Gertrud - 10

Total number of words is 4592
Total number of unique words is 1446
45.4 of words are in the 2000 most common words
58.5 of words are in the 5000 most common words
65.0 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Da war ich wieder im alten Kreise und brachte die Nacht in hundertmal
gedachten Gedanken und hundertmal gekosteten Leiden hin. Am nächsten
Tage ging ich zu einem mir bekannten Organisten und bat ihn, für die
Muothsche Hochzeit mein Vorspiel zu übernehmen. Nachmittags ging ich
mit Teiser zum letztenmal meine Ouvertüre durch. Und am Abend fand ich
mich in Heinrichs Gasthof ein.
Da fand ich ein Zimmer mit einem Kaminfeuer und Kerzenlicht für uns
bereitet, einen weißgedeckten Tisch mit Blumen und Silbergeschirr, und
Muoth wartete schon auf mich.
»So, Junge,« rief er, »nun wollen wir Abschied feiern, mehr für mich
als für dich. Gertrud läßt dich grüßen, wir wollen heut ihre Gesundheit
trinken.«
Wir schenkten unsere Gläser voll und tranken schweigend aus.
»So, und jetzt wollen wir nur noch an uns selber denken. Die Jugend
will zur Neige gehen, Lieber, spürst du's nicht auch? Sie soll ja das
schönste am Leben sein. Ich hoffe, es sei ein Schwindel wie alle diese
beliebten Sprüche. Das Beste muß doch erst kommen, sonst war das Ganze
nicht recht der Mühe wert. Wenn deine Oper gespielt wird, reden wir
weiter darüber.«
Wir aßen behaglich und tranken einen schweren Rheinwein dazu, nachher
legten wir uns mit Zigarren und Champagner in den tiefen Ecksesseln
zurück und es kam mir und ihm für eine Stunde die alte Zeit herauf,
die redselige Lust am Plänebauen und Plaudern, wir blickten einander
sorglos nachdenklich in aufrichtige Augen und waren miteinander
zufrieden. Heinrich war in solchen Stunden gütiger und zarter als
sonst, er kannte die Flüchtigkeit solcher Lust genau und hielt sie,
so lange die Stimmung lebendig bleiben wollte, behutsam in schonenden
Händen fest. Leise und lächelnd sprach er von München, erzählte kleine
Bühnengeschichten und übte seine alte feine Kunst, Menschen und
Verhältnisse in kurzen klaren Worten zu zeichnen.
Als er so seinen Dirigenten, seinen Schwiegervater und andere spielend
und scharf, doch ohne Bosheit charakterisiert hatte, trank ich ihm zu
und fragte: »Nun, und was sagst du zu mir? Hast du für Leute meiner Art
auch so eine Formel?«
»O ja,« nickte er gelassen und richtete die dunklen Augen auf mich. »Du
bist in allem der Typus des Künstlers. Ein Künstler ist ja nicht, wie
die Philister meinen, ein fideler Herr, der aus lauter Übermut hie und
da Kunstwerke hinschmeißt, sondern leider meistens ein armer Tropf, der
an einem unnützen Reichtum erstickt und darum was von sich geben muß.
Es ist nichts mit der Sage vom glücklichen Künstler, das ist lauter
Philistergeschwätz. Der fidele Mozart hat sich mit Champagner aufrecht
gehalten und dafür Mangel an Brot gelitten, und warum Beethoven sich
nicht in jungen Jahren schon das Leben genommen, sondern statt dessen
diese herrlichen Sachen geschrieben hat, das weiß kein Mensch. Ein
anständiger Künstler hat im Leben unglücklich zu sein. Wenn er Hunger
hat und seinen Sack aufmacht, so sind immer bloß Perlen drin!«
»Ja, wenn man ein bißchen Freude und Wärme und Anteil am Leben begehrt,
da helfen einem ein Dutzend Opern und Trios und solche Sachen freilich
nicht viel.«
»Ich glaub's. So eine Stunde beim Wein mit einem Freund, wenn man einen
hat, und ein gutmütiges Plaudern über dies merkwürdige Leben, das ist
eigentlich das Beste, was man haben kann. Es muß schon so sein und
wir müssen froh sein, daß wir das doch haben. Wie lange schafft ein
armer Teufel an einer schönen Rakete, und die Freude dran dauert dann
keine Minute! So muß man auch Freude und Seelenruhe und gutes Gewissen
sparen, damit es hie und da zu einer hübschen Stunde reicht. Prosit,
Freund!«
Ich war mit seiner Philosophie im Grunde gar nicht einverstanden,
doch was lag daran? Mir war wohl, einen solchen Abend mit dem Freunde
zu erleben, den ich verlieren zu müssen gefürchtet hatte und der
auch so mir nicht mehr sicher war, und ich grüßte nachdenklich in
die vergangene Zeit hinüber, die noch so nahe lag und doch schon
meine Jugend umschloß, deren Leichtsinn und Harmlosigkeit mir nicht
wiederkommen konnte.
