Gertrud - 07

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War ich darüber enttäuscht, so tröstete es mich zu fühlen, wie innig
sie in meiner Musik lebte, wie sie mich verstand und darüber stolz war.
Das dauerte bis zum Juni, dann reiste Gertrud mit ihrem Vater in die
Berge, ich blieb zurück, und wenn ich an ihrem Hause vorüberging, lag
es leer hinter seinen Platanen, und die Pforte war geschlossen. Da fing
die Pein wieder an, wuchs und verfolgte mich tief in die Nächte hinein.
Da kam ich abends, fast immer mit Noten in der Tasche, zu den
Teisers, nahm an ihrem heiter genügsamen Leben teil, trank von ihrem
österreichischen Wein und spielte Mozart mit ihnen. Dann ging ich durch
die milden Nächte heim, sah in den Anlagen die Liebespaare spazieren,
legte mich zu Hause müd aufs Bett und fand doch keinen Schlaf. Es
war mir jetzt unbegreiflich, wie ich so brüderlich mit Gertrud hatte
umgehen können, daß ich nie den Bann gebrochen, sie an mich gezogen
und bestürmt und erobert hatte. Ich sah sie, in ihrem hellblauen oder
grauen Kleid, munter oder ernsthaft, ich hörte ihre Stimme und begriff
nimmer, daß ich sie jemals hatte hören können, ohne in Glut und Werbung
auszubrechen. Berauscht und fiebernd stand ich auf, machte Licht und
warf mich auf die Arbeit, ließ Menschenstimmen und Instrumente werben
und flehen und drohen, wiederholte das Lied der Sehnsucht in neuen,
fiebernden Melodien. Oft aber blieb mir diese Tröstung aus, dann
lag ich glühend und wild in grimmiger Schlaflosigkeit, sagte wirr
und sinnlos ihren Namen Gertrud, Gertrud vor mich hin, warf Trost
und Hoffnung weg und gab mich verzweifelnd der grauenhaften Ohnmacht
des Begehrens hin. Ich rief Gott an und fragte ihn, warum er mich so
geschaffen, warum er mich verstümmelt und mir statt des Glückes, das
jeder Ärmste habe, nichts gegeben habe, als den grausamen Trost, in
Tönen zu wühlen und das Unerreichbare in wesenlosen Tonphantasien immer
wieder vor mein Begehren hinzumalen.
Bei Tage gelang es mir besser, meiner Leidenschaft Herr zu werden. Da
biß ich auf die Zähne, saß vom frühesten Morgen an bei der Arbeit,
erzwang Ruhe durch lange Gänge, und Ermunterung durch kalte Sturzbäder,
und abends floh ich vor den Schatten der heraufdrohenden Nacht in
die heitere Nähe der Geschwister Teiser, wo mir für Stunden Ruhe und
manchmal beinahe Behagen kam. Teiser merkte wohl, daß ich litt und
krank war, doch schrieb er es der Arbeit zu und riet mir Schonung,
obwohl er selber flammend dabei war und im Grunde meine Oper ebenso
erregt und ungeduldig wachsen sah, wie ich selbst. Manchmal holte
ich ihn auch ab, um ihn allein zu haben, und brachte den Abend mit
ihm in einem kühlen Wirtsgarten zu, wo jedoch die Liebespaare und das
Nachtblau, die Lampions und Feuerwerke und der Duft von Begehrlichkeit,
den die Sommerabende der Städter immer haben, mir nicht wohl tat.
Völlig schlimm wurde es, als auch Teiser abreiste, um mit Brigitte die
Ferien im Gebirge zu verwandern. Er lud mich zum Mitkommen ein, und
es war ihm Ernst, so sehr ich mit meiner Unbeweglichkeit ihm die Lust
zerstört hätte; aber ich konnte nicht annehmen. Zwei Wochen blieb ich
allein in der Stadt, schlaflos und aufgerieben, und die Arbeit gedieh
nicht mehr.
Da schickte mir Gertrud eine kleine Schachtel voll Alpenrosen aus einem
Dorf im Wallis, und als ich ihre Handschrift sah und die bräunlichen,
welken Blumen auspackte, fiel es wie ein Blick aus ihren lieben Augen
auf mich und ich schämte mich meiner Wildheit und meines Mißtrauens.
