Gertrud - 09

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warum soll ich's also nicht einmal auf diese Art versuchen! Sie haben
die Liebe zum eigenen Leben verloren, so schonen Sie es nicht, legen
Sie sich eine Last auf, verzichten Sie auf das bißchen Bequemlichkeit!«
»Ich werde es versuchen. Sie haben recht, es ist ja einerlei, was ich
tue; warum soll ich nicht das tun, was Sie raten?«
Was mich an seinen Worten ergriff und in Erstaunen setzte, war ihre
Übereinstimmung mit dem, was mein Vater mir beim letzten Zusammensein
als Lebensweisheit dargetan hatte: Leben für andere, sich selber nicht
so ernst nehmen! Die Lehre widersprach meinem Gefühl unmittelbar, sie
schmeckte auch ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht,
an welche ich, wie jeder gesunde junge Mensch, mit Abscheu und
Verachtung dachte. Aber schließlich handelte es sich ja nicht um
Meinungen und Weltanschauungen, sondern um einen ganz praktischen
Versuch, das schwere Leben erträglich zu machen. Ich wollte ihn machen.
Verwundert sah ich dem Manne in die Augen, den ich nie recht ernst
genommen hatte und jetzt als Ratgeber, ja als Arzt gelten ließ. Aber er
schien wirklich etwas von jener Liebe zu haben, die er mir empfahl. Er
schien mein Leiden zu teilen und mir ehrlich Gutes zu wünschen. Ohnehin
hatte mein Gefühl mir schon gesagt, daß ich eine gewaltsame Kur nötig
habe, um wieder leben und atmen zu können wie andere. Ich hatte an eine
lange Bergeinsamkeit oder an ein wildes Arbeiten gedacht, nun wollte
ich aber lieber meinem Ratgeber folgen, da meine Erfahrung und Weisheit
doch am Ende war.
Als ich meiner Mutter eröffnete, ich gedenke, sie nicht allein zu
lassen, sondern hoffe, sie werde zu mir ziehen und mein Leben teilen,
da schüttelte sie traurig den Kopf.
»Was denkst du!« wehrte sie ab. »Das geht nicht so einfach. Ich habe
meine alten Gewohnheiten und kann nimmer neu anfangen, und du brauchst
Freiheit und darfst dich nicht mit mir beladen.«
»Wir können es ja einmal versuchen,« schlug ich vor. »Vielleicht geht
es leichter, als du meinst.«
Fürs Erste hatte ich genug zu tun, um vom Grübeln und Verzweifeln
abgehalten zu sein. Da stand ein Haus und war ein ausgedehntes Geschäft
mit Guthaben und mit Schulden, da waren Bücher und Rechnungen, war Geld
ausgeliehen und Geld aufgenommen, und es war die Frage, was aus dem
allen werden solle. Ich war natürlich von Anfang an entschlossen, alles
zu verkaufen, doch ging das nicht so rasch, auch hing die Mutter an dem
alten Hause, und das Testament meines Vaters wollte auch erfüllt sein,
mit allerlei Haken und Schwierigkeiten. Der Buchhalter und ein Notar
mußten helfen, die Tage und Wochen gingen mit Besprechungen hin, mit
Briefwechseln um Geld und Schulden, mit Plänen und Enttäuschungen. Ich
kannte mich bald in allen diesen Rechnungen und amtlichen Formularen
nicht mehr aus, gab dem Notar noch einen Rechtsanwalt bei und überließ
ihnen die Entwirrung.
Darüber kam meine Mutter nicht selten zu kurz. Ich gab mir Mühe, ihr
diese Zeit leichter zu machen, ich hielt ihr alle Geschäfte vom Halse,
ich las ihr vor und fuhr mit ihr spazieren. Zuweilen fiel es mir
schwer, nicht auszureißen und alles liegen zu lassen, doch hielt das
Schamgefühl und eine gewisse Neugierde, wie es gehen werde, mich zurück.