Beizeiten machten wir ein Ende und Muoth erbot sich, noch mit mir bis
zu meinem Hause zu gehen. Doch hieß ich ihn bleiben. Ich wußte, daß er
nicht gern mit mir auf der Straße ging, mein langsames Hinken störte
ihn und machte ihn verdrießlich. Er konnte keine Opfer bringen, und
solche kleine sind ja oft die schwersten.
Mein kleines Orgelstück freute mich. Es war eine Art von Präludium und
für mich eine Loslösung vom Alten, ein Dank und Glückwunsch an die
Brautleute und ein Nachhall der guten Freundschaftszeiten mit ihr und
mit ihm.
Am Tage der Hochzeit fand ich mich zeitig in der Kirche ein und sah der
Feier versteckt von der Orgel herab zu. Als der Organist mein Stücklein
spielte, sah Gertrud herauf und nickte ihrem Bräutigam zu. Ich hatte
sie diese ganze Zeit nicht mehr gesehen, sie sah im weißen Kleide noch
größer und schlanker aus und ging anmutig ernst den geschmückten
schmalen Pfad zum Altar, an der Seite des stolzen, ungebeugt
schreitenden Mannes. Es hätte weniger gut und prächtig ausgesehen, wenn
an seiner Stelle ich schiefer Krüppel diesen feierlichen Weg gegangen
wäre.


Es war schon dafür gesorgt, daß ich an die Hochzeit meiner Freunde
nicht lange denken und meine Betrachtungen und Wünsche und
Selbstquälereien nicht diesen Weg nehmen lassen konnte.
An meine Mutter hatte ich in diesen Tagen wenig gedacht. Ich wußte
zwar aus ihrem letzten Briefe, daß es um Behaglichkeit und Frieden in
ihrem Hause nicht glänzend bestellt sei, doch hatte ich weder Grund
noch Lust, mich in den Streit der beiden Damen zu mischen, sondern ließ
ihn mit einiger Schadenfreude als eine Tatsache bestehen, zu welcher
mein Urteil entbehrlich war. Seither hatte ich geschrieben, ohne
Antwort bekommen zu haben, und hatte mit dem Besorgen und Durchsehen
der Abschriften für meine Oper genug zu tun, als daß ich mir über das
Fräulein Schniebel Gedanken hätte machen können.
Da kam ein Brief von meiner Mama, der mich schon durch seinen ganz
ungewohnt großen Umfang in Erstaunen setzte. Er war eine peinliche
Anklageschrift gegen ihre Hausgenossin, aus der ich alle ihre
Vergehungen wider den Haus- und Seelenfrieden meiner guten Mutter genau
erfuhr. Es fiel ihr schwer, mir das zu schreiben, und sie tat es mit
Würde und Vorsicht, allein es war ein klares Geständnis der Täuschung,
in der sie betreffs ihrer alten Freundin und Base gelebt hatte. Meine
Mutter gab nicht nur meiner und meines seligen Vaters Abneigung gegen
Demoiselle Schniebel durchaus recht, sie war sogar jetzt bereit, das
Haus zu verkaufen, falls ich das noch wünsche, und ihren Wohnort zu
wechseln, und alles nur, um der Schniebel zu entrinnen.