Ich sah ein, daß es besser sei, sie wisse von meinem Zustand, und
am nächsten Morgen schrieb ich ihr einen kurzen Brief. Da erzählte
ich halb scherzhaft, daß ich nimmer schlafen könne, und daß es vor
Sehnsucht nach ihr geschehe, und daß ich ihre Freundschaft nicht mehr
annehmen könne, da es bei mir Liebe sei. Im Schreiben überfiel es mich
wieder, und der Brief, der ruhig und fast scherzend begonnen hatte,
ward zum Schlusse heftig und heiß.
Die Post brachte beinah jeden Tag Grüße und Ansichtskarten von den
Geschwistern Teiser, die nicht ahnen konnten, daß ihre Karten und
Brieflein mir jedesmal eine Enttäuschung brachten, da ich andere Post
von anderer Hand erwartete.
Endlich kam sie doch, ein graues Kuvert mit Gertruds leichter, heiterer
Schrift, und innen ein Brief.
Lieber Freund! Ihr Brief bringt mich in Verlegenheit. Ich sehe, daß
Sie leiden und schwere Zeit haben, sonst müßte ich schelten, daß Sie
mich so überfallen. Sie wissen, wie gern ich Sie habe; aber mir ist
mein jetziger Zustand lieb, ich habe noch kein Verlangen ihn zu ändern.
Wenn ich Gefahr sähe, Sie zu verlieren, würde ich alles tun, Sie mir zu
halten. Aber auf ihren heißen Brief kann ich nicht antworten. Haben Sie
Geduld, lassen Sie es zwischen uns, wie es war, bis wir uns wiedersehen
und miteinander reden können. Dann wird alles leichter sein. In
Freundschaft Ihre Gertrud.
Damit war wenig anders geworden, und doch tat der Brief mir wohl. Es
war doch ein Gruß von ihr, sie duldete doch und ließ es geschehen, daß
ich um sie warb, sie hatte mich nicht abgewiesen. Auch brachte ihr
Brief mir etwas von ihrem Wesen mit, etwas von ihrer beinahe kühlen
Klarheit, und statt des Bildes, das meine Sehnsucht von ihr geschaffen
hatte, stand wieder sie selber vor meinen Gedanken. Ihr Blick forderte
Vertrauen von mir, ich spürte ihre Nähe und sogleich erhob sich Scham
und Stolz in mir, half mir das verzehrende Schmachten besiegen und die
brennenden Wünsche niederhalten. Nicht getröstet, doch gestärkt und
wehrhafter hielt ich mich aufrecht. Ich quartierte mich mit meiner
Arbeit im Wirtshaus eines Dorfes ein, zwei Stunden von der Stadt. Da
saß ich viel in einer schattigen, schon verblühten Fliederlaube und
dachte nach, und wunderte mich über mein Leben. Wie ging ich einsam
und fremd meinen Weg, ungewiß wohin! Und nirgends hatte ich Wurzeln
geschlagen und Heimatrecht erworben. Mit den Eltern stand ich nur in
äußerlichem Verkehr, mit höflichen Briefen; meinen Beruf hatte ich
verlassen, um gefährlichen Schöpferphantasien nachzugehen, die mich
doch nicht sättigten. Meine Freunde kannten mich nicht, Gertrud war der
einzige Mensch, mit dem ich ein volles Verstehen und eine vollkommene
Gemeinschaft hätte haben können. Und meine Arbeit, das, wofür ich doch
lebte und was meinem Leben Sinn geben sollte, wie war das ein Jagen
nach Schatten, ein Bauen von Lufthäusern! Konnte das wirklich einen
Sinn haben und eines Menschen Leben rechtfertigen und ausfüllen, das
Hintürmen von Tonreihen und erregte Spielen mit Gebilden, die im besten
Fall einmal anderen Menschen eine Stunde angenehm zubringen halfen?