Meine Mutter dachte an nichts als an den Verstorbenen, doch zeigte
sich ihre Trauer in lauter kleinen, frauenhaften, mir fremden und oft
kleinlich scheinenden Zügen. Anfangs mußte ich bei Tische an des Vaters
Platz sitzen, dann fand sie, ich passe doch nicht dahin, und der Platz
mußte leer bleiben. Manchmal konnte ich ihr nicht genug vom Vater
sprechen, dann wieder ward sie still und sah mich leidend an, sobald
ich ihn nur nannte. Am meisten fehlte mir die Musik. Ich hätte viel
darum gegeben, einmal eine Stunde geigen zu können, aber das durfte ich
erst nach vielen Wochen wieder, und auch dann seufzte sie und fühlte
einen Verstoß darin. Auf meine unfrohen Bemühungen, ihr mein Wesen und
Leben näher zu bringen und ihre Freundschaft zu gewinnen, ging sie
nicht ein.
Da litt ich oft und wollte es aufgeben, doch bezwang ich mich immer
wieder und gewöhnte mich an diese Tage ohne Resonanz. Mein eigenes
Leben lag brach und tot, nur selten klang das Gewesene dunkel herüber,
wenn ich im Traum die Stimme Gertruds hörte oder in einer leeren Stunde
mir ungewollt Melodien aus meiner Oper einfielen. Als ich nach R.
reiste, um meine Wohnung dort aufzugeben und meine Sachen einzupacken,
schien alles dortige mir um Jahre entfernt. Ich besuchte nur Teiser,
der mir treulich beistand. Nach Gertrud wagte ich nicht zu fragen.
Gegen das zurückhaltend resignierte Benehmen meiner Mutter, das
mich auf die Dauer allzusehr bedrückte, mußte ich allmählich einen
regelrechten, versteckten Kampf beginnen. Bat ich sie offen, mir zu
sagen, was sie wünsche und worin sie etwa mit mir unzufrieden sei, so
streichelte sie traurig lächelnd meine Hand und sagte: »Laß nur, Kind!
Ich bin eben eine alte Frau.« So begann ich denn auf eigene Faust zu
forschen, wobei ich auch Fragen an den Buchhalter und die Dienstboten
nicht verschmähte.
Da fand sich denn allerlei. Die Hauptsache war die: meine Mutter hatte
in der Stadt eine einzige nahe Verwandte und Freundin, eine Cousine,
die ein altes Fräulein war und wenig Umgang pflegte, mit meiner Mutter
aber sehr enge Freundschaft unterhielt. Dieses Fräulein Schwiebel hatte
schon meinen Vater gar nicht geliebt, gegen mich aber einen richtigen
Widerwillen, so daß sie neuerdings nicht mehr ins Haus kam. Meine
Mutter hatte ihr früher versprochen, sie zu sich zu nehmen, falls
sie den Vater überlebe, und diese Hoffnung schien ihr mein Dableiben
zu vereiteln. Als ich das allmählich erkundet hatte, machte ich denn
der alten Dame einen Besuch und gab mir Mühe, mich ihr angenehm zu
machen. Das Spiel mit Wunderlichkeiten und kleinen Intriguen war mir
neu und machte mir beinahe Vergnügen. Es gelang mir, das Fräulein
wieder in unser Haus zu bringen, und ich merkte, daß die Mutter mir
dafür dankbar war. Allerdings taten sich die beiden nun zusammen,
den von mir gewünschten Verkauf des alten Hauses zu hintertreiben,
was ihnen wirklich gelang. Nun ging das Streben des Fräuleins dahin,
meine Stelle im Hause einzunehmen und zu dem längst ersehnten warmen
Altensitz zu gelangen, den ich ihr noch versperrte. Es wäre Raum genug
für sie und mich gewesen, allein sie wollte keinen Hausherrn neben sich
und weigerte sich, zu uns zu ziehen. Dagegen kam sie fleißig gelaufen,
machte sich der Freundin in manchen kleinen Dingen unentbehrlich,
behandelte mich diplomatisch wie eine gefährliche Großmacht und
bemächtigte sich der Stellung einer Ratgeberin im Haushalt, die ich ihr
nicht streitig machen konnte.
Meine arme Mutter ergriff weder ihre noch meine Partei. Sie war müde
und litt tief unter der Veränderung ihres Lebens. Wie sehr der Vater
ihr fehlte, merkte ich erst allmählich. Einmal traf ich sie beim Gang
durch ein Zimmer, in dem ich sie nicht vermuten konnte, an einem
Kleiderschrank beschäftigt. Sie erschrak über mein Dazukommen und
ich ging rasch weiter, doch sah ich wohl, daß sie die Kleider des
Verstorbenen musterte, und nachher hatte sie rote Augen.