»Es wäre vielleicht gut, wenn Du selber herkämest. Nämlich Lucie weiß
schon, wie ich denke und was ich plane, sie ist darin sehr spürig; aber
wir stehen zu gespannt miteinander, als daß ich ihr in der rechten
Form das Nötige sagen könnte. Meine Andeutungen, daß ich lieber wieder
allein im Hause wäre und daß sie entbehrlich sei, will sie nicht
verstehen, und offenen Streit will ich nicht haben. Ich weiß, sie würde
keifen und sich auf die Hinterbeine stellen, wenn ich sie direkt zum
Gehen auffordern wollte. Da ist es besser, Du kommst und bringst das
in Ordnung. Ich will keinen Skandal haben, und sie soll nicht zu kurz
kommen, aber es muß ihr deutlich und bestimmt gesagt werden.«
Ich wäre auch bereit gewesen, den Drachen zu erschlagen, wenn Mama es
verlangt hätte. Mit großem Vergnügen machte ich mich reisefertig und
fuhr nach Hause. Dort merkte ich freilich gleich beim Eintritt in unser
altes Haus, daß ein neuer Geist darin herrsche. Namentlich die große
behagliche Wohnstube hatte ein grämliches, unfreudiges, gedrücktes und
ärmliches Aussehen bekommen, alles sah mühsam bewacht und geschont
aus, und auf dem alten soliden Fußboden lagen sogenannte »Läufer«,
lange Trauerstreifen aus billigem und häßlichem Stoff, um die Diele zu
schonen und am Aufwaschen zu sparen. Das alte Tafelklavier, das seit
Jahren unbenutzt im Salon stand, war gleichfalls mit einer solchen
Schonhülle bekleidet, und obwohl die Mutter zu meiner Ankunft Tee und
Gebäck bereit und alles ein wenig nett gemacht hatte, roch es doch nach
altjüngferlicher Kümmerlichkeit und Naphtalin so unverwischbar, daß ich
gleich beim Empfang die Mutter anlächelte und die Nase rümpfte, was sie
sofort verstand.
Kaum saß ich im Stuhl, so kam der Drache herein, trabte über die
Läufer auf mich zu und ließ sich Ehre erweisen, was ich tat, ohne zu
sparen. Ich fragte eingehend nach ihrem Befinden und entschuldigte das
alte Haus, das vielleicht nicht jede Bequemlichkeit biete, an die sie
gewöhnt sei. Sehr über meine Mutter hinwegsprechend nahm sie die Rolle
der Hausfrau an sich, schaute nach dem Tee, erwiderte meine Höflichkeit
eifrigst und schien zwar geschmeichelt, noch mehr aber beängstigt
und mißtrauisch gemacht durch meine übertriebene Freundlichkeit. Sie
witterte Verrat, war aber genötigt, auf die angenehme Tonart einzugehen
und selber ihren ganzen Vorrat von etwas antiquierten Artigkeiten
auszubreiten. Unter lauter Ergebenheit und Hochachtung sahen wir die
Nacht herankommen, wünschten einander herzlich den besten Schlaf und
trennten uns wie Diplomaten der alten Schule. Doch glaube ich, der
Kobold habe trotz des Zuckerbrots in jener Nacht wenig geschlafen,
während ich befriedigt ausruhte und meine arme Mutter vielleicht nach
manchen in Ärger und Betrübnis hingebrachten Nächten zum erstenmal
wieder mit ungeschmälerten Hausfrauengefühlen im eigenen Hause
einschlief.
Beim Frühstück am andern Morgen begann dasselbe zierliche Spiel. Meine
Mutter, die abends nur still und gespannt zugehört hatte, nahm jetzt
mit Vergnügen selber Teil, und wir behandelten die Schniebel mit einer
Artigkeit und Zartheit, die sie sehr ins Enge trieb, ja traurig machte,
denn sie ahnte wohl, daß meiner Mutter diese Töne nicht vom Herzen
kämen. Beinahe hätte mir das alte Mädchen leid getan, wie sie ängstlich
wurde und sich klein zu machen strebte, alles lobte und gut hieß;
allein ich dachte an die entlassene Stubenmagd, an die unzufrieden
aussehende Köchin, die nur der Mutter zuliebe noch geblieben war, ich
dachte an das eingenähte Klavier und den ganzen trübsinnig kleinlichen
Geruch in meinem ehemals fröhlichen Vaterhaus, und blieb hart.
Nach Tische bat ich meine Mutter, sich etwas zu legen, und blieb mit
der Base allein.
»Pflegen Sie etwa nach Tisch zu schlafen?« fragte ich höflich. »Dann
möchte ich Sie nicht stören. Ich hätte etwas mit Ihnen zu reden, doch
eilt es ja nicht so sehr.«
»O bitte, ich schlafe nie am Tage. So alt bin ich ja gottlob noch
nicht. Ich stehe ganz zu Diensten.«
»Danke sehr, gnädiges Fräulein. Ich wollte Ihnen Dank sagen für die
Freundlichkeiten, die Sie meiner Mama erwiesen haben. Sie hätte es
sonst doch sehr einsam gehabt in dem leeren Haus. Nun, jetzt wird das
ja anders.«
»Wie?« rief sie aufspringend. »Was wird anders?«
»Wissen Sie es noch nicht? Mama hat sich entschlossen, endlich meinen
alten Wunsch zu erfüllen und zu mir zu ziehen. Da können wir das Haus
natürlich nicht leer stehen lassen. So wird es denn wohl bald zum
Verkauf kommen.«
Das Fräulein starrte mich fassungslos an.
