Gertrud - 06

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scheuen, begehrlichen und unsicheren Gefühl. Nun war statt der
Verliebtheit die Liebe gekommen und mir schien, es sei ein feiner
grauer Schleier von meinen Augen gefallen und die Welt liege für mich
im ursprünglich göttlichen Lichte da, wie sie vor Kindern, und wie sie
vor den Augen unsrer Paradiesträume liegt.
Gertrud war damals kaum über zwanzig Jahre alt, schlank und gesund wie
ein junger feiner Baum, und war aus dem Kram und Schwindel des üblichen
Jungmädchentums unberührt hervorgegangen, ihrem eigenen noblen Wesen
folgend wie eine sicher schreitende Melodie. Mir war im Herzen wohl,
daß ich ein solches Geschöpf in der unvollkommenen Welt lebendig wußte,
und ich konnte nicht daran denken, sie etwa einzufangen und für mich
allein wegzunehmen. Ich war froh, an ihrer schönen Jugend ein wenig
teilhaben zu dürfen und mich von Anfang an unter ihren guten Freunden
zu wissen.
In der Nacht nach diesem Abend schlief ich lange nicht ein. Es plagte
mich aber kein Fieber und keine Unruhe, sondern ich wachte und suchte
den Schlaf nicht, weil ich meinen Frühling gekommen und mein Herz
nach langen, sehnlichen Irrfahrten und Winterzeiten auf dem rechten
Wege wußte. In meine Stube floß blasser Nachtschimmer; alle Ziele des
Lebens und der Kunst lagen klar und nahe, wie föhnhelle Höhen, ich
spürte den oft so ganz verlorenen Klang und geheimen Takt meines
Lebens lückenlos, bis in die sagenhaften Kinderjahre zurück. Und wenn
ich diese traumhafte Klarheit und gedrängte Fülle des Gefühls halten
und verdichten und mit Namen nennen wollte, so nannte ich den Namen
Gertrud. Mit ihm schlief ich ein, schon gegen den Morgen, und stand
beim Tagen frisch und erquickt wieder auf, wie nach einem langen,
langen Schlaf.
Da fielen die mißmutigen Gedanken der letzten Zeit, und auch die
hochmütigen, mir ein und ich sah, woran es mir gefehlt hatte. Heute
quälte und verstimmte und ärgerte mich nichts mehr, ich hatte wieder
die große Harmonie im Ohr und träumte wieder meinen Jugendtraum vom
Zusammenklang der Sphären. Ich tat wieder meine Schritte und Gedanken
und Atemzüge nach einer geheimen Melodie, das Leben hatte wieder einen
Sinn und die Ferne war morgengolden. Niemand bemerkte die Veränderung,
es stand mir keiner nah genug. Nur Teiser, das Kind, stieß mich bei
der Probe im Theater lustig an und sagte: »Sie haben gut geschlafen
heut nacht, gelt?« Ich besann mich, womit ich ihn erfreuen könnte, und
fragte in der nächsten Pause: »Teiser, wo gehen Sie diesen Sommer hin?«
Da lachte er verschämt und wurde rot wie eine Braut, die man nach dem
Hochzeitstage fragt, und meinte: »Lieber Gott, bis dahin ist's noch
lang! Aber schauen Sie, da drin hab ich schon die Karten.« Er schlug
auf seine Brusttasche. »Diesmal gehts vom Bodensee aus: Rheintal,
Fürstentum Liechtenstein, Chur, Albula, Oberengadin, Maloja, Bergell,
Comersee. Den Rückweg weiß ich noch nicht.«
Er hob die Geige wieder und blitzte mich noch schnell mit List und
Wonne aus seinen graublauen Kinderaugen an, die nie etwas vom Schmutz
und vom Leid der Welt gesehen zu haben schienen. Und ich fühlte
mich ihm verbrüdert, und wie er sich auf seine große, wochenlange
Fußwanderung freute, auf die Freiheit und den sorglosen Umgang mit
Sonne, Luft und Erde, so freute ich mich von neuem auf alle Wege meines
Lebens, die wie in einer jungen nagelneuen Sonne vor mir lagen und die
ich aufrecht mit hellen Augen und reinem Herzen zu gehen gesonnen war.