Als der Sommer kam, begann ein neuer Kampf. Ich wollte durchaus
mit meiner Mutter verreisen, wir konnten beide eine Erholung wohl
brauchen, ich hoffte dabei, sie zu ermuntern und mehr Einfluß auf sie
zu gewinnen. Sie zeigte wenig Lust zum Reisen, widersprach mir jedoch
kaum; desto eifriger trat Fräulein Schwiebel dafür ein, daß die Mutter
dableibe und ich allein reise. Doch wollte ich hierin keineswegs
nachgeben, ich versprach mir von der Reise viel. Es begann mir in dem
alten Hause mit der armen, unruhig gewordenen und leidenden Mutter
unheimlich zu werden; draußen hoffte ich der Mutter besser helfen und
meine eigenen Gedanken und Launen besser beherrschen zu können.
So setzte ich es durch, daß wir gegen Ende des Juni abreisten. Wir
fuhren in kleinen Tagreisen, sahen Konstanz und Zürich und fuhren
über den Brünig dem Berner Oberland entgegen. Meine Mutter hielt sich
still und müde, ließ die Reise über sich ergehen und sah unglücklich
aus. In Interlaken begann sie zu klagen, sie schlafe nicht mehr, doch
beredete ich sie, noch mit nach Grindelwald zu gehen, wo ich für sie
und mich auf Ruhe hoffte. Auf dieser törichten, unendlichen, freudlosen
Reise sah ich die Unmöglichkeit, dem eigenen Elend zu entrinnen
und davonzulaufen, wohl ein. Da lagen die schönen, grünen Seen und
spiegelten alte, prächtige Städte, da stiegen die Berge weiß und blau
und strahlten blaugrüne Gletscher im Sonnenlicht. Wir beide aber gingen
still und unerfreut an allem vorbei, schämten uns vor allem, waren von
allem nur bedrückt und ermüdet. Wir machten unsere Spaziergänge, sahen
an den Bergen empor, atmeten die leichte, süße Luft und hörten die
Kuhglocken auf den Matten läuten, und wir sagten: »Das ist schön!« und
wagten nicht, uns dabei in die Augen zu sehen.
Eine Woche hielten wir es in Grindelwald aus. Da sagte meine Mutter
eines Morgens: »Du, es hat keinen Zweck, wir wollen umkehren. Ich
möchte gern wieder einmal eine Nacht schlafen können. Und wenn ich
krank werden und sterben soll, will ich's zu Hause tun.«
Da packte ich schweigend unsere Koffer ein, gab ihr im Stillen recht
und fuhr mit ihr, schneller als wir hergekommen waren, den ganzen Weg
zurück. Doch hatte ich nicht das Gefühl, in eine Heimat zurückzukehren,
sondern in ein Gefängnis, und auch die Mutter zeigte nur eine leise
Befriedigung.
Und am Abend des Heimkehrtages sagte ich zu ihr: »Was meinst du dazu,
wenn ich allein verreise? Ich würde wieder nach R. fahren. Sieh, ich
bliebe gern bei dir, wenn ich irgend einen Nutzen darin sähe. Aber wir
sind beide krank und freudlos und stecken einander nur immer wieder an.
Nimm du deine Freundin ins Haus, die kann dich besser trösten als ich.«
Nach ihrer Gewohnheit nahm sie meine Hand und streichelte sie leise.
Sie nickte dazu und sah mich mit Lächeln an, und das Lächeln sagte
deutlich: »Ja, geh nur!«
Mit allen meinen Bemühungen und guten Vorsätzen hatte ich nichts
erreicht, als sie und mich ein paar Monate lang zu quälen und sie mir
noch viel mehr zu entfremden. Es hatte, trotz des Zusammenlebens, jedes
von uns sein Bündel allein getragen und nicht mit dem andern geteilt,
und jedes war nur tiefer in sein Leid und seine Krankheit versunken.
Meine Versuche waren fruchtlos geblieben und ich konnte nichts Besseres
tun als gehen und dem Fräulein Schniebel das Feld räumen.