»Ja, es tut mir auch leid,« fuhr ich bedauernd fort. »Nun, für Sie war
diese Zeit immerhin anstrengend. Sie haben sich des ganzen Hauses so
freundlich und sorglich angenommen, daß ich nicht genug danken kann.«
»Aber ich, was soll -- -- -- wohin soll ich -- --«
»Nun, das wird sich ja finden. Sie müssen sich eben wieder eine Wohnung
suchen, es eilt natürlich nicht so sehr. Sie werden sich selber freuen,
es wieder stiller zu haben.«
Sie war aufgestanden. Ihr Ton war noch höflich, aber bedenklich scharf.
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll,« rief sie erbittert. »Ihre
Mutter, Herr, hat mir versprochen, mich hier wohnen zu lassen. Es war
eine feste Abmachung; und jetzt, wo ich mich des Hauses angenommen
und Ihrer Mutter in allem geholfen habe, jetzt setzt man mich auf die
Straße!«
Sie begann zu schluchzen und wollte fortlaufen. Doch hielt ich sie an
ihrer mageren Hand zurück und setzte sie wieder in ihren Sessel.
»So schlimm ist es nicht,« sagte ich lächelnd. »Daß meine Mutter von
hier wegziehen will, ändert eben die Verhältnisse ein wenig. Übrigens
ist der Verkauf des Hauses nicht von ihr beschlossen, sondern von mir,
denn ich bin der Besitzer. Daß Sie sich beim Aussuchen einer neuen
Wohnung nicht beschränken und die Sorge dafür ihr überlassen, setzt
meine Mutter voraus. Sie haben es dann bequemer als bisher, und sind
doch noch gewissermaßen ihr Gast.«
Es kamen nun die erwarteten Einwände, der Stolz, das Weinen, das mit
Bitten abwechselnde Großtun, und am Ende merkte die Schmollende, daß
hier Nachgeben das Klügste sei. Doch zog sie sich auf dieses hin in
ihr Zimmer zurück und ließ sich auch zum Kaffee nicht sehen. Meine
Mutter meinte, wir sollten ihr diesen aufs Zimmer schicken, doch wollte
ich nach all der Höflichkeit auch meine Rache haben und ließ Fräulein
Schniebel in ihrem Trotz verharren bis zum Abend, wo sie denn still und
grämlich, doch pünktlich zur Mahlzeit erschien.
»Ich muß leider schon morgen wieder nach R. fahren,« sagte ich während
des Abendessens. »Solltest du mich aber brauchen, Mama, so kann ich ja
immer schnell herfahren.«
Ich sah dabei nicht meine Mutter, sondern ihre Cousine an, und sie
merkte, wie es gemeint sei. Mein Abschied von ihr war kurz und
meinerseits beinahe herzlich.
»Kind,« sagte meine Mutter nachher, »du hast es gut gemacht, und ich
muß dir danken. Willst du mir nicht etwas aus deiner Oper vorspielen?«
Dazu kam es nun nicht, aber es war ein Ring durchbrochen, und zwischen
der alten Frau und mir begann es zu tagen. Das war das Beste an der
Sache. Sie hatte jetzt Vertrauen zu mir, und ich freute mich darauf,
bald mit ihr ein kleines Hauswesen zu eröffnen und aus der langen
Heimatlosigkeit herauszukommen. Ich reiste befriedigt ab, hinterließ
schöne Grüße an das alte Fräulein und begann nach meiner Rückkehr schon
da und dort einzukehren, wo hübsche kleine Wohnungen zu vermieten
standen. Dabei half mir Teiser, und meistens war auch seine Schwester
mit, und beide freuten sich mit mir und hofften auf ein erfreuliches
Zusammenleben der beiden kleinen Familien.
Inzwischen war meine Oper nach München gegangen. Nach zwei Monaten,
kurz vor der Ankunft meiner Mutter, schrieb mir Muoth, sie sei
angenommen, könne aber in dieser Spielzeit nicht mehr einstudiert
werden. Doch werde sie im Beginn des nächsten Winters aufgeführt
werden. So hatte ich der Mutter eine gute Nachricht, und Teiser
veranstaltete ein Fest mit Freudentänzen, als er es hörte.
