Gertrud - 08

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mich zurück, ließ meine Besuche etwas seltener werden und vermied
intime Gespräche mit ihr. Ich wollte sie schonen und nicht noch scheuer
machen und ängstigen, da sie doch zu leiden und in sich uneins zu sein
schien. Sie merkte es, wie ich glaube, und sah meine Zurückhaltung
nicht ungern. Ich hoffte, es werde mit dem Ende des Winters und der
lebhaften Geselligkeit wieder eine stille, schöne Zeit für uns beide
kommen, bis dahin wollte ich warten. Oft aber tat mir das schöne
Mädchen bitter leid, und wider meinen Willen ward ich selber allmählich
unruhig und fühlte etwas Schlimmes in der Luft.
Der Februar kam, ich wünschte sehnlich das Frühjahr her und litt unklar
unter der Spannung dieses Zustandes. Auch Muoth ließ sich wenig bei
mir sehen, allerdings hatte er einen angestrengten Winter an der Oper
und war in der Wahl zwischen zwei ehrenvollen Berufungen an große
Theater, die ihm neuestens zugekommen waren. Eine Geliebte schien er
nicht mehr zu haben, wenigstens hatte ich seit seinem Bruch mit Lotte
keine Frau mehr bei ihm gesehen. Kürzlich hatten wir seinen Geburtstag
gefeiert, seither hatte ich ihn nicht gesehen.
Nun trieb mich ein Bedürfnis zu ihm, ich begann unter der Veränderung
meiner Beziehungen zu Gertrud, unter Überarbeitung und Wintermüdigkeit
zu leiden und suchte ihn auf, um wieder einmal zu plaudern. Er setzte
mir einen Sherry vor und erzählte von der Bühne, war übrigens müde und
zerstreut und merkwürdig milde. Ich hörte zu, schaute im Zimmer umher
und wollte eben fragen, ob er wieder bei Imthors gewesen sei. Da sah
ich, bei einem gleichgültigen Blick über den Tisch, ein Kuvert mit
Gertruds Handschrift liegen. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte,
stieg schon Schrecken und Bitterkeit in mir auf. Es konnte ja eine
Einladung, eine einfache Höflichkeit sein, doch glaubte ich daran
nicht, so gern ich es getan hätte.
Es gelang mir, ruhig zu bleiben, und bald ging ich fort. Und wider
meinen Willen wußte ich schon alles. Es konnte eine Einladung, eine
Kleinigkeit, ein Zufall sein -- ich wußte aber, daß es das nicht war.
Ich sah auf einmal alles und begriff alles, was in der letzten Zeit
gewesen und geschehen war. Wohl nahm ich mir vor, zu prüfen und zu
warten, doch waren alle diese Gedanken nur Vorwände und Ausflüchte, im
Grunde saß der Pfeil und schwärte im Blut, und als ich nach Hause kam
und in meiner Stube saß, wich langsam die Betäubung einer furchtbaren
Klarheit, die mich eisig durchfloß und mir zu fühlen gab, daß nun mein
Leben zerstört und mein Glauben und Hoffen vernichtet war.
Mehrere Tage kam ich weder zu Tränen noch zu Schmerzen. Ohne zu
denken, hatte ich beschlossen, nicht weiter zu leben. Vielmehr hatte
der Lebenswille in mir sich niedergelegt und schien verschwunden. Ich
bedachte das Sterben wie ein Geschäft, das unweigerlich getan werden
muß und bei dem man sich nicht besinnt, ob es angenehm ist oder nicht.
Zu den Dingen, die ich zuvor besorgen mußte und besorgte, gehörte vor
allem ein Besuch bei Gertrud, um -- gewissermaßen der Ordnung wegen
-- die für mein Gefühl entbehrliche Bestätigung zu holen. Ich hätte
sie von Muoth haben können; aber obwohl er weniger schuldig schien als
Gertrud, brachte ich es nicht über mich zu ihm zu gehen. Ich ging zu
Gertrud, traf sie nicht, kam anderen Tages wieder und unterhielt mich
ein paar Minuten mit ihr und ihrem Vater, bis dieser uns allein ließ,
da er glaubte, wir wollten musizieren.
Nun stand sie mir allein gegenüber und ich sah sie neugierig noch
einmal an, die leicht verwandelt, doch nicht minder schön als jemals
war.