Das tat ich denn auch in Bälde, und da ich keinen anderen Ort wußte,
ging ich nach R. zurück. Bei der Abreise kam mir zum Bewußtsein,
daß ich nun keine Heimat mehr habe. Die Stadt, in der ich geboren
war und die Kinderjahre gelebt und meinen Vater begraben hatte,
ging mich nichts mehr an, hatte nichts von mir zu fordern und mir
nichts zu geben, als Erinnerungen. Ich sagte es dem Herrn Lohe beim
Abschiednehmen nicht, aber sein Rezept hatte nicht geholfen.
Zufällig stand in R. meine alte Wohnung noch leer. Es war mir wie
ein Zeichen, daß es nutzlos sei, den Zusammenhang mit dem Gewesenen
abbrechen und sich vor dem eigenen Schicksal flüchten zu wollen. Ich
lebte wieder in demselben Hause und Zimmer, in derselben Stadt, packte
meine Geige und meine Arbeit wieder aus und fand alles wie es gewesen
war, nur daß Muoth nach München gegangen und Gertrud seine Braut
geworden war.
Ich nahm die Stücke meiner Oper in die Hände, als wären es die Trümmer
meines früheren Lebens, aus denen ich nun noch etwas zu machen
versuchen wollte. Doch regte sich die Musik nur langsam wieder in
meiner erstarrten Seele und erwachte erst, als der Dichter aller meiner
Texte mir ein neues Lied schickte. Es kam in einer Zeit, da ich am
Abend nicht selten die alte Unruhe in mir spürte und mit Scham und
tausend Irrlichtern im Herzen um den Garten des Imthorschen Hauses
strich, und es hieß:
Der Föhn schreit jede Nacht,
Sein feuchter Flügel flattert schwer,
Brachvögel taumeln durch die Luft;
Nun schläft nichts mehr,
Nun ist das ganze Land erwacht.
Der Frühling ruft.
In diesen Nächten schlaf ich nicht.
Mein Herz wird jung,
Aus blauen Tiefen der Erinnerung
Steigt meiner Jugend heißes Glück,
Schaut mir so nahe ins Gesicht,
Erschrickt, und flieht zurück.
Bleib still, bleib still, mein Herz!
Ob auch im Blute eng und schwer
Die Leidenschaft sich rührt
Und dich die alten Wege führt --
Nicht jugendwärts
Gehn deine Wege mehr.
Diese Verse gingen mir ins Herz und erweckten Klang und Leben wieder.
Aufgelöst und schmerzlich glühend floß mir die lang verhaltene und
betrogene Pein in Takte und Töne, von dem Liede weg fand ich den
verlorenen Faden der Oper wieder und wühlte mich nach so langer Öde
wieder tief in den fiebernden Rausch hinströmenden Ergusses bis zu der
freien Höhe des Gefühls, wo Schmerz und Wonne nicht mehr voneinander
unterschieden sind und alle Glut und Kraft der Seele sich ungeteilt in
einer einzigen steilen Flamme empordrängt.
Am Tage, an dem ich das neue Lied aufgeschrieben und Teiser gezeigt
hatte, ging ich abends durch eine Kastanienallee heimwärts, ganz von
heraufschwellender Kraft zu neuer Arbeit erfüllt. Noch sahen mich die
vergangenen Monate wie aus Maskenaugen in ihrer trostlosen Leere an.
Nun schlug mein Herz begehrlich rasch und wollte nicht mehr begreifen,
warum es seinem Leide habe entrinnen wollen. Gertruds Bild erhob sich
klar und herrlich aus dem Staube und ich sah ihm wieder unerschrocken
in die hellen Augen und öffnete mein Herz allen Schmerzen weit.
Ach, es war besser um sie zu leiden und den Stachel tiefer in die
Wunde zu drücken, als fern von ihr und fern von meinem wahren Leben
gespensterhafte Zeiten hinzudämmern! Zwischen den dunklen vollen
Wipfeln der breiten Kastanien hing schwarzblau der Himmel und war
voll von Sternen, die schwebten alle ernst und golden und strahlten
unbekümmert in die Weiten. So taten die Sterne, und die Bäume trugen
ihre Knospen und Blüten und Narben frei zur Schau, und mochte es ihnen
Lust oder Weh bedeuten, sie gaben sich dem großen Lebenswillen hin.