Meine Mutter weinte beim Einzug in unsere hübsche Gartenwohnung und
meinte, es sei nicht gut, im Alter noch auf fremden Boden verpflanzt zu
werden. Ich aber fand es sehr gut, und die Teisers auch, und Brigitte
half und ging meiner Mutter zur Hand, daß es eine Freude war. Das
Mädchen hatte wenig Bekannte in der Stadt und war oft, während ihr
Bruder im Theater war, einsam zu Hause gesessen, was ihr allerdings
nicht anzusehen war. Nun kam sie viel zu uns und half nicht nur beim
Einräumen und Eingewöhnen, sondern half auch mir und der Mutter den
schwierigen Weg in ein freundlich stilles Zusammenleben hinein zu
finden. Sie wußte es der alten Frau zu erklären, wenn ich Ruhe brauchte
und allein sein mußte, sie war dann zur Hand und sprang für mich ein,
und mir deutete sie manche Bedürfnisse und Wünsche meiner Mutter an,
die ich nie erraten und die Mutter mir nie mitgeteilt hätte. So gab es
bald eine kleine Heimat und einen Heimatfrieden bei uns, anders und
bescheidener als ich mir vormals mein Heim vorgestellt hatte, doch gut
und schön genug für einen, der es selber nicht weiter gebracht hatte
als ich.
Jetzt lernte meine Mutter auch meine Musik kennen. Sie hieß nicht alles
gut und schwieg zu dem meisten, aber sie sah und glaubte, daß es nicht
Zeitvertreib und Spielerei, sondern Arbeit und Ernst war, und fand
überhaupt zu ihrem Erstaunen unser Musikantenleben, das sie sich stark
seiltänzerhaft vorgestellt hatte, kaum viel weniger bürgerlich-fleißig
als das, das der selige Papa etwa geführt hatte. Von ihm konnten wir
nun auch besser reden und allmählich hörte ich tausend Geschichten von
ihm und von ihr, von den Großeltern und von meiner eignen Kinderzeit.
Die Vergangenheit und Familie ward mir lieb und interessant, ich fühlte
mich nicht mehr außerhalb des Kreises. Dagegen lernte die Mutter
mich gewähren zu lassen und Vertrauen zu mir zu haben, auch wenn ich
in Arbeitszeiten mich einschloß oder reizbar war. Sie hatte es bei
meinem Vater sehr gut gehabt, desto härter war ihre Prüfung in den
Schniebelschen Zeiten gewesen; jetzt faßte sie wieder Vertrauen und
hörte allmählich auf von ihrem Altwerden und Vereinsamen zu reden.
In all diesem Behagen und bescheidenen Glück sank das Leidgefühl und
Ungenügen unter, in dem ich lang gelebt hatte. Es sank aber nicht ins
Bodenlose, sondern ruhte tief und unverloren in meiner Seele, sah
mich in mancher Nacht fragend an und behielt sein Recht. Je ferner
das Vergangene zurückgesunken schien, desto klarer stieg mir das Bild
meiner Liebe und meines Leides herauf, blieb bei mir und war mein
stiller Mahner.
Manchmal schon hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei. Schon in
Jünglingszeiten, da ich betört um die hübsche leichte Liddy schwärmte,
hatte ich Liebe zu kennen gemeint. Dann wieder als ich Gertrud zuerst
sah und fühlte, daß sie die Antwort auf meine Fragen und der Trost
für meine dunklen Wünsche sei. Dann wieder, als die Pein begann und
aus der Freundschaft und Klarheit Leidenschaft und Dunkel wurde, und
schließlich, als sie mir verloren war. Aber die Liebe blieb und war
immer bei mir, und ich wußte, daß ich niemals mehr einer Frau mit
Begierde folgen und nach dem Kuß eines Frauenmundes verlangen konnte,
seit ich Gertrud im Herzen hatte.
Ihr Vater, den ich zuweilen besuchte, schien jetzt von meinem
Verhältnis zu ihr zu wissen. Er bat sich das Präludium aus, das ich zu
ihrer Hochzeit gemacht hatte, und zeigte mir ein stilles Wohlwollen.
Er mochte fühlen, wie gern ich von ihr hörte und wie ungern ich doch
fragte, und er teilte mir viel aus ihren Briefen mit. Darin war auch
von mir häufig die Rede, namentlich von meiner Oper. Sie schrieb, daß
für die Sopranrolle eine gute Sängerin gefunden sei und wie sie sich
freue, das ihr schon so vertraute Werk endlich ganz zu hören. Sie
freute sich auch darüber, daß ich meine Mutter bei mir habe. Was sie
über Muoth schrieb, weiß ich nicht.