»Verzeihen Sie mir, Gertrud,« sagte ich fest, »daß ich Sie noch einmal
quälen muß. Ich habe Ihnen im Sommer einen Brief geschrieben -- kann
ich auf den jetzt Antwort haben? Ich muß verreisen, vielleicht für
lange, sonst hätte ich gewartet, bis Sie selber...«
Da sie bleich wurde und mich verwundet ansah, half ich ihr und sprach
weiter: »Nicht wahr, Sie müssen nein sagen? Ich habe es mir gedacht.
Ich möchte nur Gewißheit haben.«
Sie nickte traurig.
»Ist es Heinrich?« fragte ich.
Und sie nickte wieder, und plötzlich erschrak sie und faßte meine Hand.
»Verzeihen Sie mir! Und tun Sie ihm nichts!«
»Das habe ich nicht im Sinn, seien Sie ruhig,« sagte ich und mußte
lächeln, denn mir fiel die Marion ein und die Lotte, die auch so
ängstlich an ihm hingen, und die er geschlagen hatte. Vielleicht würde
er auch Gertrud schlagen, und ihre ganze herrliche Hoheit und ihr
ganzes vertrauensvolles Wesen zerstören.
»Gertrud,« fing ich noch einmal an, »besinnen Sie sich noch! Nicht
meinetwegen, ich weiß schon, wie es steht! Aber Muoth wird Sie nicht
glücklich machen. Adieu, Gertrud.«
Meine Kälte und Klarheit war unerschüttert geblieben. Erst jetzt, als
Gertrud mich so anredete und jenen Ton hatte, den ich von Lotte her
kannte, und als sie mich nun ganz krank ansah und sagte: »Gehen Sie
nicht so, das verdiene ich nicht von Ihnen!«, da brach mir das Herz und
ich hatte Mühe, mich zu halten.
Ich gab ihr die Hand und sagte: »Ich will Ihnen nicht wehtun. Ich will
auch Heinrich nicht schaden. Aber warten Sie noch, lassen Sie ihm noch
nicht Gewalt über sich! Er zerstört alle, die er lieb hat.«
Sie schüttelte den Kopf und ließ meine Hand los.
»Adieu!« sagte sie leise. »Ich bin ja nicht schuld. Denken Sie gut an
mich, und auch an Heinrich!«
Es war fertig. Ich ging nach Hause zurück und fuhr fort, meine
Angelegenheit wie ein Geschäft zu besorgen. Wohl würgte mich dazwischen
das Weh und blutete mir das Herz, doch sah ich wie von ferne zu und
hatte keine Gedanken dafür frei. Es war einerlei, ob es mir in den
Tagen oder Stunden, die ich übrig hatte, wohl oder übel ging. Ich
ordnete die Mengen von Notenblättern, auf denen meine halbfertige Oper
stand, und schrieb einen Brief an Teiser dazu, damit das Werk womöglich
erhalten werde. Daneben besann ich mich angestrengt darüber, wie ich
sterben sollte. Ich hätte gern meine Eltern geschont, doch fand ich
keine Todesart aus, die das ermöglicht hätte. Schließlich lag daran
auch nicht so viel; ich beschloß es mit dem Revolver zu tun. Alle
diese Fragen tauchten nur schattenhaft und unwirklich vor mir auf.
Fest stand nur die Erkenntnis, daß ich nicht mehr leben dürfe; denn
schon empfand ich ahnend hinter der eisigen Hülle meines Entschlusses
die Schrecklichkeit des Lebens, das mir geblieben wäre. Es schaute
mich aus leeren Augen scheußlich an, und war unendlich viel häßlicher
und furchtbarer als die dunkle, ziemlich gleichgültige Vorstellung des
Sterbens.