Dennoch arbeitete ich wieder leidlich fleißig und kam innerlich in
diesem Sommer vollends mit der Oper zustande, wenn auch außen noch
viel fehlte und erst das Wenigste aufgeschrieben war. Manchmal kam
ich wieder in helle Freude und dachte mit Hochmut mir aus, wie mein
Werk Macht über Menschen gewinnen würde, wie Sänger und Musikanten,
Kapellmeister und Chöre Vollstrecker meines Willens sein müßten, und
wie er auf Tausende wirken werde. Zu andern Zeiten kam es mir beinahe
unheimlich und gespenstisch vor, daß alle diese Bewegungen und diese
Macht ausgehen sollten von den ohnmächtigen Träumen und Phantasien
eines armen, einsamen Menschen, den alle bemitleideten. Zuweilen verlor
ich auch den Mut und wollte finden, meine Arbeit könne unmöglich je
aufgeführt werden, es sei alles falsch und übertrieben. Doch war das
selten, im Grunde war ich vom Leben und von der Kraft meiner Arbeit
überzeugt. Sie war auch ehrlich und glühend, sie war erlebt und hatte
Blut in den Adern, und wenn ich sie auch heute nicht mehr hören mag
und ganz andere Noten schreibe, so ist doch in jener Oper meine ganze
Jugend, und wenn manche Takte daraus mir wieder begegnen, so ist es mir
nicht anders, als wehe ein lauer Frühlingssturm aus verlassenen Tälern
der Jugend und der Leidenschaft herüber. Und wenn ich denke, daß ihre
ganze Glut und Macht über die Herzen aus Schwäche und Entbehrung und
Sehnsucht geboren ist, so weiß ich nicht mehr, ob mir mein ganzes Leben
in jener Zeit, und auch noch das jetzige, lieb oder leid sein soll.
Der Sommer ging zur Neige, in einer finstern Nacht mit wilden,
leidenschaftlich schluchzenden Regengüssen schrieb ich die Ouvertüre zu
Ende, und am Morgen war der Regen kühl und mild, der Himmel glatt grau
und der Garten herbstlich geworden. Ich packte meine Sachen zusammen
und fuhr in die Stadt zurück.
Von allen meinen Bekannten war nur Teiser mit seiner Schwester schon
zurückgekehrt. Sie sahen beide bergbraun und blühend aus, hatten auf
ihren Touren erstaunlich viel erlebt und waren doch voll Teilnahme und
Spannung, zu sehen, wie es mit der Oper stehe. Wir nahmen die Ouvertüre
durch, und es war mir selber nahezu feierlich, als Teiser mir die Hand
auf die Schulter legte und zu seiner Schwester sagte: »Brigitt', schau
den an, das ist ein großer Musiker!«
Gertruds Ankunft erwartete ich trotz aller Sehnsucht und Erregung doch
mit Vertrauen. Ich konnte ihr ein schönes Stück Arbeit zeigen und
wußte, sie lebe mit und verstehe und genieße alles wie ihr Eigenes.
Am meisten war ich auf Heinrich Muoth gespannt, dessen Hilfe mir
unentbehrlich war und von dem ich seit Monaten kein Wort gehört hatte.
Endlich erschien er, noch vor Gertruds Rückkehr, und trat eines Morgens
in mein Zimmer. Lange sah er mir ins Gesicht.
»Sie sehen scheußlich aus,« sagte er kopfschüttelnd. »Na, wenn man
solche Sachen schreibt!«
»Haben Sie die Rolle angesehen?«
»Angesehen? Ich kann sie auswendig und werde sie singen, sobald Sie
wollen. Das ist ja eine verfluchte Musik!«
»Meinen Sie?«
»Sie werden sehen. Jetzt haben Sie Ihre schönste Zeit gehabt, warten
Sie nur! Mit der Dachkammerberühmtheit ist es vorbei, sobald die Oper
gespielt wird. Nun, das ist Ihre Sache. Wann wollen wir singen? Ein
paar Anmerkungen hätte ich immerhin zu machen. Wie weit sind Sie mit
dem Ganzen?«
Ich zeigte ihm, was zu zeigen war, und er nahm mich gleich mit in
seine Wohnung. Da hörte ich ihn zum erstenmal diese Rolle singen, bei
der ich durch meine eigene Leidenschaft hindurch immer an ihn gedacht
hatte, und fühlte die Macht meiner Musik und seiner Stimme. Erst
jetzt konnte ich in Gedanken das Ganze auf der Bühne vor mir sehen,
erst jetzt schlug meine eigene Flamme mir entgegen und ließ mich ihre
Wärme fühlen, gehörte nimmer mir und war nimmer mein Werk, sondern
hatte eignes Leben und wirkte als eine fremde Macht auf mich. Zum
erstenmal fühlte ich diese Loslösung eines Werkes vom Schöpfer, an die
ich bis dahin nicht recht geglaubt hatte. Mein Werk begann dazustehen
und sich zu regen und Leben zu zeigen, eben noch hatte ich es in der
Hand gehabt, und schon jetzt war es nimmer mein, war es wie ein Kind
dem Vater entwachsen, lebte und übte Macht auf eigne Faust, sah mich
aus fremden Augen selbständig an und trug doch meinen Namen und mein
Zeichen an der Stirn geschrieben. Dieselbe zwiespältige, ja manchmal
erschreckende Empfindung habe ich später bei den Aufführungen gehabt.