Heute, wenn ich dahin zurückdenke, liegt es alles schon ferngeworden
und weit auf der Morgenseite, aber etwas vom damaligen Licht ist noch
jetzt auf meinen Wegen, wennschon es nimmer so jung und lachend glänzt,
und heut wie damals ist es mein Trost und tut es mir in bedrückten
Stunden wohl und nimmt den Staub von meiner Seele, wenn ich mir den
Namen Gertrud vorsage und an sie denke, wie sie damals mir im Musiksaal
ihres Alten entgegenkam, leicht wie ein Vogel und zutraulich wie ein
Freund.
Nun ging ich auch wieder zu Muoth, den ich seit jener peinlichen
Beichte der schönen Lotte möglichst vermieden hatte. Er hatte es
bemerkt und war, wie ich wußte, zu stolz und auch zu gleichgültig,
sich um mich zu bemühen. So waren wir seit Monaten nicht mehr allein
beisammen gewesen. Jetzt, da ich voll neuen Vertrauens zum Leben und
voll guter Absichten war, schien es mir vor allem notwendig, mich dem
vernachlässigten Freund wieder zu nähern. Den Anlaß dazu gab mir ein
neues Lied, das ich gesetzt hatte; ich beschloß, es ihm zu widmen. Es
war dem Lawinenlied ähnlich, das er gern hatte, und der Text hieß:
Ich habe meine Kerzen ausgelöscht;
Zum offenen Fenster strömt die Nacht herein,
Umarmt mich sanft und läßt mich ihren Freund
Und ihren Bruder sein.
Wir beide sind am selben Heimweh krank;
Wir senden ahnungsvolle Träume aus
Und reden flüsternd von der alten Zeit
In unsres Vaters Haus.
Ich machte eine saubere Abschrift und schrieb darüber: »Meinem Freunde
Heinrich Muoth gewidmet.«
Damit ging ich zu ihm, zu einer Zeit, wo ich ihn sicher zu Hause wußte.
Richtig klang mir sein Singen entgegen, er schritt in den stattlichen
Zimmern seiner Wohnung auf und ab und übte. Er empfing mich gelassen.
»Schau, der Herr Kuhn! Ich dachte schon, Sie kämen gar nimmer.«
»Doch,« sagte ich, »da bin ich. Wie gehts?«
»Immer gleich. Nett, daß Sie sich wieder einmal zu mir wagen.«
»Ja, ich war in der letzten Zeit untreu....«
»Sogar sehr deutlich. Ich weiß auch warum.«
»Das glaube ich kaum.«
»Ich weiß es. Die Lotte ist einmal bei Ihnen gewesen, nicht?«
»Ja, ich wollte nicht davon reden.«
»Ist auch nicht nötig. Also da sind Sie wieder.«
»Und habe etwas mitgebracht.«
Ich gab ihm die Noten.
»O, ein neues Lied! Das ist recht, ich hatte schon Angst für Sie, Sie
möchten in der langweiligen Streichmusik stecken bleiben. Und da steht
ja eine Widmung! Für mich? Ist es Ihr Ernst?«
Ich wunderte mich, daß es ihn so zu freuen schien, ich hatte eher einen
Scherz über die Dedikation erwartet.
»Gewiß freut mich das,« sagte er aufrichtig. »Es freut mich immer, wenn
anständige Menschen mich gelten lassen, und bei Ihnen besonders. Ich
hatte Sie im Stillen schon auf die Totenliste gesetzt.«
»Führen Sie solche Listen?«
»O ja, wenn man so viele Freunde hat, oder gehabt hat, wie ich... Es
gäbe einen schönen Katalog. Die moralischen habe ich immer am höchsten
geschätzt, und g'rade die kneifen mir alle aus. Unter Lumpen findet
man jeden Tag Freunde, aber unter Idealisten und Normalbürgern hält es
schwer, wenn man anrüchig ist. Sie sind zurzeit beinah der einzige. Und
wie es geht -- was man am schwersten haben kann, hat man am liebsten.