Mein Leben lief ruhig hin, die Ströme der Tiefe drangen nicht mehr
nach oben. Ich arbeitete an einer Messe und hatte ein Oratorium im
Kopf, für das mir der Text noch fehlte. Wenn ich genötigt war, an die
Oper zu denken, war es mir eine fremde Welt. Meine Musik ging neue
Wege, sie wurde einfacher und kühler, sie wollte trösten und nicht
erregen.
In dieser Zeit waren die Geschwister Teiser mir viel wert. Wir sahen
uns beinahe täglich, wir lasen, musizierten, spazierten miteinander,
hatten Feste und Ausflüge gemeinsam. Nur im Sommer, da ich die rüstigen
Wandersleute nicht beschweren wollte, trennten wir uns für einige
Wochen. Die Teisers wanderten wieder im Tirol und Vorarlberg umher und
schickten kleine Schachteln mit Edelweiß; ich aber hatte die Mutter zu
ihren Verwandten in Norddeutschland gebracht, wo sie schon seit Jahren
eingeladen war, und hatte mich an die Nordsee gesetzt. Da hörte ich Tag
und Nacht das alte Lied des Meeres und ging in der herben, frischen
Seeluft meinen Gedanken und Melodien nach. Von hier aus fand ich zum
erstenmal das Herz, an Gertrud nach München zu schreiben -- nicht an
die Frau Muoth, sondern an meine Freundin Gertrud, der ich von meiner
Musik und meinen Träumen erzählte. Vielleicht freut es sie, dachte
ich, und vielleicht kann ihr auch ein Trost und ein Freundesgruß nicht
schaden. Denn wider mein eigenes Herz mußte ich meinem Freunde Muoth
mißtrauen und immer um Gertrud in einer leisen Sorge sein. Ich kannte
ihn zu gut, den eigenwilligen Melancholiker, der gewohnt war, seinen
Launen zu leben und nirgends ein Opfer zu bringen, den dunkle Triebe
hinrissen und leiteten und der in nachdenklichen Stunden seinem eigenen
Leben zusah wie einem Trauerspiel. Wenn das wirklich eine Krankheit
war, das Einsamsein und Nichtverstandenwerden, wie es der gute Herr
Lohe mir dargestellt hatte, so litt Muoth an dieser Krankheit mehr als
irgend jemand.
Doch hörte ich nichts von ihm, Briefe schrieb er nicht. Auch Gertrud
antwortete mir nur mit einem kurzen Dank und der Aufforderung, zeitig
im Herbst nach München zu kommen, wo man gleich mit dem Anfang der
Spielzeit mit dem Einstudieren meiner Oper fortfahren werde.
Anfangs September, als wir alle wieder in der Stadt und im gewohnten
Leben waren, kamen wir einen Abend in meiner Wohnung zusammen, um
meine Arbeit vom Sommer durchzusehen. Die Hauptsache war ein kleines
lyrisches Stück für zwei Geigen und Klavier. Das spielten wir.
Brigitte Teiser saß am Klavier, ich konnte über mein Blatt hinweg
ihren Kopf mit dem schweren Kranz von blonden Zöpfen sehen, deren
Ränder im Kerzenlicht golden flammten. Ihr Bruder stand neben ihr und
spielte die erste Geige. Es war eine einfache, liedartige Musik, leise
klagend und sommerabendlich verklingend, nicht froh noch traurig,
sondern in verlorener Abendstimmung schwebend wie eine verglühende
Wolke nach Sonnenuntergang. Das Stücklein gefiel den Teisers und
besonders Brigitte. Sie pflegte mir selten etwas über meine Musik zu
sagen, sondern sich in einer Art von mädchenhafter Ehrfurcht still
zu verhalten und mich nur bewundernd anzusehen, denn sie hielt mich
für einen großen Meister. Heut faßte sie sich ein Herz und gab ihr
besonderes Gefallen kund. Sie glänzte mich aus ihren hellblauen Augen
innig an und nickte, daß das Licht auf ihren blonden Zöpfen tanzte. Sie
war sehr hübsch, beinahe eine Schönheit.
Um ihr eine Freude zu machen, nahm ich ihre Klavierstimme, schrieb mit
dem Bleistift über die Noten eine Widmung »an meine Freundin Brigitte
Teiser« und gab ihr die Noten zurück.
»Das soll jetzt immer über dem kleinen Lied stehen,« sagte ich galant
und machte ein Kompliment. Sie las die Widmung langsam rotwerdend,
streckte mir die kleine, kräftige Hand hin und hatte plötzlich die
Augen voll Tränen.
»Ist's auch Ihr Ernst?« fragte sie leise.