Muoth hatte die Rolle gut geübt, und was er geändert zu sehen begehrte,
konnte ich ihm wohl zugestehen. Nun fragte er neugierig nach der
Sopranrolle, die er nur halb kannte, und wollte wissen, ob sie mir
schon von einer Sängerin durchgesungen worden sei. Ich mußte ihm nun,
zum erstenmal, von Gertrud sprechen, und es gelang mir, es ruhig und
unauffällig zu tun. Dem Namen nach kannte er sie wohl, hatte aber nie
im Hause Imthor verkehrt und war erstaunt, zu hören, daß Gertrud die
Rolle studiert habe und singen könne.
»Dann muß sie eine gute Stimme haben,« meinte er anerkennend, »sehr
hoch und leicht. Wollen Sie mich dort einmal einführen?«
»Ich hätte ohnehin darum gebeten. Ich möchte Sie ein paarmal mit
Fräulein Imthor singen hören, es werden Korrekturen nötig sein. Sobald
die Herrschaften wieder in der Stadt sind, will ich sie darum bitten.«
»Eigentlich sind Sie doch ein Glückspilz, Kuhn. Und für die
Orchestermusik haben Sie den Teiser als Helfer. Sie werden sehen, das
Stück schlägt ein.«
Ich sagte nichts, ich hatte für später und für das Schicksal meiner
Oper noch keine Gedanken frei, erst mußte sie fertig sein. Doch seit
ich ihn hatte singen hören, glaubte auch ich an die Kraft meiner Arbeit.
Teiser, dem ich davon erzählte, sagte grimmig: »Ich glaub's schon. Der
Muoth hat ja eine Heidenkraft. Wenn er nur nicht so ein Pfuscher wär'.
Dem ist es nie um die Musik zu tun, immer nur um sich selber. Er ist
ein Draufgänger, überall.«
An dem Tage, da ich durch den herbstlichen Garten beim schon sachte
beginnenden Blätterfall das Imthorsche Haus aufsuchte, um die endlich
zurückgekehrte Gertrud zu besuchen, schlug mir das Herz beklommen.
Sie aber, schöner und aufrechter und ein wenig bräunlich geworden,
kam mir lächelnd entgegen, gab mir die Hand und tat mit ihrer lieben
Stimme und ihrem hellen Blick und ihrer ganzen noblen, freien Art mir
sogleich wieder den alten Zauber an, daß ich beglückt meine Sorgen und
Begierden beiseite tat und froh war, wieder in ihrer heilenden Nähe zu
sein. Sie ließ mich gewähren, und da ich den Weg nicht fand, auf meinen
Brief und mein Anliegen zu reden zu kommen, schwieg auch sie von alle
dem und gab mit keiner Gebärde kund, daß unsere Kameradschaft getrübt
oder gefährdet sei. Sie suchte nicht sich mir zu entziehen, sie war
wieder häufig mit mir allein, indem sie darauf vertraute, ich werde
ihren Willen achten und meine Werbung nicht wiederholen, ehe sie selbst
mich dazu ermuntere. Wir nahmen unverweilt alles durch, was ich in
diesen Monaten gearbeitet hatte, und ich erzählte ihr, daß Muoth seine
Rolle habe und lobe. Ich bat um Erlaubnis, ihn mitzubringen, da es mir
unentbehrlich war, beide Hauptrollen mit ihnen gemeinsam durchzunehmen,
und sie gab ihre Einwilligung.