Am zweiten Tage nach Mittag war ich mit meinen Besorgungen fertig. Ich
wollte noch einen Gang durch die Stadt machen, ich mußte der Bibliothek
noch ein paar Bücher zurückbringen. Es war mir beruhigend zu wissen,
daß ich am Abend nimmer leben werde. Ich hatte die Empfindung eines
Verunglückten, der in halber Narkose liegt und der nicht den Schmerz
selbst, wohl aber eine Vorahnung grauenhafter Qualen fühlt. Nun hofft
er nur, er möge vollends in Bewußtlosigkeit versinken, ehe der geahnte
Schmerz wirklich ausbräche. So war mir zu Mute. Ich litt weniger unter
einem wirklichen Schmerz als unter der peinigenden Furcht, ich möchte
nochmals zum Bewußtsein kommen und dann den ganzen Becher ausleeren
müssen, den der gerufene Tod mir abnehmen sollte. Darum tat ich meinen
Gang in Eile, besorgte mein Geschäft und lief stracks zurück. Einen
kleinen Umweg machte ich nur, um nicht an Gertruds Hause vorübergehen
zu müssen. Denn ich ahnte, ohne es ausdenken zu können, daß vielleicht
beim Anblick des Hauses mich die unerträgliche Qual, vor der ich auf
der Flucht war, überfallen und niederwerfen möchte.
So kam ich zum Haus, in dem ich wohnte, aufatmend zurück, öffnete das
Tor und stieg unverweilt die Treppe hinan, in der Seele erleichtert.
Wenn jetzt noch das Weh hinter mir war und die Krallen nach mir
ausstreckte, wenn jetzt irgendwo in mir der entsetzliche Schmerz zu
wühlen begänne, ich hatte nur noch Schritte und Sekunden zwischen mir
und der Befreiung.
Ein Mann in Uniform kam die Treppe herab mir entgegen. Ich wich aus
und eilte, mich an ihm vorbeizudrängen, voller Furcht, ich möchte
aufgehalten werden. Da griff er an die Mütze und nannte meinen Namen.
Taumelnd sah ich ihn an. Die Anrede, der Aufenthalt, die Erfüllung
meiner Befürchtung fuhr mir durch die Glieder und es überkam mich
plötzlich eine Todesmüdigkeit, als müsse ich niedersinken und habe
keine Hoffnung, die paar Schritte noch zu tun und mein Zimmer zu
erreichen.
Indessen starrte ich den fremden Mann gepeinigt an, und da die
Erschlaffung mich übernahm, setzte ich mich auf eine Treppenstufe
nieder. Er fragte, ob ich krank sei, ich schüttelte den Kopf. Dabei
hielt er immer etwas in der Hand, was er mir anbot und was ich nicht
nehmen wollte, bis er es mir fast mit Gewalt in die Hand drückte. Ich
winkte ab und sagte: »Ich will nicht.«
Er rief nach der Wirtin, die war nicht da. Da faßte er mich unter den
Armen, um mich hinaufzubringen, und sobald ich sah, daß kein Entrinnen
war und er mich nicht allein lassen würde, fühlte ich wieder Macht über
mich, stand auf und ging voran in mein Zimmer, wohin er mir folgte. Da
er mich, wie mir schien, mit Mißtrauen betrachtete, deutete ich auf
mein lahmes Bein und tat, als schmerze es mich, und er glaubte es. Ich
suchte meinen Geldbeutel und gab ihm eine Mark, er dankte und drückte
mir endgültig das Ding in die Hand, das ich nicht hatte annehmen wollen
und das ein Telegramm war.
Erschöpft stand ich am Tische und besann mich. Nun hatte man mich doch
aufgehalten, hatte meinen Bann durchbrochen. Was lag da? Ein Telegramm.
Von wem? Einerlei, es ging mich nichts an. Es war eine Rohheit, mir
jetzt Telegramme zu bringen. Nun hatte ich alles besorgt, und im
letzten Augenblicke schickt mir noch jemand ein Telegramm. Ich sah mich
um, ein Brief lag auch auf dem Tisch.
Den Brief steckte ich in die Tasche, er focht mich nicht an. Aber das
Telegramm quälte mich, es hatte sich in meine Gedanken eingehängt und
meine Kreise gestört. Ich saß ihm gegenüber und sah es liegen, und ich
besann mich, ob ich es lesen sollte oder nicht. Natürlich war es ein
Angriff auf meine Freiheit, daran zweifelte ich nicht. Irgend jemand
wollte versuchen, mich zu stören. Man mißgönnte mir die Flucht, man
wollte, daß ich mein Leid ausfresse und durchkoste, daß kein Biß und
kein Stich und kein Krampf mir erspart werde.