Die Eintagsfliegen schwärmten taumelnd dem Tod entgegen, jedes Leben
hatte seinen Glanz und seine Schönheit und ich schaute einen Augenblick
hinein und verstand es und hieß es gut, und hieß auch mein Leben und
meine Leiden gut.
Im Laufe des Herbstes wurde meine Oper fertig. In dieser Zeit begegnete
mir in einem Konzert Herr Imthor. Er begrüßte mich herzlich und etwas
verwundert, da er nichts von meinem Aufenthalt in der Stadt wußte. Er
hatte nur gehört, mein Vater sei gestorben und ich lebe seither in
meiner Heimat.
»Und wie geht es Fräulein Gertrud?« fragte ich möglichst ruhig.
»O, Sie sollten selber kommen und danach sehen. Anfang November soll
ihre Hochzeit sein, da rechnen wir ohnehin bestimmt auf Sie.«
»Danke, Herr Imthor. Und was hören Sie von Muoth?«
»Er ist wohl. Sie wissen, ich bin mit der Heirat nicht recht
einverstanden. Ich hätte Sie schon lang gerne einmal über Herrn Muoth
befragt. Soweit ich ihn kenne, darf ich nicht über ihn klagen. Aber ich
hörte so mancherlei über ihn: er soll ja viel mit Frauen zu tun gehabt
haben. Können Sie mir darüber etwas sagen?«
»Nein, Herr Imthor. Es hätte ja auch keinen Zweck. Ihre Tochter wird
auf Gerüchte hin sich schwerlich anders entschließen. Herr Muoth ist
mein Freund und ich gönne es ihm, wenn er sein Glück findet.«
»Ja, ja. Sieht man Sie bald wieder einmal bei uns?«
»Ich denke wohl. Auf Wiedersehen, Herr Imthor.«
Es war noch nicht lange her, da hätte ich alles getan, um die
Verbindung der beiden zu hindern, nicht aus Neid oder Hoffnung, Gertrud
könnte sich doch noch mir selber zuneigen, sondern weil ich überzeugt
war und vorauszufühlen meinte, daß es den beiden nicht gut gehen werde,
weil ich an Muoths selbstquälerische Art von Melancholie, an seine
Reizbarkeit und Gertruds Zartheit dachte und weil mir Marion und Lotte
noch so wohl im Gedächtnis waren.
Jetzt dachte ich anders. Eine Erschütterung meines ganzen Lebens, ein
halbes Jahr innerer Einsamkeit und das bewußte Abschiednehmen von
der Jugend hatten mich verändert. Ich war jetzt der Meinung, es sei
töricht und gefährlich, seine Hand nach anderer Menschen Schicksal
auszustrecken, auch hatte ich keine Ursache meine Hand für geschickt
und mich für einen Helfer und Menschenkenner zu halten, nachdem meine
Versuche in dieser Richtung alle mißglückt waren und mich bitter
beschämt hatten. Auch jetzt noch zweifle ich stark an der Fähigkeit
des Menschen, sein Leben und das von anderen irgend bewußt zu bilden
und zu formen. Man kann Geld erwerben, auch Ehren und Orden, aber
Glück oder Unglück erwirbt man nicht, nicht für sich und nicht für
andere. Man kann nur hinnehmen, was kommt, und man kann es freilich
auf gar verschiedene Weisen hinnehmen. Was mich anging, so wollte ich
keine gewaltsamen Versuche mehr machen, mein Leben auf die Sonnenseite
hinüber zu spielen, sondern das mir Bestimmte annehmen und nach
Vermögen tragen und zum Guten wenden.
Ist nun auch das Leben von solchen Meditationen unabhängig und geht
über sie hinweg, so hinterlassen ehrlich gemeinte Entschlüsse und
Gedanken doch einen Frieden in der Seele, und helfen das Unabänderliche
tragen. Wenigstens nahm mich, wie es mir nachträglich scheinen
will, seit meiner Ergebung und seit meiner Erkenntnis von der
Gleichgültigkeit meines persönlichen Ergehens das Leben in sanftere
Hände.
Daß das, was man mit allem Wollen und Mühen nicht erreichen kann,
manchmal unerwartet von selber kommt, erfuhr ich bald darauf an meiner
Mutter. Ich schrieb ihr jeden Monat und war seit einiger Zeit ohne
Antwort von ihr geblieben. Wäre es ihr schlecht gegangen, so hätte ich
es erfahren, darum dachte ich wenig an sie und schrieb meine Briefe
weiter, kurze Berichte über mein Ergehen, denen ich jedesmal auch
freundliche Grüße an Fräulein Schniebel beifügte.