»Sehr gern tue ich's nicht,« sagte sie, »das wissen Sie ja. Ich
singe sonst nie vor Fremden, und vor Herrn Muoth ist es mir doppelt
peinlich. Nicht nur, weil er ein berühmter Sänger ist. Er hat etwas,
was ich fürchte, wenigstens auf der Bühne. Nun, wir werden sehen, es
wird doch gehen.«
Ich wagte nicht, meinen Freund in Schutz zu nehmen und zu rühmen, um
sie nicht noch scheuer zu machen. Ich war überzeugt, sie würde nach dem
ersten Versuch gern mit ihm weiter singen.
Einige Tage später kam ich mit Muoth in einem Wagen gefahren, wir
wurden erwartet und vom Hausherrn empfangen, der von großer Höflichkeit
und Kühle war. Gegen meine häufigen Besuche und meine Vertrautheit
mit Gertrud hatte er nicht das mindeste, er würde gelacht haben,
wenn jemand ihn darauf gewiesen hätte. Aber daß nun Muoth dazu kam,
gefiel ihm wenig. Dieser war sehr elegant und korrekt, und die Imthors
schienen beide angenehm von ihm enttäuscht zu sein. Der als gewalttätig
und hochmütig verschrieene Sänger konnte vortreffliche Manieren zeigen,
auch war er nicht eitel und im Gespräch bestimmt, doch bescheiden.
»Wollen wir singen?« fragte Gertrud nach einiger Weile, und wir
standen auf, um ins Musikzimmer hinüber zu gehen. Ich setzte mich an
den Flügel, skizzierte Vorspiel und Szene, gab Erklärungen und bat
schließlich Gertrud zu beginnen. Sie tat es unfrei und vorsichtig,
mit halber Stimme. Muoth dagegen, als an ihn die Reihe kam, sang ohne
Zögern und Schonung mit voller Stimme, riß uns beide mit und brachte
uns schnell mitten hinein, so daß auch Gertrud nun sich hergab. Muoth,
der in guten Häusern die Damen sehr gemessen zu behandeln pflegte,
ward erst jetzt auf sie aufmerksam, folgte ihrem Gesang mit Teilnahme
und sprach ihr in herzlichen, nicht übertreibenden, kollegialen Worten
seine Bewunderung aus.
Von da an war alle Befangenheit verschwunden, die Musik befreundete
uns und machte uns einmütig. Und mein Werk, das immer noch in schlecht
verbundenen Stücken halbtot dalag, wuchs mir immer mehr und inniger
zusammen. Ich wußte jetzt, daß die Hauptsache daran getan und nichts
wesentliches mehr daran zu verderben war, und es schien mir gut. Ich
verbarg meine Freude nicht und dankte meinen beiden Freunden mit
Bewegung. Festlich froh gingen wir aus dem Hause, und Heinrich Muoth
führte mich zu einem improvisierten Festmahl in sein Gasthaus. Da tat
er beim Champagner, was er nie hatte tun wollen, er nannte mich Du und
blieb dabei, und ich freute mich und ließ es gelten.
»Da sind wir vergnügt und feiern«, lachte er, »und eigentlich haben
wir recht, daß wir's im voraus tun, da ist es am schönsten. Nachher
sieht es anders aus. Du läufst jetzt in den Theaterglanz hinein, Junge,
und wir wollen darauf anstoßen, daß er dich nicht kaput macht wie die
meisten.«
Noch eine Zeitlang behielt Gertrud ihre Scheu vor Muoth und ward ihm
gegenüber nur beim Singen frei und harmlos. Er war sehr zurückhaltend
und rücksichtsvoll, und allmählich sah ihn Gertrud gerne kommen und
lud ihn, gerade wie mich, jedesmal mit unbefangener Freundlichkeit zum
Wiederkommen ein. Die Stunden, in denen wir drei allein zusammen waren,
wurden selten. Die Rollen waren durchgesungen und durchbesprochen, auch
hatte bei Imthors die winterliche Geselligkeit mit den regelmäßigen
Musikabenden wieder begonnen, an denen nun auch Muoth häufig erschien,
doch ohne dabei mitzuwirken.
Manchmal meinte ich wahrzunehmen, daß Gertrud mir fremder zu werden
anfange, daß sie sich etwas von mir zurückziehe; doch strafte ich mich
für solche Gedanken stets und schämte mich meines Mißtrauens. Ich sah
Gertrud als Dame eines geselligen Hauses sehr in Anspruch genommen und
hatte oft meine Freude daran, sie inmitten der Gäste so schlank und
fürstlich und doch anmutig gehen und walten zu sehen.