»Es wird schon sein,« lachte ich. »Und ich finde, das Stücklein paßt
ganz gut zu Ihnen, Fräulein Brigitte.«
Ihr Blick, der noch voll Tränen war, setzte mich in Erstaunen, so ernst
und frauenhaft war er. Doch achtete ich nicht weiter darauf, Teiser
legte jetzt seine Geige weg und meine Mutter, die seine Bedürfnisse
schon kannte, schenkte den Wein in die Gläser. Das Gespräch wurde
lebhaft, wir stritten über eine neue Operette, die vor einigen Wochen
aufgeführt worden war, und der kleine Vorfall mit Brigitte fiel mir
erst spät am Abend, als die beiden Abschied nahmen und sie mir seltsam
unruhig in die Augen sah, wieder ein.
In München begann man unterdessen mein Werk einzustudieren. Da die eine
Hauptrolle bei Muoth in den besten Händen war und Gertrud auch die
Sopransängerin gelobt hatte, wurde mir das Orchester und die Chöre zur
Hauptsache. Ich ließ meine Mutter in der Obhut der Freunde und fuhr
nach München.
Am Morgen nach meiner Ankunft fuhr ich durch die schönen, breiten
Straßen nach Schwabing und zu dem still gelegenen Hause, wo Muoth
wohnte. Die Oper hatte ich völlig vergessen, ich dachte nur an ihn und
an Gertrud und wie ich sie finden würde. Der Wagen hielt an einer fast
ländlichen Nebenstraße vor einem kleinen Hause, das in herbstlichen
Bäumen stand, gelbe Ahornblätter lagen zu beiden Seiten des Weges in
Haufen gefegt. Beklommen trat ich ein, das Haus machte einen behaglich
herrschaftlichen Eindruck, ein Diener nahm mir den Mantel ab.
In dem großen Zimmer, in das ich geführt wurde, erkannte ich zwei
von den großen, alten Malereien aus dem Hause Imthor, die hierher
mitgekommen waren. An einer andern Wand hing ein neues Bildnis Muoths,
in München gemalt, und während ich es ansah, kam Gertrud herein.
Mir schlug das Herz, als ich ihr nach so langer Zeit in die Augen sah.
Sie lächelte aus einem veränderten, strenger und reifer gewordenen
Frauengesicht, doch in der alten Freundschaft, und gab mir herzlich die
Hand.
»Geht es gut?« sagte sie freundlich. »Sie sind älter geworden, aber Sie
sehen gut aus. Wir haben Sie schon lang erwartet.«
Sie fragte nach allen Freunden, nach ihrem Vater, nach meiner Mutter,
und wie sie warm wurde und die erste Scheu vergaß, sah ich sie ganz
so wie früher. Unversehens verflog meine Befangenheit und ich sprach
mit ihr als mit einer guten Freundin, erzählte vom Sommer am Meer, von
meiner Arbeit, von Teisers und schließlich sogar von dem armen Fräulein
Schniebel.
»Nun,« rief sie, »und jetzt wird Ihre Oper gespielt! Sie werden sich
freuen.«
»Ja,« sagte ich, »aber am meisten freue ich mich doch darauf, Sie
wieder einmal singen zu hören.«
Sie nickte mir zu. »Darauf freu ich mich auch. Ich singe viel, aber
fast nur für mich allein. Wir wollen alle Ihre Lieder singen, sie
liegen immer zur Hand und werden bei mir nicht staubig. Bleiben Sie zu
Tische da, mein Mann muß bald kommen und kann Sie dann nachmittags zum
Dirigenten begleiten.«
Wir gingen nun in das Musikzimmer, ich setzte mich ans Klavier und
da sang sie meine Lieder von damals, daß ich still wurde und Mühe
hatte, heiter zu bleiben. Ihre Stimme war reifer und fester geworden,
aber sie flog noch so leicht und mühelos wie sonst und ging mir mit
der Erinnerung an die besten Tage meines Lebens zum Herzen, daß ich
wie verzaubert über den Tasten saß, und leise die alten Noten spielte
und für Augenblicke mit geschlossenen Augen lauschend Jetzt und Einst
nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Gehörte sie nicht zu mir und zu
meinem Leben? Waren wir nicht einander nahe wie Geschwister und eng
Befreundete? Freilich, mit Muoth hatte sie anders gesungen!