Warum mir das Telegramm so zu schaffen machte, weiß ich nicht. Lange
saß ich am Tische und wagte es nicht zu öffnen, im Gefühl, es berge
eine Macht, mich wieder zurückzuziehen und mich zum Ertragen des
Unerträglichen zu zwingen, dem ich entrinnen wollte. Als ich es
endlich doch öffnete, zitterte es mir in der Hand und ich entzifferte
nur langsam, als müsse ich aus einer ungewohnten fremden Sprache
übersetzen, den Inhalt. Der hieß: »Vater sterbend. Bitte sofort kommen.
Mama.«
Allmählich begriff ich, was es bedeute. Gestern noch hatte ich an
meine Eltern gedacht und bedauert, ihnen weh tun zu müssen, doch
war es nur eine oberflächliche Erwägung gewesen. Nun erhoben sie
Widerspruch, rissen mich zurück, machten ihr Recht geltend. Sogleich
fielen mir die Gespräche ein, die ich an Weihnachten mit meinem Vater
geführt hatte. Junge Leute, hatte er gesagt, können in ihrem Egoismus
und Unabhängigkeitsgefühl dazu kommen, eines ungestillten Wunsches
wegen das Leben wegzuwerfen; wer aber sein Leben mit anderen Leben
verbunden wisse, den könnten die eigenen Begierden nicht mehr soweit
führen. Und da hing auch ich an einem solchen Bande! Mein Vater lag
sterbend, die Mutter war allein bei ihm, sie rief mich. Sein Sterben
und ihre Not griff mir im Augenblick noch nicht ans Herz, ich glaubte
schlimmere Leiden zu kennen; aber daß es nicht angehe, ihnen jetzt
noch mein eigenes Bündel hinzuwerfen, ihre Bitte nicht zu hören, ihnen
davonzulaufen, das sah ich wohl ein.
Am Abend stand ich reisefertig auf dem Bahnhof, tat willenlos und
doch gewissenhaft das Notwendige, nahm die Karte, strich Geld ein,
das mir zurückgegeben wurde, stellte mich am Perron auf und stieg in
einen Wagen. Da setzte ich mich in die Ecke, einer langen Nachtreise
gewärtig. Ein junger Mensch stieg ein, sah sich um, grüßte und setzte
sich mir gegenüber. Er fragte etwas, ich sah ihn nur an, nichts denkend
und wünschend als daß er mich allein lassen möge. Er hustete und stand
auf, nahm seine Tasche aus gelbem Leder und suchte einen anderen Platz.
Der Zug fuhr durch die Nacht, blind in blödsinnigem Eifer, genau so
dumpf und gewissenhaft wie ich, als ob etwas zu versäumen oder etwas zu
retten wäre. Nach Stunden, als ich in die Tasche griff, fiel mir der
Brief in die Hand. Auch der ist noch da, dachte ich, und machte ihn auf.
Da schrieb mein Verleger über Konzerte und Honorare, und teilte mir
mit, es stehe gut und gehe vorwärts, ein großer Kritiker in München
habe über mich geschrieben, er gratuliere dazu. Dabei lag der
Ausschnitt aus einer Zeitschrift, ein Artikel mit meinem Namen als
Titel, und ein langes Getöne vom Stand der heutigen Musik und von
Wagner und von Brahms, und dann eine Kritik meiner Streichmusik, und
meiner Lieder, und ein reichliches Lob und Glückauf; und während ich
die kleinen schwarzen Buchstaben las, ward mir allmählich klar, daß das
mir gelte, daß da die Welt und der Ruhm mir die Hand herüberstrecke. Da
mußte ich einen Augenblick lachen.
Aber der Brief und der Artikel hatte mir die Binde vor den Augen
gelockert, und unvermutet sah ich in die Welt zurück und sah mich nicht
ausgelöscht und zurückgesunken, sondern mitten darin und dazugehörend.
Ich mußte leben, ich mußte es mir gefallen lassen. Wie war das möglich?
Ach, nun stieg alles herauf, was seit fünf Tagen war und was ich nur
dumpf gefühlt, und dem ich zu entgehen gedacht hatte, und es war alles
ekelhaft, bitter und schmählich. Es war alles ein Todesurteil, und ich
hatte es nicht vollzogen, ich mußte es unvollzogen lassen.