Für mich vergingen die Wochen schnell. Ich saß an der Arbeit, die ich
während des Winters möglichst zu vollenden dachte, hatte Zusammenkünfte
mit Teiser, Abende bei ihm und seiner Schwester, dazu allerlei
Briefwechsel und Erlebnisse, denn es wurden da und dort meine Lieder
gesungen und in Berlin alles, was ich für Streichmusik komponiert
hatte, aufgeführt. Es kamen Anfragen und Zeitungskritiken, und
plötzlich schien auch schon jedermann zu wissen, daß ich an einer Oper
arbeite, obwohl ich selber außer Gertrud, den Teisers und Muoth niemand
ein Wort davon gesagt hatte. Nun, jetzt war es einerlei, und im Grunde
freuten mich diese Zeichen des Erfolges, es schien nun endlich und doch
früh genug ein offener Weg vor mir zu liegen.
Zu Hause bei den Eltern war ich ein ganzes Jahr nimmer gewesen. Nun
fuhr ich zu Weihnachten hin. Ich fand die Mutter liebevoll, doch in
der alten Befangenheit, die zwischen uns bestand, und die bei mir
eine Furcht vor Nichtverstandenwerden, bei ihr ein Unglaube an meinen
Künstlerberuf und ein Mißtrauen gegen die Ernsthaftigkeit meiner
Bestrebungen war. Nun sprach sie lebhaft von dem, was sie über mich
gehört und gelesen hatte, doch mehr um mir damit eine Freude zu machen
als aus Überzeugung, denn im Grunde mißtraute sie diesen scheinbaren
Erfolgen ebenso wie meiner ganzen Kunst. Sie war nicht ohne Freude an
Musik, hatte früher auch etwas gesungen, doch war immerhin ein Musikant
in ihren Augen etwas Armseliges, auch konnte sie meine Musik, von der
sie einiges gehört hatte, nicht verstehen oder billigen.
Der Vater hatte mehr Glauben. Als Kaufmann dachte er vor allem an mein
äußeres Fortkommen, und obwohl er mich stets ohne Murren reichlich
unterstützt und seit meinem Austritt aus dem Orchester sogar meinen
ganzen Unterhalt wieder bestritten hatte, sah er es doch gerne, daß ich
zu verdienen begann und Aussicht hatte, einmal vom eigenen Erwerb leben
zu können, was er auch bei vorhandenem Reichtum für die notwendige
Grundlage einer ehrenhaften Existenz ansah. Übrigens fand ich ihn im
Bett liegend, er war gerade am Tage vor meiner Ankunft gefallen und
hatte sich am Fuß verletzt.
Ich traf ihn geneigt zu leicht philosophierenden Gesprächen, kam ihm
näher als je und hatte meine Freude an seiner bewährten praktischen
Lebensweisheit. Ich konnte ihm manche meiner Leiden klagen, was ich
früher aus Scham nie getan hatte. Dabei fiel ein Ausspruch Muoths mir
ein, den ich meinem Vater wiederholte. Muoth hatte einmal gesagt,
allerdings nicht im Ernste, er halte die Jugend für die schwerste
Zeit im Leben und finde, alte Leute seien meistens viel heiterer
und zufriedener als junge. Mein Vater lachte dazu und meinte dann
nachdenklich: »Wir Alten sagen natürlich das Gegenteil. Aber dein
Freund hat doch etwas von der Wahrheit gefühlt. Ich glaube, man kann
im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die
Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für
andere. Ich meine es so: junge Leute haben viel Genuß und viel Leiden
von ihrem Leben, weil sie es nur für sich allein leben. Da ist jeder
Wunsch und Einfall wichtig, da wird jede Freude ausgekostet, aber auch
jedes Leid, und mancher, der seine Wünsche nicht erfüllbar sieht,
wirft gleich das ganze Leben weg. Das ist jugendlich. Für die meisten
Menschen aber kommt eine Zeit, wo das anders wird, wo sie mehr für
andere leben, keineswegs aus Tugend, sondern ganz natürlich. Bei den
meisten bringt es die Familie. Man denkt weniger an sich selber und