Plaudernd saßen wir noch eine Weile, froh und ohne daß wir einander
viel zu sagen hatten, denn wir spürten, daß es zwischen uns keiner
Auseinandersetzung bedurfte. Wie es ihr gehe und wie es zwischen ihr
und ihrem Manne stehe, darüber dachte ich jetzt nicht nach, das würde
ich später selber sehen können. Jedenfalls war sie nicht von ihrer
Bahn gewichen und ihrem Wesen nicht untreu geworden, und wenn es ihr
nicht gut ging und sie zu tragen hatte, so trug sie es nobel und
unverbittert.
Nach einer Stunde kam Heinrich, der schon von meinem Hiersein gehört
hatte. Er begann sofort von der Oper zu sprechen, die jedermann
wichtiger zu sein schien als mir selber. Ich fragte, wie es ihm in
München gefalle und gehe.
»Wie überall,« sagte er ernsthaft. »Das Publikum hat mich nicht gern,
weil es spürt, daß ich mir auch aus ihm nichts mache. Ich werde selten
gleich beim ersten Auftreten freundlich aufgenommen; ich muß jedesmal
die Leute erst fassen und mitreißen. So habe ich Erfolge, ohne beliebt
zu sein. Manchmal singe ich freilich auch miserabel, das muß ich selber
sagen. Nun, deine Oper wird ein Erfolg, darauf kannst du rechnen, für
dich und mich. Heute gehen wir zum Dirigenten, morgen laden wir die
Sopransängerin, und wen du sonst haben willst, ein. Morgen früh ist
auch eine Orchesterprobe. Ich glaube, du wirst zufrieden sein.«
Bei Tische konnte ich beobachten, daß er gegen Gertrud außerordentlich
höflich war, was mir gar nicht gefiel. Und so blieb es die ganze Zeit,
solange ich in München war und die beiden täglich sah. Sie waren ein
wundervolles Paar schöner Menschen und machten Eindruck, wohin sie
kamen. Doch war es zwischen ihnen kühl, und ich dachte mir, daß nur
Gertruds Stärke und innere Überlegenheit ihn vermöge, diese Kühle so
in Höflichkeit und würdige Form zu verwandeln. Sie schien aus ihrer
Leidenschaft für den schönen Mann noch nicht lange erwacht zu sein
und noch auf die Wiederkehr der verloren gegangenen Innigkeit zu
hoffen. Jedenfalls war sie es, die auch ihn zur guten Form nötigte.
Sie war zu vornehm und gut, um selbst vor Freunden die Enttäuschte
You have read 1 text from German literature.
Next - Gertrud - 11
  • Parts
  • Gertrud - 01
    Total number of words is 4435
    Total number of unique words is 1597
    40.1 of words are in the 2000 most common words
    54.6 of words are in the 5000 most common words
    60.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 02
    Total number of words is 4537
    Total number of unique words is 1560
    42.3 of words are in the 2000 most common words
    56.6 of words are in the 5000 most common words
    61.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 03
    Total number of words is 4650
    Total number of unique words is 1424
    44.5 of words are in the 2000 most common words
    57.3 of words are in the 5000 most common words
    63.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 04
    Total number of words is 4581
    Total number of unique words is 1460
    44.2 of words are in the 2000 most common words
    57.4 of words are in the 5000 most common words
    63.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 05
    Total number of words is 4656
    Total number of unique words is 1447
    46.5 of words are in the 2000 most common words
    59.6 of words are in the 5000 most common words
    64.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 06
    Total number of words is 4644
    Total number of unique words is 1470
    43.5 of words are in the 2000 most common words
    56.0 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 07
    Total number of words is 4614
    Total number of unique words is 1449
    45.3 of words are in the 2000 most common words
    59.3 of words are in the 5000 most common words
    65.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 08
    Total number of words is 4606
    Total number of unique words is 1443
    45.7 of words are in the 2000 most common words
    58.6 of words are in the 5000 most common words
    64.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 09
    Total number of words is 4570
    Total number of unique words is 1466
    47.5 of words are in the 2000 most common words
    60.8 of words are in the 5000 most common words
    66.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 10
    Total number of words is 4592
    Total number of unique words is 1446
    45.4 of words are in the 2000 most common words
    58.5 of words are in the 5000 most common words
    65.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 11
    Total number of words is 4593
    Total number of unique words is 1442
    46.0 of words are in the 2000 most common words
    58.8 of words are in the 5000 most common words
    65.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 12
    Total number of words is 4714
    Total number of unique words is 1415
    46.8 of words are in the 2000 most common words
    61.6 of words are in the 5000 most common words
    67.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 13
    Total number of words is 317
    Total number of unique words is 195
    64.6 of words are in the 2000 most common words
    74.6 of words are in the 5000 most common words
    76.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.