Ich hörte den Zug knattern, ich öffnete das Fenster und sah dunkle
Gegenden geduckt dahinstreichen, traurige kahle Bäume mit schwarzem
Geäst, und Höfe unter großen Dächern, und ferne Hügel. Das alles schien
ungern zu existieren, schien Leid und Widerwillen zu atmen. Man konnte
es schön finden, mir aber kam es nur traurig vor. Das Lied fiel mir
ein: »Hat das Gott gewollt?«
So sehr ich versuchte, die Bäume und Felder und Dächer draußen zu
betrachten, so eifrig ich auf den Takt der Räder horchte, so heftig
ich mich in Gedanken an alles klammerte, was irgend fern war und woran
sich ohne Verzweiflung denken ließ, es war nicht lange möglich. Auch
an den Vater konnte ich kaum denken, er sank hinab und mit Bäumen
und Nachtgelände zusammen in Vergessenheit, und wider meinen Willen
und mein Bemühen kehrten meine Gedanken dahin zurück, wo sie nicht
sein durften. Da lag ein Garten mit alten Bäumen, und darin ein
Haus, am Eingang Palmen und an allen Wänden alte, dunkle Gemälde,
und ich trat ein und stieg die Treppe hinan, an allen alten Bildern
vorüber, und niemand sah mich, ich ging als ein Schatten hindurch.
Da war eine schlanke Dame, die wandte mir den Rücken zu, ein Haupt
mit dunkelblondem Haar. Ich sah sie beide, sie und ihn, die sich
umschlungen hielten, und ich sah meinen Freund Heinrich Muoth lächeln,
so schwermütig und grausam, wie er es manchmal tat, als wisse er schon,
daß er auch diese Blonde mißbrauchen und mißhandeln werde, und als sei
dagegen nichts zu machen. Es war töricht und hatte keinen Sinn, daß
diesem Armen und Verderber die schönsten Frauen zufielen, und daß bei
mir alle Liebe und alles Wohlmeinen vergeblich blieb. Es war töricht
und hatte keinen Sinn, aber es war so.
Aus einer Art von Schlaf oder Bewußtlosigkeit erwachend, sah ich vor
dem Fenster Morgengrau und fahle Himmelshelle. Ich streckte erstarrte
Glieder, fühlte Nüchternheit und Bangen und sah nun die Dinge trüb und
verdrossen vor mir liegen. Zunächst war jetzt an den Vater und an die
Mutter zu denken.
Es war noch grau und morgenfrüh, da sah ich die Brücken und Häuser der
Heimatstadt sich nähern. Im Gestank und Geschrei des Bahnhofs befiel
mich Müdigkeit und Widerwillen so stark, daß ich kaum aussteigen
mochte; dann nahm ich mein leichtes Gepäck und stieg in den nächsten
Wagen, der fuhr über glatten Asphalt, und hernach über leichtgefrorene
Erde und über dröhnendes Pflaster und hielt vor dem breiten Tor unsres
Hauses, das ich nie geschlossen gesehen hatte.
Jetzt aber war es geschlossen, und als ich, verwirrt und erschrocken,
die Glocke zog, kam niemand und keine Antwort. Ich blickte am Hause
hinauf und war wie in einem unangenehmen, närrischen Traum, wo alles
verschlossen ist und man über Dächer steigen muß. Der Kutscher schaute
verwundert zu und wartete. Ich ging beklommen zu der andern Türe,
die ich nur selten und seit Jahren nie mehr durchschritten hatte.
Die war offen, und dahinter war meines Vaters Kontor, und als ich
eintrat, saßen da in grauen Röcken wie immer, still und staubig, die
Bureauherren, die standen bei meinem Eintritt auf und grüßten, denn ich
war der Erbe. Der Buchhalter Klemm, der nicht anders aussah als vor
zwanzig Jahren, machte seinen Bückling und sah mich traurig fragend an.
»Warum ist vorn geschlossen?« fragte ich.