Geht es Ihnen nicht auch so? Mir ist immer nur an Freunden gelegen,
statt dessen laufen mir bloß Weiber zu.«
»Daran sind Sie zum Teil selber schuld, Herr Muoth.«
»Warum denn?«
»Sie behandeln alle Leute gern so wie Sie die Weiber behandeln. Bei
Freunden geht das nicht, darum laufen sie Ihnen draus. Sie sind ein
Egoist.«
»Gott sei Dank, bin ich das. Übrigens Sie nicht minder. Als die
furchtbare Lotte Ihnen ihr Leid klagte, da haben Sie ihr keineswegs
geholfen. Sie haben auch nicht den Anlaß benützt, mich zu bekehren,
wofür ich dankbar bin. Sie haben vor der Affäre ein Grausen gespürt und
sind weggeblieben.«
»Nun, da bin ich wieder. Sie haben recht, ich hätte mich der Lotte
annehmen sollen. Aber ich verstehe mich auf diese Sachen nicht. Sie hat
mich selber ausgelacht und mir gesagt, von der Liebe verstünde ich gar
nichts.«
»Nun, dann halten Sie sich brav an die Freundschaft! Es ist auch ein
schönes Feld. Und jetzt sitzen Sie her und spielen Sie die Begleitung,
wir wollen das Lied einmal studieren. Ach, wissen Sie noch, Ihr erstes
damals? Sie sind ja allmählich ein berühmter Herr, scheint mir.«
»Es geht an, neben Ihnen jedenfalls komme ich nie auf.«
»Dummes Zeug. Sie sind ein Komponist, ein Schöpfer, ein kleiner
Herrgott. Was geht Sie der Ruhm an? Unsereiner muß pressieren, wenn
er zu etwas kommen will. Wir Sänger und Seiltänzer haben es wie die
Weiber, wir müssen das Fell zu Markt bringen solang es schön glatt
ist. Ruhm, soviel es geben will, und Geld und Weiber und Champagner!
Photographien in den Zeitschriften, Lorbeerkränze! Denn siehe,
wenn ich heute den Ekel kriege, oder es braucht bloß eine kleine
Lungenentzündung zu sein, so bin ich morgen erledigt, und mit dem Ruhm
und Lorbeer und dem ganzen Betrieb hat es gepfiffen.«
»Nun, Sie können es abwarten.«
»Ach, wissen Sie, im Grund bin ich verdammt neugierig auf das
Altwerden. Es ist ein Schwindel mit der Jugend, ein richtiger Zeitungs-
und Lesebuchschwindel! Die schönste Zeit des Lebens! Hat sich was, alte
Leute machen mir immer einen viel zufriedenern Eindruck. Die Jugend ist
die schwerste Zeit im Leben. Zum Beispiel Selbstmorde kommen in höheren
Jahren fast gar nie vor.«
Ich begann zu spielen und er wandte sich zu dem Lied, faßte rasch die
Melodie und gab mir an einer Stelle, wo sie bedeutungsvoll von Moll in
Dur zurücklenkte, einen anerkennenden Stoß mit dem Ellbogen.
Abends fand ich zu Hause, wie ich gefürchtet hatte, ein Kuvert
von Herrn Imthor, das ein paar freundliche Worte und ein mehr als
anständiges Honorar enthielt. Ich sandte das Geld zurück und schrieb
dazu, ich sei wohlhabend genug, auch zöge ich es vor, in seinem Hause
als Freund verkehren zu dürfen. Als ich ihn wieder sah, lud er mich
ein, bald wieder zu kommen und sagte: »Ich dachte mir schon, daß es
so gehen werde. Gertrud meinte, ich dürfe Ihnen nichts schicken, aber
versuchen wollte ich's doch.«
Von da an war ich im Hause Imthor ein sehr häufiger Gast. Ich übernahm
bei vielen Hauskonzerten die erste Geige, ich brachte alle neue Musik,
eigene und fremde, dorthin, und die meisten meiner kleineren Arbeiten
wurden nun zuerst dort aufgeführt.
An einem Nachmittag im Frühling fand ich Gertrud allein mit einer
Freundin zu Hause. Es regnete und ich war auf der Vortreppe
ausgeglitten, nun wollte sie mich nicht wieder fortlassen. Wir sprachen
von Musik und es geschah fast ungewollt, daß ich zu erzählen anfing und
namentlich von der Graubündener Zeit sprach, in der ich meine ersten
Lieder komponiert hatte. Dann ward ich verlegen und wußte nicht, ob es
richtig gewesen sei, vor diesem Mädchen zu beichten. Da sagte Gertrud
beinah zaghaft: »Ich muß Ihnen etwas bekennen, was Sie mir nicht übel
nehmen dürfen. Ich habe zwei von Ihren Liedern für mich umgeschrieben
und gelernt.«
»Ja, singen Sie denn?« rief ich überrascht. Zugleich fiel mir
komischerweise das Erlebnis mit meiner allerersten Jugendliebe ein, wie
ich sie so schlecht hatte singen hören.