Diese Grüße nun wurden neuerdings nicht mehr ausgerichtet. Den
beiden Frauen war es allzuwohl ergangen und sie hatten die Erfüllung
ihrer Wünsche nicht ertragen. Namentlich war dem Fräulein die gute
Zeit in die Krone gestiegen. Sie war sofort nach meinem Abgang mit
Triumph an der Stätte ihres Sieges eingezogen und hatte ihre Wohnung
in unserem Hause aufgeschlagen. Da hauste sie nun bei ihrer alten
Freundin und Cousine und empfand es als ein durch lange dürftige Jahre
wohlverdientes Glück, als Mitherrin in einem stattlichen Hauswesen
sich wärmen und brüsten zu dürfen. Nicht daß sie kostbare Gewohnheiten
angenommen und sich auf das Geuden gelegt hätte -- dazu war sie
allzulange in gedrückten Verhältnissen und halber Armut gewesen. Sie
trug weder feinere Kleider, noch schlief sie auf anderem Linnen;
vielmehr begann sie das Hausen und Sparen nun erst recht, da es sich
lohnte und etwas zum Sparen da war. Aber worauf sie nicht verzichten
wollte, das war Macht und Einfluß. Die beiden Mägde mußten ihr nicht
minder gehorchen als meiner Mutter, auch gegen Dienstleute, Handwerker,
Briefträger wußte sie herrschaftlich aufzutreten. Und allmählich, da
ja Leidenschaften nicht durch Erfüllungen zu löschen sind, dehnte sie
ihre Herrschlust auch auf Dinge aus, in denen meine Mutter weniger
bereitwillig nachgeben konnte. Sie wollte die Besuche, die meine Mutter
bekam, ebenso auf sich selbst bezogen wissen und nicht leiden, daß
jene einen empfing, ohne sie dabei zu haben. Sie wollte die Briefe,
namentlich die von mir, nicht auszugsweise mitgeteilt erhalten, sondern
selber lesen. Und schließlich entdeckte sie, daß im Hause meiner Mutter
manches gar nicht so gehalten und besorgt und regiert wurde, wie sie
es richtig fand. Vor allem schien ihr die Bewachung der Dienstboten
nicht streng genug. War eine Magd des Abends außer Hause, unterhielt
sich eine andere zu lange mit dem Briefträger, bat die Köchin um
einen freien Sonntag, so rügte sie die Nachgiebigkeit meiner Mutter
aufs Strengste und hielt ihr lange Reden über die richtige Führung
eines Hauswesens. Ferner tat es ihr bitter weh, zu sehen, wie oft und
gröblich die Regeln der Sparsamkeit verletzt wurden. Da wurden schon
wieder Kohlen ins Haus geführt, da standen zu viele Eier auf der
Abrechnung der Köchin! Sie trat mit Ernst und Eifer dagegen auf, und
hier nahm die Veruneinigung der Freundinnen ihren Anfang.
Nämlich das Bisherige hatte meine Mutter sich gerne gefallen lassen,
wenn sie auch nicht mit allem einverstanden und in manchen Dingen
von der Freundin, deren Verhältnis zu ihr sie sich anders mochte
gedacht haben, enttäuscht war. Jetzt dagegen, wo alte und ehrwürdig
gewordene Gewohnheiten des Hauses in Gefahr kamen, wo ihre tägliche
Bequemlichkeit und der Hausfriede zu leiden begann, konnte sie
ihre Einwendungen nicht zurückhalten und machte sich wehrhaft,
worin sie freilich der Freundin es nicht gleichtun konnte. Es gab
Auseinandersetzungen und kleine freundschaftliche Zankereien, und als
die Köchin den Dienst aufsagte und von meiner Mutter nur mit Mühe und
vielen Versprechungen, ja fast Abbitten gehalten werden konnte, begann
die Machtfrage im Hause zu einem wirklichen Kriege zu führen.
