters und mit Dingen
seines Lebens bekannt sei, in die er mich nicht selber hatte einweihen
wollen. Ich weigerte mich denn und es blieb bei einem Brief des Alten,
der natürlich nichts besserte.
Vielmehr kam Muoth, ohne sich anzumelden, selber hergereist und
erschreckte uns alle durch die kaum gezügelte Leidenschaft seiner Liebe
und seines Argwohns. Gertrud, die von dem kurzen Briefwechsel nichts
wußte, war von dem Besuch des noch nicht Erwarteten und von seiner
fast zornigen Erregung völlig überrascht und benommen. Es gab einen
peinlichen Auftritt, von dem ich wenig erfahren konnte. Ich weiß nur:
Muoth drang in Gertrud, sie möge mit ihm nach München zurückkehren.
Sie erklärte sich bereit zu folgen, wenn es nicht anders sein könne,
bat aber, sie noch länger bei ihrem Vater zu lassen, sie sei müde und
brauche noch Ruhe. Nun warf er ihr vor, sie wolle sich ihm entziehen
und sei vom Vater aufgestiftet, wurde bei ihren sanften Erklärungen
noch mißtrauischer und war in seinem Anfall von Zorn und Bitterkeit so
töricht, ihr kurzerhand die Rückkehr zu ihm zu befehlen. Darauf empörte
sich ihr Stolz, sie blieb ruhig, weigerte sich aber, ihn weiter
anzuhören und erklärte nun auf alle Fälle hier zu bleiben. Auf diese
Szene war am nächsten Morgen eine Art von Versöhnung gefolgt und Muoth
hatte, beschämt und reuig, nun alle ihre Wünsche gebilligt. Dann war er
wieder abgereist, ohne bei mir vorgesprochen zu haben.
Als ich das hörte, erschrak ich und sah das Übel kommen, das ich von
Anfang an gefürchtet hatte. Auf den häßlichen und törichten Auftritt
hin, dachte ich mir, mochte es nun lange dauern, bis sie die Heiterkeit
und den Mut zur Rückkehr wiederfinden würde. Und er war inzwischen in
Gefahr, zu verwildern und ihr trotz aller Sehnsucht noch fremder zu
werden. Er würde, allein in dem Hause, in dem er eine Weile glücklich
gewesen war, es nicht lange aushalten, er würde verzweifeln, trinken,
vielleicht wieder andere Frauen nehmen, die ihm ohnehin nachliefen.
Indessen blieb es still, er schrieb an Gertrud und bat nochmals
um Verzeihung, sie gab ihm Antwort und mahnte voll Mitleid und
Freundlichkeit zur Geduld. Ich sah sie um diese Zeit wenig. Zuweilen
machte ich den Versuch, sie zum Singen zu bewegen, sie schüttelte aber
stets den Kopf. Doch traf ich sie mehrmals am Flügel.
Es war mir merkwürdig und unheimlich, die schöne stolze Frau, die ich
immer voll Kraft und Heiterkeit und innerer Ruhe gesehen hatte, nun
scheu und im Kern ihres Empfindens erschüttert zu finden. Manchmal kam
sie zu meiner Mutter, fragte freundlich nach unsrem Ergehen, saß neben
der alten Frau eine kleine Weile auf dem grauen Divan und versuchte zu
plaudern, und ich hörte mit brechendem Herzen zu und sah, wie sie Mühe
hatte, ein Lächeln aufzubringen. Der Schein wurde aufrecht erhalten,
als wisse weder ich noch irgend jemand von ihrem Leid oder als hielten
wir es nur für Nervosität und äußere Schwäche. So vermochte ich kaum
ihr in die Augen zu blicken, in denen der uneingestandene Jammer, von
dem ich nichts wissen sollte, so deutlich geschrieben stand. Und wir
sprachen und lebten und gingen aneinander vorbei, als wäre alles wie
immer, und schämten uns doch vor einander und wichen einander aus! und
mitten in dieser traurigen Wirrnis des Fühlens packte mich hie und da
mit plötzlicher Fieberglut die Vorstellung, daß ihr Herz ihrem Manne
nicht mehr gehöre und frei sei, und daß es nun an mir sei, sie nicht
abermals verloren gehen zu lassen, sondern sie für mich zu gewinnen
und vor allem Sturm und Leide an meinem Herzen zu bergen. Dann schloß
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