Gertrud lächelte vergnügt und nickte: »O ja, ich singe, wenn auch nur
für mich und ein paar Freunde. Ich will Ihnen die Lieder singen, wenn
Sie begleiten wollen.«
Wir gingen zum Flügel und sie gab mir die Noten, zierlich von ihrer
feinen Frauenhand umgeschrieben. Leise begann ich mit der Begleitung,
um sie recht gut zu hören. Und sie sang das Lied, und dann das
zweite, und ich saß und horchte und hörte meine Musik verwandelt
und verzaubert. Sie sang mit einer hohen, vogelleichten, köstlich
schwebenden Stimme, und es war das Schönste, was ich in meinem Leben
gehört habe. In mich aber drang die Stimme, wie der Südsturm in ein
beschneites Tal, und jeder Ton zog eine Hülle von meinem Herzen, und
während ich selig war und zu schweben meinte, mußte ich kämpfen und
mich hart machen, denn die Tränen standen mir in den Augen und wollten
mir die Noten verlöschen.
Wohl hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei, und war mir damit
weise vorgekommen, hatte getröstet aus neuen Augen in die Welt
geschaut und einen näheren und tieferen Anteil an allem Leben
gefühlt. Nun war es anders, nun war es nicht mehr Klarheit, Trost und
Heiterkeit, sondern Sturm und Flamme, nun warf mein Herz sich jauchzend
und zitternd weg, wollte nichts mehr vom Leben wissen und nur in seiner
Flamme verbrennen. Wenn jetzt mich einer gefragt hätte, was denn die
Liebe sei, da hätte ich es wohl zu wissen geglaubt und hätte es sagen
können, und es hätte dunkel und lodernd geklungen.
Indessen schwang sich hoch darüber Gertruds leichte, selige Stimme,
schien mir heiter zuzurufen und nur meine Freude zu wollen, und flog
doch in fernen Höhen mir davon, unerreichbar und fast fremd. Ach, ich
wußte nun, wie es stand. Sie mochte singen, sie mochte freundlich
sein, sie mochte es gut mit mir meinen, das alles war nicht, was ich
begehrte. Wenn sie nicht ganz und für immer mir zu eigen wurde, mir
allein, dann war mein Leben vergebens und alles Gute und Zarte und
Eigenste in mir hatte keinen Sinn.
Nun fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, erschrak und wandte
mich um, und sah in ihr Gesicht. Die hellen Augen waren ernst und nur
langsam, da ich sie anstarrte, fing sie an zart zu lächeln und zu
erröten.
Ich konnte nur Danke sagen. Sie wußte nicht, was mit mir war, sie
fühlte nur und verstand, daß ich ergriffen war, und fand schonend einen
Weg zur vorigen Heiterkeit und Freiheit des Plauderns zurück. Dann ging
ich bald.
Ich ging nicht nach Hause, und ich wußte nicht, ob es noch regnete. Ich
ging an meinem Stock durch die Straßen, doch war es kein Gehen und die
Straßen waren keine Straßen, ich fuhr auf Sturmwolken durch flatternde,
brausende Himmel, ich redete mit dem Sturm und war selbst der Sturm,
und ich hörte aus unendlicher Ferne herüber etwas Betörendes klingen,
das war eine helle, hohe, vogelleicht schwebende Frauenstimme, und sie
schien ganz rein von menschlichen Gedanken und Stürmen, und schien doch
im Kern alle wilde Süßigkeit der Leidenschaft zu haben.
Den Abend saß ich ohne Licht in meinem Zimmer. Als ich es nicht mehr
aushielt, es war schon spät, ging ich zu Muoth hinaus, fand aber seine
Fenster dunkel und kehrte wieder um. Lange lief ich in der Nacht umher
und fand mich endlich müde, aus Träumen erwachend, vor dem Imthor'schen
Garten. Da rauschten die alten Bäume feierlich um das verborgene Haus,
von dem kein Ton und Strahl herüber drang, und zwischen den Wolken
kamen und verschwanden hier und dort schwachglänzende Sterne.