Das Fräulein Schniebel, stolz auf ihre Kenntnisse, ihre Erfahrungen,
ihre Sparsamkeit und wirtschaftlichen Tugenden, konnte nicht einsehen,
daß man ihr für alle diese Qualitäten keinen Dank wisse und fühlte
sich so sehr im guten Recht, daß sie mit einer Kritik der bisherigen
Wirtschaftsführung, einem Tadel für die Hausfrauenkunst meiner Mutter
und einer mitleidigen Verachtung für die Gebräuche und Eigenheiten
des ganzen Hauses nicht mehr hinterm Berge hielt. Nun berief sich die
Hausfrau auf meinen Vater, unter dessen Leitung und nach dessen Art es
so viele Jahre lang im Hause gut gegangen war. Er hatte Kleinlichkeit
und ängstliche Sparsamkeit nicht geduldet, er hatte den Dienstboten
Freiheit und Rechte gegönnt, er hatte Mägdegezänk und Verdrossenheit
gehaßt. Als aber meine Mutter sich auf ihn berief, an dem sie früher
wohl auch gelegentlich zu kritisieren gehabt hatte, der aber seit
seinem Tode ihr zum Heiligen geworden war, da konnte Fräulein Schniebel
nicht schweigen und erinnerte spitzig daran, wie sie schon längst ihre
Meinung über den Seligen gehabt und geäußert habe, und meinte, es sei
jetzt wohl an der Zeit, in dem Schlendrian einzuhalten und Vernunft
walten zu lassen. Sie habe ja aus Schonung für ihre Freundin nicht an
das Andenken des Verewigten rühren wollen; da diese aber selber sich
auf ihn beziehe, müsse sie gestehen, daß allerdings der alte Herr an
manchen Übelständen im Hause schuld sei, daß sie aber nicht einsehe,
warum das nun, da sie freie Hand hätten, weiter so bleiben solle.
Das war für meine Mutter ein Schlag ins Gesicht, den sie der Kusine
nicht vergaß. Früher war es ihr ein Bedürfnis und ein Genuß gewesen,
hie und da im Gespräch mit dieser Vertrauten etwa zu klagen und ihrem
Hausherrn einiges am Zeug zu flicken; jetzt aber ertrug sie nicht
den mindesten Schatten auf seinem verklärten Bilde und begann die
beginnende Revolution im Hause nicht nur als störend, sondern vor allem
als eine Versündigung an dem Seligen zu empfinden.
So war es gegangen, ohne daß ich davon erfuhr. Als jetzt zum erstenmal
ein Brief meiner Mutter diesen Unfrieden im Vogelkäfig andeutete, wenn
auch noch schonend und vorsichtig, machte die Sache mich lachen. Ich
ließ in meinem nächsten Schreiben die Grüße an die Jungfer weg, ging
aber nicht auf die Andeutungen ein und dachte, die Frauen möchten
besser ohne mich fertig werden. Auch kam anderes dazwischen, das mich
weit mehr beschäftigte.
Es war Oktober geworden und der Gedanke an Gertruds bevorstehende
Hochzeit ließ mich nicht mehr los. Ich hatte ihr Haus nicht wieder
besucht und sie selber nicht wieder gesehen. Nach der Hochzeit,
wenn sie fort wäre, dachte ich den Verkehr mit ihrem Vater wieder
aufzunehmen. Auch hoffte ich, es werde sich zwischen ihr und mir
mit der Zeit wieder ein gutes, vertrauliches Verhältnis herstellen,
wir waren einander schon zu nahe gewesen, um einfach das Gewesene
ausstreichen zu können. Nur jetzt hatte ich noch nicht den Mut zu einer
Begegnung, welcher sie, wie ich sie kannte, nicht ausgewichen wäre.
Da pochte es eines Tages auf eine wohlbekannte Art an meiner Türe.
Ahnungsvoll und verwirrt sprang ich auf und öffnete, und da stand
Heinrich Muoth und streckte mir die Hand entgegen.
»Muoth!« rief ich und hielt die Hand fest, und ich konnte nicht in
seine Augen sehen, ohne daß alles in mir aufwachte und wehe tat. Ich
sah wieder den Brief auf seinem Tische liegen, den Brief mit Gertruds
Handschrift, und sah mich wieder von ihr Abschied nehmen und den Tod
wählen. Da stand er nun und blickte mich forschend an. Er sah etwas
gemagert aus, doch schön und stolz wie je.
»Ich hatte dich nicht erwartet,« sagte ich leise.