seine Wünsche, wenn man Kinder hat. Andere verlieren den Egoismus an
ein Amt, an die Politik, an die Kunst oder Wissenschaft. Die Jugend
will spielen, das Alter arbeiten. Es heiratet keiner, damit er Kinder
kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich
sieht er, daß alles doch nur für sie geschehen ist. Das hängt damit
zusammen, daß die Jugend zwar gern vom Tode redet, aber doch nie an ihn
denkt. Bei den Alten ist es umgekehrt. Die Jungen glauben ewig zu leben
und können darum alle Wünsche und Gedanken auf sich selber stellen. Die
Alten haben schon gemerkt, daß irgendwo ein Ende ist und daß alles, was
einer für sich allein hat und tut, am Ende in ein Loch fällt und für
nichts war. Darum braucht er eine andere Ewigkeit und den Glauben, er
arbeite nicht blos für die Würmer. Dafür sind Frau und Kind, Geschäft
und Amt und Vaterland, damit man wisse, für wen denn das tägliche
Schinden und Plagen geschehe. Und darin hat dein Freund ganz recht:
man ist zufriedener, wenn man für andere, als wenn man für sich allein
lebt. Nur sollten die Alten nicht gar so sehr ein Heldentum draus
machen, was es nicht ist. Auch werden aus den eifrigsten Jungen die
besten Alten und nicht aus denen, die schon auf Schulen wie Großväter
tun.«
Ich blieb eine Woche zu Hause und saß viel am Bett meines Vaters, der
kein geduldiger Kranker und freilich außer der kleinen Verletzung
am Fuß bei bester Kraft und Gesundheit war. Ich gestand ihm mein
Bedauern darüber, daß ich ihm nicht schon früher gerecht geworden und
nahegekommen sei, doch meinte er, das sei gegenseitig, und es werde
unsrer künftigen Freundschaft besser bekommen, als wenn wir vorzeitige
Versuche des Verstehens aneinander gemacht hätten, welche selten
gelängen. Vorsichtig und freundlich erkundigte er sich danach, wie es
mir mit den Frauen gegangen sei. Von Gertrud mochte ich nichts sagen,
meine übrige Beichte war sehr einfach.
»Tröste dich!« sagte mein Vater lächelnd. »Du hast das Zeug zu einem
recht guten Ehemann, das merken gescheite Frauen bald. Nur einer ganz
armen darfst du nicht glauben, die könnte dein Geld meinen. Und wenn du
die nicht findest, die du dir denkst und gern hättest, so ist auch noch
nicht alles verloren. Die Liebe zwischen jungen Leuten und die in einer
langen Ehe ist nicht dieselbe. In der Jugend denkt jedes an sich und
sorgt für sich. Aber wenn einmal ein Hausstand da ist, gibt es anderes
zu sorgen. Mir ist es auch so gegangen, du darfst es wohl wissen. Ich
war in deine Mama sehr verliebt, und es war eine rechte Liebesheirat.
Das dauerte aber nur ein Jahr oder zwei, dann hörte die Verliebtheit
auf und war bald bis auf den letzten Rest verbraucht, und wir standen
da und wußten nicht recht, was miteinander anfangen. Da kamen gerade
die Kinder, deine beiden älteren Geschwister, die ja früh gestorben
sind, und wir hatten für die zu sorgen. Darüber wurden unsere Ansprüche
aneinander kleiner, die Fremdheit hörte wieder auf, und auf einmal war
die Liebe wieder da, freilich nicht die alte, sondern eine ganz andere.
Und die hat seither gehalten, ohne viel Flicken zu brauchen, mehr als
dreißig Jahre. Es geht nicht allen Liebesheiraten so gut, sogar sehr
wenigen.«
Mir war nun allerdings mit diesen Anschauungen nicht gedient, doch
tat das neue, freundschaftliche Verhältnis zu meinem Vater mir wohl
und machte mir die Heimat wieder lieb, die mir in den letzten Jahren
beinahe gleichgültig geworden war. Als ich wieder abreiste, bereute ich
den Besuch nicht und beschloß, künftig in besserer Verbindung mit den
Alten zu bleiben.