Ich wartete einige Tage, ehe ich wieder zu Gertrud zu gehen wagte. In
dieser Zeit kam ein Schreiben von jenem Dichter, dessen Lieder ich
komponiert hatte. Seit zwei Jahren waren wir in einer losen Verbindung,
es kamen je und je merkwürdige Briefe von ihm, ich schickte ihm meine
Arbeiten und er mir seine Gedichte. Nun schrieb er:
»Werter Herr! Sie haben länger nichts von mir gehört. Ich war fleißig.
Seit ich Ihre Musik habe und verstehe, hat mir immer ein Text für Sie
vorgeschwebt, wollte aber nicht heraus. Jetzt ist er da, so gut wie
fertig, und es ist ein Operntext, und Sie müssen ihn komponieren. --
Sie können kein sehr glücklicher Mensch sein, das steht in Ihrer Musik.
Von mir will ich nicht reden; aber da ist ein Text für Sie. Da uns doch
sonst nichts Erfreuliches blüht, wollen wir den Leuten ein paar hübsche
Sachen vorspielen, bei denen den Dickhäutern für Augenblicke klar wird,
daß das Leben nicht bloß eine Oberfläche hat. Denn da wir doch mit
uns selber nichts Rechtes anzufangen wissen, plagt es uns, die unnütze
Kraft andere spüren zu lassen.
Ihr Hans H.«
Das fiel wie ein Funke in mein Pulver. Ich schrieb um den Text und war
so ungeduldig, daß ich den Brief wieder zerriß und telegraphierte. Nach
einer Woche kam das Manuskript, ein kleines glühendes Liebesspiel in
Versen, noch mit Lücken, aber für mich einstweilen genug. Ich las und
ging mit den Versen im Kopf umher, und sang sie und geigte sie bei Tag
und Nacht, und bald lief ich zu Gertrud.
»Sie müssen mir helfen,« rief ich. »Ich mache eine Oper. Da sind drei
Stücke, für Ihre Stimme gesetzt. Wollen Sie sie ansehen? Und mir dann
einmal singen?«
Sie freute sich, ließ sich erzählen, blätterte in den Noten und
versprach, sie bald zu lernen. Es kam eine glühende, übervolle Zeit;
trunken von Liebe und Musik ging ich einher, zu nichts andrem tauglich,
und Gertrud war die einzige, die mein Geheimnis wußte. Ich brachte ihr
Noten, die sie lernte und mir sang, ich fragte sie, spielte ihr alles
vor, und sie glühte mit mir, studierte und sang, riet und half, und
hatte an dem Geheimnis und an dem entstehenden Werk, das uns beiden
gehörte, ihre blühende Lust. Keine Andeutung, kein Vorschlag, den sie
nicht sofort verstand und aufnahm, schließlich begann sie selber, mit
ihrer feinen Schrift, mir beim Abschreiben und Umschreiben zu helfen.
Im Theater hatte ich Krankenurlaub genommen.
Es kam zwischen Gertrud und mir keine Verlegenheit auf, wir trieben
im selben Strom, arbeiteten am selben Werk, es war für sie wie für
mich ein Aufblühen reifgewordener Jugendkräfte, ein Glück und Zauber,
in dem meine Leidenschaft ungesehen mitbrannte. Sie unterschied nicht
zwischen meinem Werk und mir, sie liebte uns und war unser, und auch
für mich war Liebe und Arbeit, Musik und Leben nicht mehr zu trennen.
Manchmal sah ich das schöne Mädchen erstaunt und bewundernd an, und sie
erwiderte meinen Blick, und wenn ich kam oder ging, drückte sie mir die
Hand wärmer und stärker als ich ihre zu drücken wagte. Und wenn ich in
diesen lauen Frühlingstagen durch den Garten her kam und das alte Haus
betrat, wußte ich nicht, war es mein Werk oder meine Liebe, was mich
trieb und erhob.