»Es ist niemand da.«
»Wo ist denn mein Vater?«
»Im Spital, und die Gnädige auch.«
»Lebt er noch?«
»Er hat heut' morgen noch gelebt, man wartet aber -- --«
»Ja. Was ist es denn?«
»Wie? Ach so, es ist immer noch der Fuß. Er war falsch behandelt,
sagen wir alle. Auf einmal kamen Schmerzen, der Herr hat
schrecklich geschrieen. Da wurde er ins Spital gebracht. Jetzt
ist es Blutvergiftung. Um zwei Uhr dreißig haben wir Ihnen gestern
depeschiert.«
»Ja, danke. Nun lassen Sie mir schnell ein Butterbrot und ein Glas Wein
bringen, und einen Wagen, bitte.«
Man lief und flüsterte, und es wurde wieder still, dann gab mir jemand
einen Teller und ein Glas, ich aß Brot und trank Wein, ich stieg in
einen Wagen, ein Pferd schnob, und bald stand ich an der Spitalpforte,
wo Schwestern mit weißen Hauben und Wärter mit blaugestreiften
Leinenanzügen durch den Korridor liefen. Man nahm mich an der Hand und
zog mich in ein Zimmer, aufschauend sah ich meine Mutter in Tränen
nicken und in einem eisernen, niedern Bett meinen Vater liegen,
verändert und klein, und sein kurzer, grauer Bart stand sonderbar in
die Luft.
Er lebte noch, er machte die Augen auf und erkannte mich trotz des
Fiebers.
»Immer noch Musik machen?« sagte er leise, und Stimme und Blick
war ebenso gütig wie spöttisch. Er blinkte mir zu mit einer müden,
ironischen Weisheit, die nichts mehr zu sagen hat, und mir war, er
schaue mir ins Herz und sehe und wisse alles.
»Vater,« sagte ich. Aber er lächelte nur, blickte noch einmal halb
spöttisch, doch mit schon zerstreutem Blick, und schloß die Augen
wieder.
»Wie siehst du aus!« sagte die Mutter, als sie mich umarmte. »Hat es
dich so mitgenommen?«
Ich konnte nichts sagen, gleich darauf kam ein junger Arzt, und bald
hinter ihm ein alter, der Sterbende bekam Morphium und tat die klugen
Augen, die jetzt so überlegen und allwissend schauen konnten, nicht
mehr auf. Wir saßen bei ihm und sahen ihn liegen, und sahen ihn
ruhigwerden und sein Gesicht verändern, und warteten auf sein Ende.
Er lebte noch manche Stunde dahin und starb am späten Nachmittag. Ich
empfand nichts mehr, als dumpfes Leid und tiefe Müdigkeit, saß mit
heißen, trockenen Augen und schlief gegen Abend am Totenbette sitzend
ein.


Daß das Leben schwer zu leben ist, hatte ich auch früher schon zuzeiten
dunkel empfunden. Nun hatte ich neue Ursache zu grübeln. Bis heute ist
mir das Gefühl des Widerspruchs nie mehr verloren gegangen, das in
jener Erkenntnis wurzelt. Denn mein Leben ist arm und mühsam gewesen,
und scheint doch andern, und manchmal mir selber, reich und herrlich.
Mir erscheint das Menschenleben wie eine tiefe, traurige Nacht, die
nicht zu ertragen wäre, wenn nicht da und dort Blitze flammten, deren
plötzliche Helle so tröstlich und wunderbar ist, daß ihre Sekunden die
Jahre des Dunkels auslöschen und rechtfertigen können.
Das Dunkel, die trostlose Finsternis, das ist der schreckliche
Kreislauf des täglichen Lebens. Wozu steht man am Morgen auf,
ißt, trinkt, legt sich abermals wieder hin? Das Kind, der Wilde,
der gesunde, junge Mensch, das Tier leidet unter diesem Kreislauf
gleichgültiger Dinge und Tätigkeiten nicht. Wer nicht am Denken
leidet, den freut das Aufstehen am Morgen, und das Essen und Trinken,
der findet Genüge darin und will es nicht anders. Wem aber diese
Selbstverständlichkeit verloren ging, der sucht im Lauf der Tage
begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren Lebens, deren
Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt allen Gedanken
an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht. Man kann diese Augenblicke
die schöpferischen nennen, weil es scheint, daß sie das Gefühl der
Vereinigung mit dem Schöpfer bringen, weil man in ihnen alles, auch
das sonst Zufällige, als gewollt empfindet. Es ist dasselbe, was
die Mystiker die Vereinigung mit Gott nennen. Vielleicht ist es das
überhelle Licht dieser Augenblicke, das alle übrigen so finster
erscheinen läßt, vielleicht kommt es von der befreiten, zauberhaften
Leichtigkeit und Schwebewonne jener Augenblicke, daß das übrige Leben
so schwer und klebend und niederziehend empfunden wird. Ich weiß es
nicht, ich habe es im Denken und Philosophieren nicht weit gebracht.