»So? Daß du zu Gertrud nicht mehr gekommen bist, weiß ich schon.
Meinetwegen -- lassen wir das alles unbesprochen! Ich bin da um zu
sehen, wie du lebst und was deine Arbeit macht. Was ist denn mit der
Oper!«
»Die ist fertig. Aber zuerst: Wie geht es Gertrud?«
»Gut. Wir haben ja bald Hochzeit.«
»Ich weiß.«
»Ja. Besuchst du sie nicht bald einmal?«
»Später, doch. Ich will sehen, ob sie es auch gut bei dir hat.«
»Hm...«
»Heinrich, verzeih, aber ich muß manchmal an die Lotte denken, die du
schlecht gehalten und geschlagen hast.«
»Laß die Lotte! Es geschah ihr recht. Es bekommt kein Weib Schläge, das
keine haben will.«
»Nun ja. Also die Oper. Ich weiß noch gar nicht, wo ich sie zuerst
einreichen soll. Es müßte eine gute Bühne sein, aber ob die das Ding
nehmen wird?«
»Sie wird schon. Ich wollte darüber mit dir sprechen. Bring sie nach
München! Angenommen wird sie wahrscheinlich, man interessiert sich für
dich, und im Notfall stehe ich dafür ein. Ich möchte sehr gern, daß
kein anderer meine Rolle vor mir singt.«
Damit war mir gedient. Ich sagte gern zu und versprach, bald für
Abschriften zu sorgen. Wir besprachen Einzelheiten und sprachen
verlegen weiter, als sei es uns todeswichtig, und doch wollten wir
nichts als die Zeit hinbringen und vor der Kluft, die sich zwischen uns
aufgetan hatte, die Augen schließen.
Muoth brach den Bann zuerst.
»Du,« sagte er, »weißt du noch, wie du mich damals zu den Imthors
mitgenommen hast? Es ist ein Jahr her.«
»Ich weiß noch,« sagte ich, »und du brauchst mich nicht zu erinnern,
du. Geh lieber!«
»Nein, Freund. Also du erinnerst dich noch. Nun, wenn du damals schon
das Mädchen lieb gehabt hast, warum hast du nicht ein Wort zu mir
gesagt? Warum hast du nicht gesagt: Laß sie in Ruh, laß sie mir! Es
wäre genug gewesen, ich hätte auch eine Andeutung verstanden.«
»Das durfte ich nicht.«
»Durftest du nicht? Warum nicht? Wer hieß dich zusehen und den Mund
halten, bis es zu spät war?«
»Ich konnte ja nicht wissen, ob sie mich lieb habe. Und auch dann --
wenn du ihr lieber bist, kann ich doch nichts machen.«
»Du bist ein Kind! Sie wäre mit dir vielleicht glücklicher geworden!
Es hat doch jeder das Recht, sich eine Frau zu erobern. Und wenn du
mir gleich anfangs ein Wort gesagt hättest, einen kleinen Wink gegeben
hättest, ich wäre weggeblieben. Nachher war's natürlich zu spät.«
Mir war diese Unterredung peinlich.
»Ich denke anders darüber,« sagte ich, »und du kannst ja zufrieden
sein, nicht? Also laß mich in Ruhe! Sag ihr einen Gruß und ich würde
Euch dann in München besuchen.«
»Zur Hochzeit magst du nicht kommen?«
»Nein, Muoth, das wäre geschmacklos. Aber -- laßt Ihr Euch kirchlich
trauen?«
»Natürlich, im Münster.«
»Das ist mir lieb. Ich habe etwas für die Gelegenheit zurecht gelegt,
ein Orgelvorspiel. Keine Sorge, es ist ganz kurz.«
»Du bist ein lieber Kerl! Hol's der Teufel, daß ich mit dir so Pech
habe!«
»Ich denke, du solltest Glück sagen, Muoth.«
»Na, wir wollen nicht streiten. Ich muß jetzt gehen, es werden noch
Sachen gekauft und weiß Gott was. Die Oper schickst du bald, nicht
wahr? Schick sie an mich, dann bring ich sie unserem Alten selber. Ja,
und eh' ich Hochzeit mache, sollten wir zwei doch noch einmal einen
Abend für uns haben. Vielleicht morgen? -- Gut, auf Wiedersehen!«
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