Solche Zeiten dauern nicht lange. Es ging schon gegen das Ende und
meine Flamme flackerte wieder ungeteilt in blinden Liebeswünschen,
da saß ich an ihrem Flügel und sie sang den letzten Akt meiner Oper,
deren Sopranrolle fertig war. Sie sang so wunderbar, und ich dachte
dieser glühenden Tage, deren Glanz ich schon erblassen fühlte, während
Gertrud noch auf ihrer Höhe schwebte, und ich fühlte unabwendbar andere
und kühlere Tage kommen. Da lächelte sie mir zu und neigte sich zu mir
herab, der Noten wegen, und bemerkte die Trauer in meinem Blick, und
sah mich fragend an. Ich schwieg und stand auf und nahm ihr Gesicht
vorsichtig in beide Hände, küßte ihre Stirn und ihren Mund und setzte
mich wieder. Sie ließ alles still und fast feierlich geschehen, ohne
Befremdung und Unwillen, und da sie Tränen in meinen Augen sah, strich
sie mir mit ihrer leichten, lichten Hand beruhigend über Haar und Stirn
und Schulter.
Dann spielte ich weiter, und sie sang, und der Kuß und diese
merkwürdige Stunde blieb unbesprochen, doch unvergessen zwischen uns,
als unser letztes Geheimnis.
Denn das andre konnte nicht lange mehr zwischen uns bleiben; die Oper
brauchte nun andre Mitwisser und Helfer. Der erste mußte Muoth sein,
denn an ihn hatte ich bei der Hauptrolle gedacht, deren Ungestüm und
bittere Leidenschaft ganz seinem Gesang und ganz seinem Wesen verwandt
waren. Nur zögerte ich noch eine kleine Zeit. Noch war mein Werk ein
Bündnis zwischen mir und Gertrud, gehörte ihr und mir, schuf uns Sorge
und Lust, war ein Garten, von dem niemand wußte, oder ein Schiff, auf
dem wir beide allein das große Meer befuhren.
Sie fragte selbst danach, als sie fühlte und merkte, daß sie mir nimmer
weiter helfen konnte.
»Wer singt die große Rolle?« fragte sie.
»Heinrich Muoth.«
Sie schien erstaunt. »O,« sagte sie, »ist das Ernst? Ich hab ihn nicht
gern.«
»Er ist mein Freund, Fräulein Gertrud. Und die Rolle paßt für ihn.«
»Ja.«
Nun war schon ein Fremder dazwischen.


Indessen hatte ich nicht an Muoths Ferien und Reiselust gedacht. Er
freute sich über meinen Opernplan und versprach alle Hilfe, war aber
schon in Reiseplänen und konnte mir nur versprechen, bis zum Herbst
seine Rolle durchzunehmen. Ich schrieb sie ihm ab, soweit sie schon
fertig war. Er nahm sie mit und ließ nach seiner Gewohnheit in all den
Monaten nichts von sich hören.
So war eine Frist für uns gewonnen. Zwischen Gertrud und mir bestand
nun eine gute Kameradschaft. Ich glaube, sie wußte seit jener Stunde
am Klavier genau, was in mir vorging, doch sagte sie nie ein Wort und
war um nichts anders gegen mich. Sie liebte nicht nur meine Musik, sie
hatte mich selber gern und fühlte wie ich, daß zwischen uns beiden
ein natürlicher Einklang war, daß jeder von uns des andern Wesen
gefühlsmäßig verstand und billigte. So ging sie neben mir in Eintracht
und Freundschaft, doch ohne Leidenschaft. Zuzeiten genügte mir das und
ich lebte stille, dankbare Tage in ihrer Nähe. Doch immer kam bald die
Leidenschaft dazwischen, dann war mir jede ihrer Freundlichkeiten nur
ein Almosen und ich empfand mit Qualen, daß die Stürme des Liebhabens
und Begehrens, die mich erschütterten, ihr fremd und unlieb waren. Oft
täuschte ich mich gewaltsam und suchte mir vorzureden, sie sei eben
eine gleichmäßige und heiter stille Natur. Doch wußte mein Gefühl,
daß das falsch sei, und kannte Gertrud genug, um zu wissen, daß auch
ihr die Liebe Sturm und Gefahren bringen müsse. Oft habe ich darüber
nachgedacht, und ich glaube, wenn ich sie damals bestürmt und bekriegt
und mit allen Kräften an mich gezogen hätte, sie wäre mir gefolgt und
für immer mit mir gegangen. So aber mißtraute ich ihrer Heiterkeit,
und was sie mir von Zärtlichkeit und feiner Zuneigung zeigte, schob
ich auf das fatale Mitleid. Ich konnte den Gedanken nicht los werden,
daß sie mit einem andern, gesunden und äußerlich schönen Manne, wenn
sie ihn so gern hatte wie mich, nicht so lange in dieser ruhigen
Freundschaftlichkeit hätte verharren können. Da waren wieder die
Stunden nicht selten, in denen ich meine Musik und alles, was in mir
lebte, für ein gerades Bein und ein flottes Wesen hingegeben hätte.