Arbeit und Reisen zur Aufführung meiner Streichmusik hielten mich eine
Weile vom Besuch des Imthorschen Hauses ab. Als ich wiederkam, fand
ich Muoth, der früher nur in meiner Begleitung hingegangen war, dort
unter den meistgeladenen Gästen. Der alte Imthor trat ihm noch immer
kühl und leicht ablehnend gegenüber, Gertrud aber schien gut Freund
mit ihm geworden zu sein. Mir war das lieb, ich wußte keinen Grund
zur Eifersucht und war überzeugt, daß zwei so ungleiche Menschen wie
Muoth und Gertrud wohl einander interessieren und anziehen, nicht
aber befriedigen und lieben könnten. So sah ich es ohne Mißtrauen,
wenn er mit ihr sang und sie beide ihre schönen Stimmen vermischten.
Sie sahen gut aus, beide große, hohe, aufrechte Menschen, er dunkel
und ernst, sie hell und heiter. Neuerdings kam es mir allerdings
zuweilen vor, als habe ihre alte angeborene Heiterkeit einige Mühe,
sich zu behaupten, und sei manchmal müde und verschattet. Sie sah mich
nicht selten ernsthaft und prüfend an, mit einer Neugierde und einem
Interesse, wie bedrückte und geängstigte Menschen einander ansehen; und
wenn ich ihr dann zunickte und mit einem fröhlichen Blick antwortete,
spannte sie die Züge so langsam und angestrengt zum Lächeln, daß es mir
weh tat.
Doch machte ich solche Beobachtungen nur ganz selten, zu anderen
Zeiten sah Gertrud so heiter und strahlend aus wie je, so daß ich
jene Beobachtungen für Einbildungen hielt oder einem vorübergehenden
Unwohlsein zuschrieb. Nur einmal war ich ernstlich erschrocken. Sie
saß, während einer der Hausfreunde Beethoven spielte, im Halbdunkel
zurückgelehnt und mußte glauben, ganz unbeobachtet zu sein. Vorher,
beim hellen Licht zwischen den Gästen beim Empfang, war sie immer
klar und heiter anzusehen gewesen. Nun aber, in sich zurückgezogen
und offenbar von der Musik unberührt, ließ sie ihr Gesicht gehen und
bekam einen Ausdruck von Müdigkeit, Angst und Scheu wie ein verhetztes,
ratlos gewordenes Kind. Es dauerte mehrere Minuten, und als ich das
sah, wollte mir das Herz stillstehen. Sie litt und hatte Kummer, schon
das war schlimm, und daß sie auch vor mir die Fröhliche spielte und
auch mir alles verbarg, machte mich ängstlich. Sobald das Spiel zu Ende
war, suchte ich ihre Nähe, setzte mich zu ihr und fing ein harmloses
Gespräch an. Ich sprach davon, daß es für sie ein unruhiger Winter sei,
und daß auch ich dabei entbehre, doch sagte ich alles leichthin in
scherzendem Tone. Schließlich erinnerte ich an die Zeit im Frühjahr,
da wir die Anfänge meiner Oper miteinander gespielt und gesungen und
besprochen hatten.
Da sagte sie: »Ja, das ist eine schöne Zeit gewesen.« Mehr nicht,
aber es war doch ein Geständnis, denn sie sagte es mit ungewollter
Ernsthaftigkeit. Ich aber las daraus Hoffnung für mich und war ihr im
Herzen dankbar.
Gar gerne hätte ich ihr meine Frage vom Sommer wiederholt. Die
Veränderung in ihrem Wesen, die Befangenheit und unsichere Scheu,
die sie gerade vor mir zuweilen zeigte, glaubte ich doch bei aller
Bescheidenheit als günstige Anzeichen für mich hinnehmen zu dürfen. Es
war mir rührend zu sehen, wie ihr Mädchenstolz krank zu liegen und sich
hart zu wehren schien. Doch wagte ich nichts zu sagen, sie tat mir
leid in ihrer Unsicherheit, und mein stilles Versprechen glaubte ich
auch halten zu müssen. Ich habe nie gewußt mit Frauen umzugehen; ich
machte den umgekehrten Fehler wie Heinrich Muoth: ich ging mit Frauen
um wie mit Freunden.
Da ich auf die Dauer meine Wahrnehmungen nicht für Täuschungen halten
konnte und Gertruds veränderte Art doch nur halb verstand, hielt ich
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