Doch weiß ich: wenn es eine Seligkeit gibt und ein Paradies, so muß
es eine ungestörte Dauer solcher Augenblicke sein; und wenn man diese
Seligkeit durch Leid und Läuterung im Schmerz erlangen kann, so ist
kein Leid und Schmerz so groß, daß man sie fliehen sollte.
Einige Tage nach dem Begräbnis meines Vaters -- ich ging noch in
Betäubung und geistiger Erschlaffung umher -- geriet ich auf einem
ziellosen Spaziergang in eine vorstädtische Gartenstraße. Die kleinen,
hübschen Häuser weckten eine halbklare Erinnerung in mir, der ich
grübelnd nachging, bis ich Garten und Haus meines alten Lehrers
erkannte, der mich vor einigen Jahren zum Glauben der Theosophen hatte
bekehren wollen. Ich ging hinein, der Mann kam mir entgegen, erkannte
mich und führte mich freundlich in sein Zimmer, wo um Bücher und
Blumentöpfe ein leichter behaglicher Duft von Tabakrauch wehte.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Herr Lohe. »Ach, Sie haben ja Ihren Vater
verloren! Sie sehen auch bekümmert aus. Ist es Ihnen so nahe gegangen?«
»Nein,« sagte ich. »Der Tod meines Vaters hätte mir weher getan,
wenn ich ihm noch fremd gewesen wäre. Ich habe mich aber bei meinem
letzten Besuch mit ihm befreundet und bin das peinliche Schuldgefühl
losgeworden, das man gegen gute Eltern hat, solange man mehr Liebe von
ihnen nimmt, als man geben kann.«
»Das freut mich.«
»Wie steht es denn mit Ihrer Theosophie? Ich würde gern etwas von Ihnen
hören, weil es mir schlecht geht.«
»Wo fehlt es Ihnen denn?«
»An allem. Ich kann nicht leben und nicht sterben. Ich finde das Ganze
falsch und dumm.«
Herr Lohe verzog sein gutes, zufriedenes Gärtnergesicht schmerzlich.
Ich muß gestehen, eben dieses gute, etwas feistliche Gesicht hatte mich
verstimmt, auch erwartete ich keineswegs von ihm und seiner Weisheit
irgend einen Trost. Ich wollte ihn nur reden hören, seine Weisheit
als machtlos erweisen und ihn für sein Glücklichsein und seinen
optimistischen Glauben strafen. Ich war nicht freundlich gewillt, nicht
gegen ihn und gegen niemand.
Aber der Mann war durchaus nicht so selbstgefällig und in sein Dogma
verschanzt, wie ich gedacht hatte. Er sah mir liebreich ins Gesicht,
mit aufrichtigem Kummer, und schüttelte melancholisch den blonden Kopf.
»Sie sind krank, lieber Herr,« sagte er entschieden. »Vielleicht ist es
nur körperlich, dann ist bald geholfen. Dann müssen Sie aufs Land, hart
arbeiten und kein Fleisch essen. Aber ich glaube, es sitzt anderswo.
Sie sind gemütskrank.«
»Glauben Sie?«
»Ja. Sie haben eine Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden
Tag bei intelligenteren Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich
nichts davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch
Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Die
modernen Bücher sind voll davon. Es hat sich bei Ihnen die Einbildung
eingeschlichen, Sie seien vereinsamt, kein Mensch gehe Sie etwas an und
kein Mensch verstehe Sie. Ist es nicht so?«
»Ungefähr, ja,« gab ich verwundert zu.