Um jene Zeit kam Teiser mir wieder näher. Er war mir unentbehrlich
für die Arbeit, und so war er der nächste, der mein Geheimnis erfuhr
und Text und Plan meiner Oper kennen lernte. Bedächtig nahm er alles
an sich, um es zu Hause zu studieren. Dann aber kam er, und sein
blondbärtiges Kindergesicht war rot vor Vergnügen und Musikleidenschaft.
»Das wird was, Ihre Oper!« rief er erregt. »Die Ouvertüre dazu spür ich
schon in den Fingern! Jetzt gehn wir und trinken einen guten Schoppen,
Sie Manderl, und wenns nicht unbescheiden wär', würd' ich sagen, wir
trinken Brüderschaft. Aber es soll nicht aufgenötigt sein.«
Das nahm ich gerne an und es wurde ein froher Abend daraus. Teiser
nahm mich zum erstenmal in seine Wohnung mit. Er hatte vor kurzem eine
Schwester zu sich genommen, die nach dem Tod der Mutter alleingeblieben
war, und wußte nicht genug zu rühmen, wie wohlig ihm nach langen
Junggesellenjahren im neuen Haushalt sei. Die Schwester war ein
schlichtes, vergnügtes, harmloses Mädchen mit denselben hellen,
kindlichen, freudig guten Augen, wie ihr Bruder sie hatte, und hieß
Brigitte. Sie brachte uns Kuchen und hellgrünen Österreicher Wein, dazu
das Kästlein mit den langen Virginiazigarren. Da tranken wir das erste
Glas auf ihr Wohl und das zweite auf gute Brüderschaft, und während wir
Kuchen aßen, Wein tranken und rauchten, fuhr der gute Teiser in seiner
Herzensfreude hin und wieder durchs Zimmerlein, saß bald am Klavier,
bald mit der Guitarre im Arm auf dem Kanapee, bald mit der Geige auf
der Tischecke, spielte was ihm Schönes durch den Kopf ging, sang und
ließ seine frohen Augen glänzen, und alles mir und meiner Oper zu
Ehren. Es zeigte sich, daß die Schwester dasselbe Blut habe und nicht
minder auf Mozart schwöre; Arien aus der Zauberflöte und Stücke aus
dem Don Giovanni funkelten durch die kleine Wohnung, von Gespräch und
Gläserklirren unterbrochen, von der Geige, dem Klavier, der Guitarre
oder auch nur vom Pfeifen des Bruders tadellos rein und richtig
begleitet.
Für die kurze Sommerspielzeit war ich noch als Orchestergeiger
verpflichtet, hatte aber auf den Herbst um meine Entlassung gebeten, da
ich alsdann alle Zeit und Lust für meine Arbeit zu brauchen dachte.
Der Kapellmeister, den mein Gehen ärgerte, behandelte mich zu guter
Letzt mit ausgesuchter Grobheit, die mir aber Teiser brav parieren und
belachen half.
Mit diesem Treuen arbeitete ich die Instrumentierung meiner Opernmusik
aus, und so andächtig er meine Gedanken gelten ließ, so unerbittlich
legte er den Finger auf alle Verstöße in der Orchesterbehandlung.
Oft geriet er in hellen Zorn und kanzelte mich ab, wie ein derber
Dirigent, bis ich eine zweifelhafte Stelle, in die ich verliebt und
verbissen war, ausstrich und änderte. Und immer war er mit Beispielen
zur Hand, wenn ich zweifelte und ungewiß war. Wo ich etwas Mißlungenes
durchsetzen oder eine Kühnheit nicht wagen wollte, kam er mit
Partituren angelaufen und wies mir nach, wie das der Mozart oder der
Lortzing gemacht habe, und daß mein Zögern eine Feigheit oder mein
Beharren eine »Kuhdummheit« sei. Wir brüllten einander an, kriegten und
tobten, und wenn es in Teisers Wohnung geschah, so hörte die Brigitte
andächtig zu, kam und ging mit Wein und Zigarren und strich manches
zerknüllte Notenblatt mitleidig und sorgfältig wieder glatt. Der Liebe
zu ihrem Bruder kam ihre Bewunderung für mich gleich, ich war für sie
ein Maestro. An jedem Sonntag mußte ich zum Essen zu Teisers kommen,
und nach Tische ging es, wenn nur ein blauer Fleck am Himmel war, mit
der Straßenbahn hinaus. Da spazierten wir über die Hügel und durch
Wälder, plauderten und sangen, und die Geschwister ließen ungebeten
immer wieder ihre heimischen Jodler steigen.
Dabei kamen wir einmal zum Imbiß in ein Dorfwirtshaus, wo uns aus weit
offenen Fenstern eine ländliche Tanzmusik entgegenjubelte, und als wir
gegessen hatten und beim Apfelmost ausruhend im Garten saßen, schlich
die Brigitte bald zum Hause hinüber und hinein, und als wir es merkten
und nach ihr ausschauten, sahen wir sie am Fenster vorbei tanzen,
frisch und sprühend wie ein Sommermorgen. Als sie wiederkam, drohte ihr
Teiser mit dem Finger und meinte, sie hätte ihn wohl auch auffordern
dürfen. Da wurde sie rot und verlegen, winkte ihm abwehrend zu und sah
mich an.
»Was ist denn?« fragte ihr Bruder.
»Laß doch,« meinte sie nur, aber zufällig sah ich, wie sie ihn mit dem
Blick auf mich aufmerksam machte, und Teiser sagte, »Ach so«.
Ich sagte nichts, doch war es mir wunderlich, sie darüber verlegen zu
sehen, daß sie in meiner Gegenwart getanzt hatte. Es fiel mir erst
jetzt ein, daß wohl auch ihre Spaziergänge rascher und weiter und
anders gegangen wären ohne meine hemmende Gesellschaft, und ich schloß
mich von da an ihren Sonntagsausflügen nur selten mehr an.
Gertrud hatte, als wir mit dem Durchsingen der Sopranrolle soweit
fertig waren, wohl bemerkt, daß es mir schwer fiel, auf die häufigen
Besuche bei ihr und das vertrauliche Beisammensein am Klavier zu
verzichten, und daß ich mich doch scheute, Vorwände für dessen
Fortsetzung zu erfinden. Da überraschte sie mich mit dem Vorschlag, sie
regelmäßig beim Singen zu begleiten, und ich kam nun zwei-, dreimal in
der Woche am Nachmittag in ihr Haus. Der Alte sah ihre Freundschaft
mit mir gerne; ohnehin ließ er sie, die schon früh die Mutter verloren
hatte und dem Haus als Dame vorstand, in allem gewähren.
Der Garten stand in voller Frühsommerpracht, überall waren Blumen und
sangen Vögel um das stille Haus, und wenn ich von der Straße in den
Garten trat und an den dunklen, alten Steinbildern der Allee vorüber
mich dem grünumwachsenen Hause näherte, war es mir jedesmal wie der
Eintritt in ein Heiligtum, wohin Stimmen und Dinge der Welt nur leise
und gemildert dringen konnten. Da sangen vor den Fenstern im blühenden
Gebüsch die Bienen, Sonne und leichte Laubschatten fielen ins Zimmer,
und ich saß am Flügel und hörte Gertrud singen, horchte ihrer Stimme
nach, die sich leicht emporschwang und im mühelosen Schweben wiegte,
und wenn wir nach einem Lied einander ansahen und lächelten, so war es
einig und vertraulich, wie zwischen Geschwistern. Da meinte ich manches
Mal, jetzt brauche ich nur die Hand auszustrecken und mein Glück leise
zu fassen, um es für immer zu haben, und tat es doch nie, denn ich
wollte warten, bis auch sie einmal Verlangen und Sehnsucht zeige.
Gertrud aber schien in reiner Zufriedenheit zu atmen und nichts anders
zu wünschen, ja mir kam es oft vor, als bäte sie mich, dieses stille
Einvernehmen nicht zu erschüttern und unsern Frühling nicht zu stören.
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