»Sehen Sie. Für den, der die Krankheit einmal hat, genügen ein
paar Enttäuschungen, um ihn glauben zu machen, es gebe zwischen
ihm und andern Menschen überhaupt keine Beziehungen, höchstens
Mißverständnisse, und es wandle eigentlich jeder Mensch in absoluter
Einsamkeit, könne sich den andern nie recht verständlich machen und
nichts mit ihnen teilen und gemeinsam haben. Es kommt auch vor, daß
solche Kranke hochmütig werden und alle andern Gesunden, die einander
noch verstehen und lieben können, für Heerdenvieh halten. Wenn diese
Krankheit allgemein würde, müßte die Menschheit aussterben. Aber sie
ist nur in Mitteleuropa und nur in den höheren Ständen zu treffen.
Bei jungen Leuten ist sie heilbar, sie gehört sogar schon zu den
unumgänglichen Entwicklungskrankheiten der Jugend.«
Sein leicht ironisch klingender Dozententon ärgerte mich ein wenig. Da
er mich nicht lächeln und keine Miene zu meiner Verteidigung machen
sah, kehrte der kummervoll gütige Ausdruck in seinem Gesicht wieder.
»Verzeihen Sie,« sagte er freundlich. »Sie haben die Krankheit
selber, nicht die beliebte Karikatur davon. Aber es gibt wirklich ein
Heilmittel. Es ist Einbildung, daß es keine Brücke zwischen Ich und
Du gäbe, daß jeder einsam und unverstanden einhergehe. Im Gegenteil,
das, was die Menschen gemeinsam haben, ist viel mehr und wichtiger,
als was jeder einzelne für sich hat und wodurch er sich von andern
unterscheidet.«
»Das ist möglich,« sagte ich. »Aber was soll es mir nützen, das zu
wissen? Ich bin kein Philosoph, und mein Leiden besteht nicht darin,
daß ich die Wahrheit nicht finden kann. Ich möchte kein Weiser und
Denker werden, sondern einfach ein wenig zufriedener und leichter leben
können.«
»Nun, versuchen Sie es! Sie sollen keine Bücher studieren und keine
Theorien treiben. Aber an einen Arzt müssen Sie glauben, solange Sie
krank sind. Wollen Sie das tun?«
»Probieren will ich es gerne.«
»Gut. Wenn Sie nun körperlich krank wären und der Arzt würde Ihnen
raten, Bäder zu nehmen oder Medizin zu trinken oder ans Meer zu gehen,
so würden Sie vielleicht nicht begreifen, warum das oder das Mittel
helfen soll, aber Sie würden es einmal probieren und folgen. Machen
Sie es nun ebenso mit dem, was ich Ihnen rate! Lernen Sie einmal eine
Zeitlang mehr an andere, als an sich selber denken! Es ist der einzige
Weg zur Heilung.«
»Wie soll ich das aber machen? Es denkt doch jeder zuerst an sich
selber.«
»Das müssen Sie überwinden. Sie müssen zu einer gewissen
Gleichgültigkeit gegen Ihr eigenes Wohlsein kommen. Sie müssen denken
lernen: was liegt an mir! Dazu hilft nur ein Mittel: Sie müssen irgend
jemand so lieben lernen, daß sein Wohl Ihnen wichtiger ist, als Ihr
eigenes. Ich meine aber nicht, daß Sie sich verlieben sollen! Das wäre
das Gegenteil!«
»Ich verstehe. Aber bei wem soll ich das denn probieren?«
»Fangen Sie in der Nähe an, bei Freunden, bei Ihren Verwandten. Da ist
Ihre Mutter. Sie hat viel verloren, sie ist jetzt einsam und braucht
Trost. Sorgen Sie für sie, halten Sie zu ihr und versuchen Sie, ihr
etwas wert zu sein!«
»Wir verstehen einander nicht recht, meine Mutter und ich. Es wird
schwer gehen.«
»Ja, wenn Ihr guter Wille nicht weiter reicht, wird es freilich nicht
gehen! Das alte Lied vom Unverstandensein! Sie sollen nicht immer daran
denken, daß der oder der Sie nicht ganz versteht, Ihnen vielleicht
nicht ganz gerecht wird! Sie sollen selbst erst einmal versuchen,
andere zu verstehen, andern Freude zu machen, andern gerecht zu werden!
Tun Sie das, und fangen Sie bei Ihrer Mutter an! -- Sehen Sie, Sie
müssen sich vorsagen: Das Leben freut mich doch nicht, so oder so,
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